Post-Privacy Datenschutz interessiert die wenigsten, obwohl alle ahnen, dass hier Gefahr für unsere Gesellschaft lauert. Was tun? Ein radikaler Vorschlag
Hallo? Ja, Sie da. Müller mein Name. Tadzio Müller. Klar, wir kennen uns nicht persönlich, aber vielleicht kennen Sie ja meinen HIV-Status, meine sexuellen Vorlieben und Drogenkonsumgewohnheiten oder meine Positionen zu Klimagerechtigkeit. Wieso Sie diese kennen sollten, fragen Sie? Nun ja, wenn Sie Leser*in des Freitag sind, sich gelegentlich auf Twitter aufhalten oder in den vergangenen Jahren an linksgrünversifften Diskussionen teilgenommen haben, könnten Sie über meine „Post-Privacy“-Strategie gestolpert sein, die ich so zusammenfassen würde: allen alles sagen.
Das hat zwei Vorteile: erstens gibt es nichts, das rechte Trolle (oder Sicherheitsdienste oder Vorgesetzte bei meinem letzten Job oder wer auch immer) ausgraben könnten, um mich
n, um mich zu kontrollieren und zu beschädigen – denn wer wäre heute von einem Video überrascht, in dem ich mir intravenös Crystal Meth verabreiche, um dann auf der Berliner Kurfürstenstraße in Strapsen und High Heels anschaffen zu gehen? Niemand. Man weiß, dass ich „pervers“ bin, einen an der Waffel habe und nicht unerhebliche Narrenfreiheit besitze.Zweitens bedeutet die Tatsache, dass ich in gleich mehrerlei Hinsicht geoutet bin – als HIV-positiv und schwul, als drogenaffin und sexuell „kinky“ – dass es mir leichter fällt als vielen anderen chemsexaffinen, HIV-positiven Partyschwulen, zu dieser Lebensrealität zu stehen, mich nicht dafür zu „schämen“, sondern diese gesellschaftliche Anrufung, mich dafür zu schämen, so pervers und hoffnungslos „weird“ zu leben, einfach umzudrehen und gegen den gesellschaftlichen Normalwahnsinn zu wenden. In den nur leicht abgewandelten Worten von Rosa von Praunheim, einer der wahrhaft großen Schwuchteln der alten BRD, gesprochen: Nicht der Perverse ist pervers, sondern die Gesellschaft, in der er lebt.Über die Anti-Scham-Elemente meiner diskursiven Strategie habe ich andernorts gesprochen, hier geht es zunächst einmal um Punkt eins der Strategie: allen alles sagen. Damit man unangreifbar wird.Mal ganz direkt gefragtWie gut sind Sie aufgestellt, wenn es um all die Privatsphäre und Datensicherheit im Internet geht?– Kennen und verstehen Sie PGP (haha: pretty good privacy) dergestalt, dass wir jetzt sofort in verschlüsselten E-Mail-Kontakt treten könnten?– Kennen und benutzen Sie den Tor-Browser oder nutzen Sie zumindest die Option „privates Surfen“ bei Firefox?– Haben Sie all Ihre SMS-/Chat-Kommunikation von Whatsapp auf Signal verlagert?Es ist ja so: End-to-end-verschlüsselte E-Mail-Kommunikation; Nutzung eines sicheren Webbrowsers; Nutzung der einzigen weit verbreiteten Chat-App, bei der wir davon ausgehen können, dass sie weder von großen digitalen Unternehmen noch von großen Sicherheitsdiensten mitgelesen werden kann – das alles konstituiert, glaube ich, ein Mindestniveau dessen, was notwendig wäre, um wirklich eine Datenschutzstrategie in der eigenen Kommunikation fahren zu können. Also noch mal gefragt: Wie gut sind Sie da aufgestellt?Ich würde mal denken, dass Sie, wie die meisten progressiv, kapital- und herrschaftskritisch denkenden und agierenden Menschen, zwar um die datensicherheitspolitische Notwendigkeit dieser Schritte wissen, sie aber aus einer Mischung aus Bequemlichkeit und technischer Inkompetenz längst nicht alle gegangen sind, vielleicht auch nicht gehen können. Ich zum Beispiel kommuniziere schon lange meist per Signal, aber die meisten Berliner Schwulen sind immer noch auf Whatsapp, also kommuniziere ich auch dort.Gleichzeitig wissen immer mehr Menschen, dass es im digitalen Kapitalismus „um die Daten geht“. Wissen, dass Facebook, Google und Co., dass die chinesische, die russische, die US-amerikanische Regierung alles daran setzen, unsere individuellen wie kollektiven Bewegungsdaten abzugreifen, weil sich so kontrollieren und Geld verdienen lässt. Wer Dave Eggers’ The Circle noch nicht gelesen hat, sollte dies schnell tun. Der Roman verhält sich zur digitalen Spätpostmoderne ungefähr so, wie Orwells 1984 oder Huxleys Schöne neue Welt sich zu ihrer Zeit verhielten.Das bedeutet: Wir wissen mehr oder minder, dass es um unsere Daten geht; wir wissen auch mehr oder minder, was wir tun müssten, um den Zugriff auf unsere Daten und ihre Produktion zu verunmöglichen. Wir scheinen aber kollektiv nicht in der Lage zu sein, diese Dinge zu tun. Datenschutz scheint für viele, vor allem auch für junge Digital Natives, kein wichtiges politisches Anliegen zu sein, und für viele andere scheint er schlicht zu kompliziert, zu nervig, zu retro. Und das wiederum bedeutet, dass „Datenschutz“ als politische Strategie gescheitert ist. Trotz immer einfacherer Möglichkeiten, die eigenen Daten zu schützen, werden diese nicht mehrheitlich angenommen, ist der Wunsch nach Privatsphäre offensichtlich nicht stark genug, um eine Strategie zu begründen.Aber wie sagte Christian Lindner doch einmal? Probleme sind auch nur dornige Chancen. Ganz unrecht hat er nicht. Man sollte scheinbare Schwächen gar nicht erst als Schwächen sehen, sondern als mögliche Stärken: HIV-positiv? Lass dich nicht als unmoralische Schwuchtel „framen“, sondern erzähl die Geschichte selbst, frame (Imperativ, 2. Person Singular) die anderen als historisch-gesellschaftlich Zurückgebliebene, eine HIV-Infektion als Quelle von Stärke, und dich selbst als Akteur, nicht als Opfer. Drogenaffin? Klar, denn in einer Welt wie der unseren muss sich doch nicht der Drogenkonsument erklären, sondern der, der diesen Wahnsinn nüchtern durchstehen will.Kannst du keine Daten verstecken, weil du zu faul bist oder zu dämlich? Dann tu so, als sei dies eine bewusste Strategie, nicht bloß Faulheit oder auch Narzissmus.Und ich glaube tatsächlich, dass ich das Richtige tue, in einem Umfeld, in dem kaum einer wirklich an Datenschutz interessiert ist. Interessiert sind sie an Daten, die ihnen egal sind, und Daten, die sie beschützen wollen. Aber diese Linie lässt sich erst dann ziehen, wenn wir die im Grunde auch noch schambasierte Datenschutzstrategie für gescheitert erklären und Post-Privacy diskutieren und leben.Placeholder authorbio-1
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