Es war kein Geringerer als Verteidigungsminister Sergej Iwanow, der so nachdrücklich von der "Aufrechterhaltung unserer Möglichkeiten zur nuklearen Abschreckung" sprach, um "eine Aggression gegen das eigene Staatsterritorium" zu verhindern. Das sollte nie aus dem Auge verloren werden, wenn über die Stoßrichtung militärischer Reformen in Russland nachgedacht werde. Iwanow hielt ein Referat über den "Charakter künftiger Kriege" an der renommierten Militärwissenschaftlichen Akademie in Moskau, als die zitierten Formulierungen auftauchten. Er folgte damit dem strategischen Credo seines Generalstabs: Solange die USA und die NATO Kräfte und Mittel unterhielten, die es ermöglichten, einen Nuklearkrieg zu führen, werde Russland nach entspreche
chender Parität streben. Ein erstaunliches Axiom ausgerechnet zu einer Zeit, da Präsident Putin unablässig auf Umstrukturierungen der Armee im Interesse des internationalen Anti-Terror-Kampfes drängt, um mehr Kompatibilität mit der NATO herzustellen, den Erwartungen des amerikanischen Partners gerecht zu werden und sich abzeichnenden Herausforderungen im Osten und Südosten Russlands - von Georgien bis Turkmenistan - gewachsen zu sein. Dass inzwischen offenbar der Generalstab mehr als der Kreml über die Konturen dessen entscheidet, was gemeinhin als "Militärreform" firmiert, zeigte sich schon Ende Juli, als hochrangige Generalstäbler wiederholt erklärten, Russland müsse auch künftig mehr als eine Million Mann unter Waffen halten sowie sein atomares Raketenpotenzial ausbauen. Für Experimente sei nicht die Zeit - Russlands Militär gehöre modernisiert, nicht reformiert. Die von Wladimir Putin gewünschte Reduzierung der Streitkräfte auf höchstens noch 850.000 Mann bis 2005 dürfte damit obsolet sein. Auch seine Absicht, entsprechend dem amerikanisch-russischen START-2-Vertrag die Struktur der nuklearen Triade - das Verhältnis von land-, see- und luftgestützten Atomwaffen - zugunsten ihrer maritimen Komponente zu verändern, scheint in Frage gestellt.Ganz im Geiste der traditionellen russischen Militärstrategie spricht statt dessen der für Beschaffung zuständige Vize-Verteidigungsminister Alexej Moskowski davon, dass die Ausrüstung der Landstreitkräfte mit modernsten Waffen höchste Priorität genieße. Die vom Präsidenten wegen des START-2-Vertrages lange Zeit aufgeschobene Ausrüstung landgestützter Interkontinentalraketen des Typs Topol-M mit Mehrfach-Sprengköpfen habe inzwischen begonnen - es sei höchste Zeit.Ohne direkten FeindkontaktDer Dissens zwischen dem Kreml und der Armeeführung über Russlands künftiges Militärpotenzial, bei dem das Verteidigungsministerium die Interessen auszubalancieren sucht, reflektiert eine spätestens seit Mai - dem offiziellen Ende des US-Feldzuges im Irak - sehr offen geführte, äußerst dynamische Debatte über die "Kriege der Zukunft". Sie könnte mit der Dachzeile versehen werden, was bedeuten die schnellen militärischen Siege der USA in den Golf-Kriegen von 1991 und 2003 für Russland? Neben Generälen stellen besonders Militärtheoretiker diese Frage. Generalmajor Wladimir I. Sliptschenko, Vizepräsident der Moskauer Akademie für Militärwissenschaften (AWN) definiert in seinem Buch Kriege ohne Feindkontakt die "nächste Kriegsgeneration" folgendermaßen: Das Gefecht der Zukunft richte sich nicht länger gegen das Humanpotenzial des Gegners. Von Bedeutung seien nicht in massiven Formationen dislozierte Landstreitkräfte und schlagkräftige Nuklearwaffen, sondern hochpräzise, vorrangig weltraumgestützte, konventionelle Offensiv- und Defensiv-Waffen sowie Kräfte und Mittel des funkelektronischen Kampfes (FEK). Die Kriege des 21. Jahrhunderts seien mehr denn je "intelligente Krieg", sie zielten darauf, ohne direkten Feindkontakt das Wirtschaftspotenzial des Gegners zu zerschlagen und einen politischen Enthauptungsschlag zu führen, sprich: einen Regimewechsel zu bewirken.Die stark an der 1998 vom Vereinigten Oberkommando der US-Streitkräfte entwickelten Joint Perspective 2010 orientierten Visionen Sliptschenkos lösten unter Russlands Militärelite reservierte