Ehe der Literatur- und Theaterwissenschaftler Werner Mittenzwei sich eine größere Arbeit vornimmt - ob Biographie oder Essay, ob Abhandlung oder Theorie -, denkt er nach über die Gesetze des jeweiligen Genres. Auf der Suche nach dem Sinn einer vergangenen Zeit im Zwielicht entschied sich der Autor für ein populäres: die Autobiographie. Allerdings kam das Genre in letzter Zeit ziemlich herunter. Mittlerweile stapeln sich in den Buchhandlungen Autobiographien von Supermodels und Fußballern - Starvehikel für Idioten. Schlägt man das Buch von Werner Mittenzwei auf, nennt er sein Genre "eine kulturkritische Autobiographie". Das Selbstportrait - im Zeitgeist zwischen Plauderei, Werbung und Rechtfertigung angesiedelt - kommt beim Theaterwissenschaftler Mitt
ittenzwei als streng gebauter Fünfakter daher.Erster Akt. Die durch den Krieg erschütterte Zentralgestalt kehrt in die Trümmer des besiegten Deutschlands zurück. Sie erlebt das Paradox, dass "die antifaschistische Schule nicht von bewährten Antifaschisten auf den Weg gebracht wurde, sondern von verführten jungen Leuten, die zu Antifaschisten wurden." Der Neulehrer Werner Mittenzwei sucht sich selbst einen Lehrer und findet ihn in Hans Mayer, zu dessen Vorlesungen er regelmäßig nach Leipzig fährt. Von daher stammt sein lebenslanger Blick auf die Gipfel der Literaturgeschichte - von Bertolt Brecht bis Anna Seghers, von Heiner Müller bis Peter Hacks.Zweiter Akt. Der noch jugendliche Held zieht nach Berlin, fasziniert von Brechts Ensemble, von Musikwissenschaftlern wie Georg Knepler, von Publizisten wie Wolfgang Harich. Die hoffungsvoll zurückkehrenden Exilautoren werden für Mittenzwei zum ästhetischen Maßstab; ihr politisches Scheitern wird für ihn zur Tragödie des eingreifenden Denkens im 20. Jahrhundert; die Beschäftigung mit ihnen durchzieht sein Werk - von seinem ersten, 1962 im Aufbau-Verlag erschienenen Buch Bertolt Brecht. Von der Maßnahme zu Leben des Galilei bis zu Im Zwielicht, wo er ausführlich von seinen Begegnungen mit Remigranten berichtet.Dritter Akt. Für die DDR-Intellektuellen seiner Generation - Mittenzwei ist Jahrgang 1927 - wird das Jahr 1956 ein entscheidender Knotenpunkt. Die Kunde von Stalins Massenmorden dringt langsam und unerträglich in die Reihen der Genossen. Wie konnte man geistig weiter arbeiten, nachdem man sich wieder an die Seite von Schlächtern begeben hatte? Diese Frage treibt ihn um; deshalb auch wirkt die Verhaftung und Verurteilung von Wolfgang Harich, Walter Janka und anderen traumatisch. Harich steht am Anfang einer Reihe von DDR-Ketzern, die bis zum Untergang reicht: In den sechziger und siebziger Jahren spielte Robert Havemann die Hauptrolle, Ende der siebziger ließ Rudolf Bahros Alternative aufhorchen, und den Schlussakkord setzte Rolf Henrich mit seinem Vormundschaftlichen Staat. Häretisch waren diese Intellektuellen auch deshalb, weil ihre Kritik - im Gegensatz zu prägnanten osteuropäischen Dissidenten wie Vaclav Havel - im marxistischen Bezugssystem blieb. Ein ostdeutscher Havel wäre in den Westen gegangen; die wichtigsten DDR-Intellektuellen versuchten Grenzerweiterungen, waren verbunden mit einem kritischen Marxismus. So auch der sich etablierende Werner Mittenzwei bei seinem Marsch durch die Institutionen. Er pendelt zwischen den beiden Akademien, der der Wissenschaften und der der Künste, und dem Berliner Ensemble. Er engagiert sich für Aufführungen der für ihn bedeutendsten Dramatiker - für Volker Braun, für den er am meisten machen kann; für Heiner Müller, dessen Stücke er nur zwischen die Seiten von Sinn und Form, aber nicht auf die Bühne brachte; für Peter Hacks, der an seinen überspannten Forderungen ans BE scheitert, womöglich scheitern will.Vierter Akt. Mittenzwei erlebt den Untergang des Sozialismus, der sein Versprechen nicht erfüllte, ein neues, besseres Zusammenleben der Menschen durch eine andere Antwort auf die Eigentumsfrage zu gewährleisten. Die Neuvereinigung drängt viele von Mittenzweis Kollegen aus dem Berufsleben; er, kurz vor der Rente, steht vor der Aufgabe, sich