Das Land Brandenburg hat sich offenbar in etwa 10.000 Fällen Land angeeignet, das Erben der nach 1945 im Osten Deutschlands stattgefundenen Bodenreform zusteht. Darauf lässt eine vor wenigen Tagen gefällte Entscheidung des Bundesgerichtshofes schließen. Der gab zwei Eigentümern Recht, die um ihre Grundstücke geklagt hatten. Möglicherweise kommen jetzt für Brandenburg sogar Entschädigungszahlungen an die rechtmäßigen Erben des Bodenreformlandes in Betracht.
Als man 1864 wegen Schleswig-Holstein auf den deutsch-dänischen Krieg zusteuerte, veranlassten die vorausgehenden enormen staatsrechtlichen Verwicklungen den englischen Premier Palmerstone zu einer denkwürdigen Bemerkung: "Nur drei Menschen auf der Welt haben diese Frage wi
en diese Frage wirklich verstanden. Der eine ist tot, der andere ist darüber verrückt geworden, und der dritte, der ich selbst bin, hat schon alles wieder vergessen."Ein Staat, dessen innere Regeln nur noch durchschaut, wer das Zweite Juristische Staatsexamen in der Tasche hat, kann seine Bürger nicht im Ernst als frei bezeichnen. Und wieder einmal ist es Brandenburg, das hier Exemplarisches zu bieten hat. Die Frage, ob sich das Land rechtswidrig rund 10.000 Bauernhöfe angeeignet hat, ist komplex und verworren. Eigentümerinteressen, Besatzerrecht, DDR-Auslegung, Nachwende-Kasuistik und europäisches Recht ergeben ein für den juristischen Laien kaum zu entwirrendes Geflecht.Es geht um riesige Flächen einstigen agrarischen Nutzlandes. Da sie als herrenlos galten, hat das Land zugegriffen. Warum? Weil es die Erben nicht wollten? Keineswegs. Der Bundesgerichtshof stuft das Verhalten der Landesregierung als "sittenwidrig" ein. Die Linke im Potsdamer Landtag hat daraufhin einen Untersuchungsausschuss beantragt, und Ministerpräsident Platzeck (SPD) bleibt nichts weiter übrig, als darüber "froh" zu sein.Der Konflikt wurzelt in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg und den Besonderheiten der DDR-Eigentumsformen. Noch 1945 wurde bekanntlich im Osten Deutschlands durch die sowjetische Besatzungsmacht eine Bodenreform dekretiert, bei der alle Ländereien über 100 Hektar enteignet, in kleine Parzellen geschnitten und aufgeteilt wurden - "Junkerland in Bauernhand", hieß das. Dadurch sollte der bis dato auf dem Lande "herrschenden Klasse" im wahrsten Sinne des Wortes der Boden unter den Füßen verloren gehen und Millionen Umsiedlern aus dem Osten wieder eine Lebensperspektive geben. Das Eigentum von Landarbeitern, Klein- und Mittelbauern blieb unberührt - die seinerzeit vielen einleuchtende Formel lautete: Den Boden soll besitzen, wer ihn auch bestellt.Kurz vor Vollzug der deutschen Einheit am 3. Oktober 1990 wurden diese Enteignungen wie auch der Eigentumsübertrag an landlose oder landarme Bauern in den 2 + 4-Verträgen ausdrücklich anerkannt.Dank der Bodenreform waren die Klein- und Neubauern im Osten Eigentümer ihrer bis zu 20 Hektar großen Flächen und mit ihrem Eigentumstitel in den Grundbüchern vermerkt. Als in den fünfziger Jahren unter mehr oder minder großem staatlichen Druck die Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften (LPG) entstanden, blieben zwar deren Einzelmitglieder formal weiterhin Eigentümer ihrer Ländereien, doch wurde das Prinzip - wer den Boden bearbeitet, dem soll er gehören - jetzt auch gegen sie ausgelegt. Das bedeutete, wer sein Land nicht mehr bearbeitete, dem sollte es nicht länger gehören. Eigentümer blieben der Bauer beziehungsweise dessen Nachkommen nur, sofern sie weiter in der LPG tätig waren.Das war der geringere Teil all derer, die mit der Bodenreform Land erhalten hatten. Als die DDR 1949 gegründet wurde, lebte deren Bevölkerung zu 70 Prozent auf dem Land - 1990, als sie sich auflöste, nur noch zu einem Drittel. Mit anderen Worten, viele bäuerliche Familien verließen den ländlichen Raum und verwirkten damit automatisch ihr Recht auf den einstmals in die LPG eingebrachten Boden. Die Räte der Kreise verzeichneten diese Eigentumseinbuße allerdings nicht immer - wie das hätte geschehen müssen - im Grundbuch. Dass ein Land Brandenburg Jahrzehnte später diese Nachlässigkeit ausnutzen würde, um sich selbst zu bereichern, ahnte zu diesem Zeitpunkt natürlich niemand.Nach der Wiedervereinigung brachen - auch juristisch gesehen - andere Zeiten an. Die Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften wurden überall aufgelöst, so dass deren bisherige Mitglieder im Prinzip wieder über das einst eingebrachte eigene Land verfügen konnten. Diese Grundstücke erhielten damit etwas, was sie vorher kaum besaßen: einen Wert nämlich. Wenn es sich um Bauland handelte, sogar einen beträchtlichen Wert. Erben von Grund und Boden aber, die sich möglicherweise jahrzehntelang nicht sehen ließen, sind auch dann nicht immer sofort zur Stelle, wenn sich die