Expertenzirkel Die Strategie Gerhard Schröders, politische Entscheidungen an Kommissionen zu delegieren, ist schon mehrfach fehlgeschlagen. Die Rürup-Kommission soll nun die Sozialversicherungssysteme reformieren
Er sprach das aus, was viele seiner Parlamentarierkollegen - unabhängig von der politischen Couleur - seit langem denken. "Ich habe die Schnauze voll davon, dass wir vor unseren Mitgliedern und Wählern täglich den Kopf hinhalten müssen für dieses Professoren-Geschwätz", erklärte Ludwig Stiegler, stellvertretender Vorsitzender der SPD-Bundestagsfraktion, Anfang Dezember letzten Jahres. Bei dem so gescholtenen Professor handelte es sich um Bert Rürup, Finanzwissenschaftler an der Technischen Universität Darmstadt, Mitglied im Sachverständigenrat und Vorsitzender des Sozialbeirats der Bundesregierung und darüber hinaus frisch gebackener Vorsitzender der von der Bundesregierung berufenen Kommission zur Reform der Sozialsysteme.
Rürup h
#252;rup hatte sich den Zorn des kantigen Politikers aus Niederbayern zugezogen, als er, ohne dass die erste Sitzung der Reformkommission auch nur terminiert gewesen wäre, mit der Forderung vorpreschte, das Renteneintrittsalter müsse mittelfristig angehoben werden. In der ihm eigenen derben Metaphorik forderte Stiegler, "dass Professoren wie Herr Rürup uns nicht länger mit ihrer Ejaculatio praecox beglücken".Die Rürup-KommissionDie "Kommission für die Nachhaltigkeit in der Finanzierung der Sozialen Sicherungssysteme", wie das Gremium unter Vorsitz von Bert Rürup offiziell heißt, ist mit 26 Mitgliedern, darunter Wissenschaftler, Manager, Politiker, Gewerkschaftsvertreter und Lobbyisten, verhältnismäßig groß. Der Expertenkreis will bis zum Herbst 2003 Vorschläge zur Reform der Sozialversicherungen (Gesetzliche Renten- und Krankenversicherung und Pflegeversicherung) vorlegen. Obwohl der Vorsitzende anmahnte, nicht jeden Vorschlag aus der Kommission sofort an die Presse weiterzugeben, sorgte der Freiburger Wirtschaftsprofessor Bernd Raffelhüschen gleich Anfang des Jahres mit radikalen Vorstellungen für Widerspruch: Eine Selbstbeteiligung der Versicherten von bis zu 900 Euro jährlich für ambulante Behandlung und Medikamente kann sich der Volkswirtschaftler gut vorstellen, Kassenleistungen für Zahnbehandlungen und Zahnersatz wären ab 2005 jährlich um zehn Prozent zu verringern und ab 2014 ganz zu streichen. Doch als Erster hatte sich immerhin Bert Rürup selbst geäußert, als er frühzeitig forderte, das Renteneintrittsalter zu erhöhen. Dieser Ansicht ist übrigens auch der Ökonom Axel Bösch-Supan aus Mannheim. Rürup hat als Berater von Riester die kapitalgedeckte Eigenvorsorge mit konzipiert. Man geht davon aus, dass seine Pläne für eine Modernisierung des Gesundheits- und Pflegesystems ebenfalls unter der Leitidee "Eigenvorsorge" firmieren werden. Auffällig an der Zusammensetzung ist, dass die Kommission hauptsächlich aus Vertretern von Verbänden besteht, es befinden sich keine Gesundheitsexperten oder Ärzte-, geschweige denn Patientenvertreter in dem Kreis. Dafür sitzen Vorstandsvorsitzende der Versicherung Axa, des Daimler-Crysler-Konzerns sowie der Chemieindustrie darin. Ein einziger Vertreter aus dem Sachverständigenrat des Gesundheitsministeriums befindet sich unter den Reformern: der Gesundheitsökonom Karl Lauterbach. Er beschäftigt sich seit langem mit Finanzierungsfragen und Effizienz im Gesundheitsbereich.Das wiederum erregte den Zorn des Kanzlers höchstpersönlich. Im ZDF rüffelte Gerhard Schröder nicht etwa den vorschnellen Rürup, sondern seinen Parteigenossen Ludwig Stiegler. Der habe die Reformkommission in einer Weise angegriffen, die "nicht erträglich" sei. Warum, so fragt man sich erstaunt, meint der Kanzler selbst seine schützende Hand über Rürup und seine Kommission halten zu müssen, und lässt das nicht den SPD-Generalsekretär erledigen? Die Antwort ist einfach: Weil er erkannt hat, dass Stieglers Attacke zwar gegen die Professoren gerichtet war, eigentlich aber dem Regierungschef selbst galt. Denn seit Gerhard Schröder 1998 sein Amt als Kanzler angetreten hat, wird die Republik mit Kommissionen beglückt. Begonnen hat