neu zu orientieren.Fünfter Akt. Geschlagen erlebt er die Borniertheit der Sieger der Geschichte, also die der Besiegten von morgen, und beschließt gegen deren lautes Getön seine leise Stimme zu erheben. Mit Die Intellektuellen. Literatur und Politik in Ostdeutschland 1945 - 2000 (Freitag 14/2002) schreibt er ein Buch, das Kontroversen hervorruft. Er selber mehr ein beobachtender Analytiker im Hintergrund hat als Vorbild den auf der großen Bühne agierenden eingreifenden Intellektuellen - von Jean-Paul Sartre bis Peter Weiß. Mit diesem Typus verbindet ihn, aber auch viele andere DDR-Intellektuelle, die Frage von Pierre Bourdieu "Wie dient man einer Sache, ohne in Dienst genommen zu werden?"Der Zwiespalt zwischen der Autonomie des Schreibens und der Gebundenheit durch das Gesellschaftsprojekt des Sozialismus bleibt das Thema seines Lebens. Kompromisse gehören dazu; so schreibt er Artikel über Autoren wie Heiner Müller unter seinem Niveau, aber um diese Autoren wieder ins Gespräch zu bringen. Es ist für ihn ein langer schmerzlicher Prozess, sich frontal den tragischen Widersprüchen der Exilierten zu stellen, die geeint waren durch die Flucht vor Hitler, aber getrennt durch die Verbrechen Stalins. Von seinem Buch über den Grafiker Clément Moreau lässt Werner Mittenzwei heute noch den Bildteil gelten, nicht aber den Text, wo er sich den Widersprüchen und der Verzweiflung der Emigranten noch nicht voll stellt. In der 1985 erschienenen Brechtbiographie ging er bei der Beschreibung und Beurteilung des 17. Juni 1953 so weit wie kein anderer DDR-Wissenschaftler; sein im Sommer 1987 in Sinn und Form erschienenes Portrait von Helmut Damerius enthält Passagen, die zu den wenigen in der DDR erschienenen gültigen Texten über das sowjetische Lagersystem gehören; in seinen letzten Büchern stellt er sich den Abgründen eines extremen Zeitalters.Widerspruchsvoll erzählt Mittenzwei in Zwielicht vom Leben im untergegangenen Sozialismus und enthüllt sich als vom Ehrgeiz des Schreibens besessener Wissenschaftler, der Auslandsreisen nach Kairo, Damaskus, Neu-Delhi, Hanoi, Pjöngjang, Peking, Tokio und anderswo absagte, um mehr Zeit fürs Bücherschreiben zu haben, der frei und ohne Reue bekennt, die Toskana nie gesehen zu haben und der drei Bücher über die Schweiz schrieb, in der er nur wenige Tage arbeitete. Ein Schiller der Wissenschaft, der sich die Welt durch polare geistige Positionen erschließt. Die intellektuelle Landschaft der Epoche wird besichtigt - die äußere Landschaft dagegen erscheint nur als knappe Bühnenanweisung. So entstand ein Werk, grundiert durch die marxistischen Antipoden Brecht und Lukacs, das den weiten Kreis des Exils umfasst, nationalkonservative Dichter wie die der DDR. Zu beobachten, wie Mittenzwei sich in seiner Autobiographie, die auch eine Einführung in seine Bücher ist, in höchst unterschiedliche Positionen hineindenkt, diese in ihrem geistig-dramatischen Kern erfasst, ist oft verblüffend und anregend selbst dann, wenn man seine Meinung nicht teilen kann.Ein Einwand bleibt: es wäre besser gewesen, wenn der Brechtherausgeber und -biograph, der gern ein dickes Buch von sich im Laden sieht, Brechts Wunsch nach Werken, die weniger Sitzfleisch benötigen, diesmal erfüllt hätte. Hundert Seiten weniger wären mehr gewesen. Dennoch nimmt Zwielicht durch einen Grundton der Ehrlichkeit emotional gefangen und glänzt intellektuell durch sein Denken in Widersprüchen. Es entfaltet ein Denktheater eines extremen Jahrhunderts, in dem Literatur und Kunst oftmals eine Rolle spielten jenseits des Ornaments. In dieser existenziellen Dimension der Kunst liegt der Stachel gegen eine Gegenwart, in der die Werbung zur Leitkultur geworden ist. Was bleibt, ist die Frage, ob Mittenzweis Typus des eingreifenden literarischen Intellektuellen noch einmal die medial vernetzte Weltbühne betritt.Werner Mittenzwei: Im Zwielicht - Auf der Suche nach dem Sinn einer vergangenen Zeit - Eine kulturkritische Autobiographie. Faber, Leipzig 2004, 511 S., 29,70 EUR
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