Verhältnisse in der geschilderten Weise ändern.In einer Voraussicht, die man wirklich weise nennen muss, hatte daher Hans Modrow im Bewusstsein des nahen Endes der DDR die Zeit als Ministerpräsident zwischen November 1989 und April 1990 genutzt, um die Erben des Reformlandes zu stärken. Ein in seiner Regierungszeit von der Volkskammer beschlossenes Gesetz legte fest, dass die Grundstücke demjenigen gehören sollen, der im Grundbuch stand (beziehungsweise dessen Erben). Zum einen wurde damit versucht, von der Bodenreform zu retten, was noch zu retten war, zum anderen kam die bürgerliche Eigentumsauffassung wieder zu Ehren. Ausdrücklich trat Modrow damit der bis dato üblichen DDR-Praxis entgegen, Menschen zu enteignen, wenn sie keine Bauern mehr waren.Mit den spitzfindigen Beamten im Finanz- und Innenministerium des 1990 entstandenen Landes Brandenburg hatte er diese Rechnung freilich nicht gemacht. Die gönnten den Erben ihr Erbe nicht. Wenn man es schon den alten Junkerfamilien nicht wiedergegeben konnte, konnte man es doch den Bodenreform-Erben zumindest wegnehmen und "verstaatlichen".Ausgenutzt wurde dabei, dass Ausführungsbestimmungen für das bewusste Modrow-Schutzgesetz nicht mehr erlassen werden konnten, ausgenutzt wurde gleichfalls, dass sich auf europäischer Rechtsebene die fragwürdige DDR-Rechtsauffassung bestätigt fand, wonach nur jenen Eigentümern das umstrittene Land gehören sollte, die zum Stichtag 3. Oktober 1990 in der ostdeutschen Landwirtschaft tätig waren. Was letztlich unglaublich ist. Wer käme auf den Gedanken, einem Italiener oder Griechen sein Grundstück mit der Begründung wegzunehmen, er habe darauf im Oktober 1990 weder Tomaten gezüchtet noch Ziegen geweidet.Es wurde eine Frist von zehn Jahren eingeräumt, in der sich das Land Brandenburg als Vertreter und schließlich Eigentümer festlegen konnte. Davon wurde exzessiv Gebrauch gemacht - der Drang war groß, mit dem Eintrag ins Grundbuch vollendete Tatsachen zu schaffen. Das Land prüfte weder den Einzelfall, noch bequemte es sich, Erben zu suchen, geschweige denn zu unterrichten.Inzwischen steht außer Frage, dass in Potsdamer Regierungskreisen das Problematische dieses Vorgehens durchaus bekannt war, weil allein die Kommunen immer wieder Bedenken gegen diesen Eigentums-Transfer signalisierten und sich das auch beurkunden ließen.Aufgeflogen ist diese Praxis letztlich vor dem Bundesgerichtshof, vor dem zwei betroffene Erben auf Herausgabe ihres Eigentums klagten und Recht bekamen. Die dortigen Richter sprachen nicht nur von "sittenwidrigem" Verhalten, sie wiesen auch die Argumentation des Landes - die Erben hätten sich all die Jahre nicht gemeldet - als "bemerkenswert irrelevant" zurück.Das Merkwürdige ist freilich, dass Brandenburg mit hoher Wahrscheinlichkeit in den allermeisten Fällen das Land inhaltlich zu Recht an sich brachte, denn die Erben waren ja tatsächlich in aller Regel am so genannten Stichtag nicht mehr Landwirte. Inhaltlich zu Recht heißt aber nicht formal. Entscheidend für den tatsächlichen Ausgang der Affäre bleibt der Vorwurf des BGH an das übereifrige Land, die Erben nicht aufgespürt und mit ihnen juristisch gestritten zu haben.Bei alldem ist weiter bemerkenswert, welche Formationen sich an der Frontlinie gegenüberstanden: Während brandenburgische Ministerien sowie der Europäische Gerichtshof an der DDR-Enteignungspraxis festhielten, hat der Bundesgerichtshof im Sinne der sowjetisch inspirierten Bodenreform, der Erben und der Modrow-Gesetze gehandelt.Die grüne Bundestagsabgeordnete Cornelia Behm fordert nun vom Land, die sittenwidrig erworbenen Grundstücke an die Erben der Neubauern zurückzugeben. Der SPD-Landtagsabgeordnete Ralf Holzschuher hält dagegen, dies würde erneutes Unrecht heraufbeschwören und zwar gegenüber denen, die zu DDR-Zeiten aus dem Grundbuch getilgt und die damit heute so oder so ihren Anspruch verloren hätten.Inzwischen zeigt das Land Reue und hat eine Info-Hotline geschaltet, an die sich Menschen wenden können, die in dieser Sache Fragen haben. Finanzminister Rainer Speer sagte zu, alle noch offenen Anträge bei Grundbuchämtern zurückzuziehen, in denen das Land als Vertreter unbekannter Erben aufgetreten ist. Was jetzt an Entschädigungszahlungen auf das Land zukommt, welche Verluste entstehen, weil es verschiedene Pachteinnahmen auf den "verstaatlichten" Grundstücken gibt, ist noch völlig offen. Die Staatsanwaltschaft denkt darüber nach, Untreue- oder gar Betrugsermittlungen einzuleiten.
×
Artikel verschenken
Mit einem Digital-Abo des Freitag können Sie pro Monat fünf Artikel verschenken.
Die Texte sind für die Beschenkten kostenlos.
Mehr Infos erhalten Sie
hier.
Aktuell sind Sie nicht eingeloggt.
Wenn Sie diesen Artikel verschenken wollen, müssen Sie sich entweder einloggen oder ein Digital-Abo abschließen.