alles mit dem so genannten Bündnis für Arbeit: Mit dem Bundeskanzler als Moderator sollten sich Arbeitgeber und Gewerkschaften am runden Tisch auf Maßnahmen für mehr Beschäftigung einigen. Doch die von Schröder zugesagte spürbare Senkung der Arbeitslosigkeit hat es bislang nicht gegeben und steht nicht zu erwarten, obwohl es eine weitere Kommission gegeben hat: die so genannte Hartz-Kommission. Ihr Vorsitzender, VW-Manager und Schröder-Intimus Peter Hartz, versprach - gerade rechtzeitig zur Bundestagswahl - eine Halbierung der Arbeitslosenzahlen binnen zwei Jahren. Nun, nach gewonnener Bundestagswahl, hört man wesentlich bescheidenere Töne. Mittlerweile setzt sich bei dem einen oder anderen die Erkenntnis durch, dass man fehlende Arbeitsplätze nicht herbeivermitteln kann. Der neue "Superminister" für Wirtschaft und Arbeit, Wolfgang Clement, prognostiziert für das laufende Jahr eine durchschnittliche Arbeitslosenzahl von unter vier Millionen und lässt keinen Zweifel daran, dass er das schon für einen Erfolg hält.Nicht unerwähnt bleiben soll die Zuwanderungskommission, vom Kanzler eingesetzt, um dem Einwanderungsland Bundesrepublik Deutschland ein angemessenes Einwanderungsrecht zu bescheren. Der Vorsitz wurde der CDU-Politikerin und Professorin Rita Süssmuth übertragen. Schröders Kalkül: CDU und CSU würden es schwer haben, ein Einwanderungsrecht mit ihrer Bundesrats-Mehrheit zu torpedieren, das von einer prominenten Politikerin aus den eigenen Reihen mit verantwortet würde. Weit gefehlt. Von Beginn an wurde Süssmuth vor allem aus dem eigenen Lager massiv kritisiert, die Republik harrt nach wie vor eines sachgerechten Einwanderungsrechts.Nach einem ähnlichen Muster wurde die "Wehrstrukturkommission" zur Reform der Bundeswehr gebildet. Mit Ex-Bundespräsident Richard von Weizsäcker wurde auch hier ein CDU-Politiker (Parteimitgliedschaft ruht) an die Spitze des 21-köpfigen Gremiums berufen. Auf den großen Reform-Wurf warten wir bis heute.Schröders Politik der Kommissionen ist kläglich gescheitert. Sie war und ist der untaugliche Versuch, Interessengegensätze in die Watte eines breiten Konsenses zu packen und so zu politischen Lösungen zu kommen. Dabei kommt in der Regel nicht einmal ein kleinster gemeinsamer Nenner, geschweige denn eine sachgerechte Lösung heraus.Die Lösung gesellschaftlicher Probleme an Kommissionen zu delegieren heißt, dass die Politiker sich aus der Politik verabschieden, sich also vor ihrem Verfassungsauftrag und ihrer Verantwortung drücken. Der SPD-Politiker Rudolf Dreßler brachte das vor zwei Jahren auf den Punkt: "Der Politiker ist kein Moderator, er ist Entscheider und Gestalter. Wäre es anders, könnten wir politische Wahlen, deren Ergebnisse demokratische Legitimation verleihen, als überflüssig abschaffen und durch Stellenausschreibungen ersetzen."Vor allem der Deutsche Bundestag ist bei Entscheidungen über zentrale politische Fragen nur noch Zaungast der Kommissions-Aktivitäten. Es war geradezu gespenstisch erleben zu müssen, dass das deutsche Parlament in den letzten Monaten vor allem daran gemessen wurde, ob die Vorschläge der Hartz-Kommission nun auch tatsächlich "eins zu eins" umgesetzt würden. Es schlug die Stunde der Schriftgelehrten, die den Hartzschen "Urtext" akribisch mit dem verglichen, was schließlich an Gesetzentwürfen vorgelegt wurde.Dass der Bundestag sich seine ureigenste Kompetenz der legislativen Gestaltung ziemlich geräusch- und widerstandslos zu Gunsten exklusiver Technokratenzirkel hat abkaufen lassen, hat vor allem die Ursache, dass Politik an den Problemen technokratisch ("pragmatisch") herumdoktert, dass gesellschaftliche Entwürfe und Perspektiven fehlen. Was ebenso fehlt, sind die profilierten Persönlichkeiten, die für Entwürfe und Perspektiven stehen. Wo etwa ist der sozialpolitische Experte in der Bundestagsfraktion der SPD oder der Grünen? Was hat die "Superministerin" für Gesundheit und Soziale Sicherung Ulla Schmidt anzubieten außer einem zermürbenden Abnutzungskrieg mit Interessengruppen und ihren Funktionären? Ach ja, da ist ja noch die Rürup-Kommission ...
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