Reaktionen aus. "Millionenstarke Armeen und ungelöste territoriale, ethnische und religiöse Konflikte legen den Schluss nahe, dass auch im 21. Jahrhundert Landstreitkräfte aktiv auf kontinentalen Kriegsschauplätzen handeln werden", kontert Anatoli Suprjaga, ein Kapitän zur See, in Russlands führender Militärzeitschrift Wojennaja Mysl. Auch dass Nuklearwaffen künftig keine zentrale Rolle mehr spielen sollen, will vielen Sicherheitsexperten und Militärs nicht einleuchten: "Ist es nicht möglich, Nuklearwaffen mit Hochpräzisionswaffen zu kombinieren und so die Wirkung beider um ein Vielfaches zu steigern?" fragt Wassily Schicharski in der Unabhängigen Militärrundschau. "Und überhaupt: Warum sollte eine Konfliktpartei einseitig darauf verzichten, Atomwaffen einzusetzen, wenn sie dazu die Möglichkeit hat und die Lage ausweglos ist?"Der Hauptvorwurf gegen Sliptschenko lautet, er verabsolutiere die waffentechnische Seite von Strategieplanung, das mache ihn blind für den hohen Rang des menschlichen Faktors, gerade mit Blick auf die Kriege von morgen, von denen er ständig rede. Sliptschenko folge einer Vergötzung des militärischen Faktors, wie das für Donald Rumsfeld und Paul Wolfowitz typisch sei. Deren doktrinäre Anschauungen lägen "Amerikas Kampagne gegen den internationalen Terrorismus" zugrunde, deren Erfolge eher zweifelhaft seien."Der dritte Weltkrieg - ein Weltkrieg geringer Intensität - hat bereits begonnen", resümiert Anatoli Suprjaga, der bereits zitierte Kapitän zur See. "Wahrscheinlich wird er sehr lange dauern. Neben Anti-Terror-Operationen, die fließend in Anti-Terror-Kampagnen übergehen, wird er die Zerstörung von Produktionsstätten für ABC-Waffen und deren Trägermittel, den Sturz unsympathischer Regimes, den freien Zugang zu Energieträgern und demokratische Umgestaltungen zum Ziel haben."Die diesem Krieg zugrunde liegende Absicht der USA, zur alles dominierenden Macht des neuen Jahrhunderts zu werden, sei allerdings zum Scheitern verurteilt. Suprjaga: "Es liegt auf der Hand, dass der Kampf gegen den internationalen Terrorismus nicht durch massierte Luftschläge und Aktionen robuster, weltweit operierender Spezialeinheiten gewonnen werden kann, sondern nur durch eine vernünftige Politik, deren Kern nicht hegemoniale Ambitionen, sondern vorteilhafte Kooperation und das Primat allgemeinmenschlicher Werte bilden."Realisten und Patrioten Analog der Frontbildung zwischen Armee und Kreml sortiert sich das russische Unterhaus. In der Duma sind Forderungen nicht zu überhören, den im Mai 2002 unterzeichneten und bereits ratifizierten russisch-amerikanischen Vertrag über die Reduzierung der Strategischen Offensivpotentiale (SNP-Abkommen) neu zu verhandeln. Während die geopolitischen, Kreml nahen "Realisten" den Vertrag verteidigen, weil er Moskau helfe, auch künftig in der Weltpolitik die exklusive Rolle einer Atommacht spielen zu können, klagt die Fraktion der geopolitischen, der Armee zuneigenden "Patrioten", das Abkommen diene allein den Interessen der USA. Es erlaube der US-Regierung, bis zum 31. Dezember 2012 über rund 6.000 aktive Sprengköpfe zu verfügen, während Russland aufgrund wirtschaftlicher wie technischer Probleme gezwungen sein werde, weit vor diesem Zeitpunkt die Zahl seines entsprechenden Arsenals merklich zu reduzieren. Dies komme einer einseitigen Abrüstung gleich, schwäche das Gegenschlag-Potenzial und lasse Amerika letzten Endes nicht vor einem Präventivschlag gegen Russland zurückschrecken.Personalbestand der russischen SicherheitskräfteStand: 30. Juni 20036 cellspacing=0 border=1> GesamtstärkeLandstreitkräfte (inkl. Raketentruppen)321.000Luftstreitkräfte (inkl. Luftabwehr)148.600Marine171.500Einheiten des Innenministeriums649.000Einheiten des Justizministeriums251.000Grenztruppen165.000Einheiten des Inlandgeheimdienstes FSB 66.200Einheiten des Katastrophenschutzministeriums u.a.154.600Bewaffnetes Personal insgesamt3.203.000Zivile Spezialisten in den angeführten Strukturen4.500.000 Quelle: Unabhängige Militärrundschau, Moskau
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