Man kann darüber staunen, wie Ulrich Seidl es jedes Mal schafft, seine Darsteller dahin zu bringen, wo er sie haben will. In seinen Filmen erkundet Seidl spießige, armselige oder scheinbar glamouröse Lebenswelten und überschreitet dabei oft genug die Grenze des guten Geschmacks. Vor seiner Kamera entblößen Menschen ihre ansehnlichen wie auch unansehnlichen Körper, stellen ihre sprachlichen und charakterlichen Eigenheiten zur Schau, ohne Scheu vor Peinlichkeit oder Lächerlichkeit und in einem Maße, das immer unangenehm berührt. Kritischen Stimmen, Seidl führe seine Darsteller als Freakshow vor und entwürdige die Menschen, die da meistens ziemlich exhibitionistisch vor seine Kamera treten, begegnet er mit einem Achselzucken. Die Rea
Realität sei eben so. Und der Realität so nahe wie möglich zu kommen, ist sein Hauptziel. Deshalb bewegen sich seine Filme in einem undefinierbaren Grenzland zwischen Dokumentar- und Spielfilm. Hundstage, der im vorigen Jahr den großen Preis der Jury in Venedig gewann, lief bereits erfolgreich in österreichischen Kinos und ist nun auch in Deutschland zu sehen. Die sechs Geschichten in diesem Episodenfilm verbindet die Suche nach dem Glück, die oft in Aggression endet. Einheitlicher Schauplatz ist eine Art Niemandsland südlich von Wien, zwischen Autobahnzubringern, Einfamilienhaussiedlungen und Einkaufszentren; die Zeit ist im Titel angegeben: Hundstage. Tatsächlich spielt das drückend-warme Wetter eine Hauptrolle. Es lastet auf den Menschen, die wie riesige, schwitzende, stumpf gewordene, gefangene und überfütterte Tiere wirken, und lässt ihnen keine Luft zum Atmen. Die Eigenheimsiedlung besitzt ein kleinbürgerliches, fein abgezirkeltes Ambiente, die Neubauten haben kein Gesicht und keine Atmosphäre. Nippes, Stofftiere und beeindruckend hässliche Sofalandschaften wechseln sich mit Parkplätzen, Autobahnkreuzen, Großraumdiscos und den künstlichen Erlebniswelten des Shoppingcenters ab. Wie Gewitterschauer brechen Obsessionen, Gewalt und Sehnsüchte auf. Dazwischen wird der Rasen gemäht oder sich gesonnt. Die Figuren könnten einem Deix-Comic oder einem Jelinek-Roman entsprungen sein und wirken doch gerade in ihrer Überzeichnung in gesteigertem Maße real. In langen Einstellungen sieht man zunächst immer wieder die verschiedenen Körper der Darsteller, die sich bewegungslos der Sonne hingeben. Wie fasziniert nimmt die Kamera all das schlaffe und hängende Gewebe, das trotzdem vom Glück träumt und von der Liebe, in Augenschein. Nie gibt es ein gnädiges oder verschämtes Ausblenden der Wirklichkeit, nie bleibt es nur bei der Andeutung, etwa bei der Liebesbeziehung eines Rentners mit seiner alten Haushaltshilfe, die an seinem Geburtstag in seinem Plüsch-Wohnzimmer für ihn in ihrer Unterwäsche tanzt. Nein, hier wird alles so gezeigt, wie es nun einmal aussieht - und gezeigt wird es nicht von professionellen Schauspielern, mit denen Seidl nichts anfangen kann, sondern größtenteils von Laiendarstellern. In einem Interview sagt Seidl dazu: "Ich sehe meine Aufgabe als Regisseur vor allem darin, Darstellern am Set eine Atmosphäre zu schaffen, die ihnen die Möglichkeit gibt, echt und ein wenig privat zu sein." Während andere Dokumentarfilmer sich darum bemühen, dass ihre Protagonisten beim Filmen die Kamera möglichst vergessen und "ganz natürlich" wirken, spielt Seidl gerade mit der (Selbst)-Inszenierung seiner Darsteller. In Mit Verlust ist zu rechnen von 1992 lässt er am Anfang des Films einen Landarbeiter vor der Kulisse eines heruntergekommenen Bauernhofes strippen. Mit einer Zigarette im Mund und Gesten wie aus Saturday Night Fever abgeguckt, zieht sich der Mann splitterfasernackt aus und präsentiert sich stolz der Kamera. Vielleicht kann man diesen Strip als Schlüsselszene für Seidls Filme betrachten, denn ausgezogen haben sich die Menschen in seinen Filmen immer, ob körperlich oder im übertragenen Sinn. Bekannt geworden ist der Österreicher mit seinen Dokumentationen von den Rändern der Gesellschaft, mit Filmen wie Tierische Liebe und Models. Der unbarmherzige Blick auf das Leben ist dabei sein Markenzeichen geworden, man könnte fast von einer Ästhetik des Hässlichen sprechen. Seine Filme erzählen etwas über den allgemeinen Zustand in einer scheinbar zivilisierten Gesellschaft, rütteln an Tabuthemen, wie das der österreichischen Männer, die sich asiatische Frauen aus dem Katalog bestellen (Die letzten Männer, 1994) oder das deformierte Verhältnis von Menschen zu ihren Haustieren, die für alles mögliche herhalten müssen bis hin zum Liebhaber-Ersatz (Tierische Liebe, 1995). Seidls Sichtweise auf die Figuren ist dabei aber immer eine deskriptive, niemals eine psychologische. Er zeigt keine inneren Entwicklungen, er erklärt keine Handlungen. Seine Figuren laden zu keiner Identifikation ein. Gerade dadurch schimmert in einem Film wie Hundstage immer wieder etwas Echtes durch.