Am Anfang und am Ende des Buches schießt der Dichter, Politkommissar und Psychiatriepatient Pjotr Pustota, nach spontanem, betont unbetontem Vortrag eines soeben auf Tschekablankoformular oder Serviette gefertigten Gedichts, von der Bühne des versteckten Moskauer Literaturcabarets »Spieldose« in den Kronleuchter. Darauf zücken die Gäste ihre Pistolen, die Musiker holen die MPs aus den Instrumentkästen, und ein munteres Gemetzel hebt an.
Am Anfang, das ist etwa 1918. Am Ende, das sind die Tage, die unsrigen. Am Anfang, da sitzen Spekulanten und Bürgerkriegsgewinnler jeglicher Couleur mit ihren Schicksen im Lokal und koksen, was das Zeug hält. Am Ende hocken die Neuen Russen mit ihren Schicksen drin und lassen sich auftischen: »Psilozybin? Bar
zybin? Barbiturate? Ecstasy?« Nichts ändert sich in Rußland, das ist die Botschaft des neuen Buches des 1963 geborenen russischen Autors Viktor Pelewin, und die ist, mit Verlaub, nicht eben neu. Das erzählt uns der gemeine Russe auf hunderten von Magazinseiten und aus dem Fernsehgerät, kaum hält man ihm ein Mikrofon hin. Pelewin haut uns indes in verwegenen Zeitsprüngen immer neue Beweise um die trägen Ohren. Er schlägt phantastische Brücken zwischen in Kalleschen herumprotzenden letzten Zaristen oder ersten rot/weißen Emporkömmlingen (ist alles eins) und den 600ern, den mafiösen Mercedesfahrern der neunziger Jahre; zwischen dem ewigen Lichtlein Stalins, oben im Kreml, und dem der gläubigen Christen; von den Feldkommandanten des revolutionären zu denen des kapitalistischen Bürgerkriegs, lauter Chefs, die sich in ihren kleinen unabhängigen König reichen die Taschen füllen oder Beutel leeren. Der gemeine Russe singt und trinkt und wartet auf Einsatzbefehl, egal von wem, damit er Feuerwerk machen kann. Gelegentlich macht er sich tiefe Gedanken. Wenn die Russen selbst es so sehen, wer wollte widersprechen?Solche resignative oder zynische Sicht auf die gesellschaftlichen Zustände gebiert existentialistische oder nihilistische Ausweichbewegungen, die ihrerseits die sie hervortreibenden Zustände aus nieversiegenden privatideologischen Brünnchen speisen. Pelewins Roman ist, was seine narrativen Seiten betrifft, ein großartiger satirischer Versuch über das desillusionierende russische Illusions theater, sowjetischer und postsowjetischer Zeit. Pjotr vandaliert an der Seite Tschapa jews, offenbar eine von reichem Volkswitz umspielte Pansa-Quijote-Kombination, über die Schlachtfelder des Bürgerkriegs, und wenn er nüchtern ist, richtet er die Soldaten ein bißerl aus, damit sie »hurra!« schreien können. Den Tschapajew hat Pelewin zu einem Haudegen und Genußmenschen mit Guru-Qualitäten ausgebaut, damit der Gesprächsstoff nicht ausgeht. Pjotr ist der schönen Maschinengewehrschützin Anna verfallen, die oben im Turm des Panzerfahrzeuges hockt, in dem das Trio durch Zeit und Raum brettert. Wirklich lustig, wie er die Helden der siegreichen kapitalistischen Warenwelt durch die Träume der russischen Verlierer und ihre Sehnsüchte tanzen läßt. Allein die Beschreibung des zwinkernden Auges von Gott Schwarzenegger, mit dem der Patient Maria, in Liebe entbrannt, durch die Lüfte saust: solche Funkelstückchen lohnen das Lesen, und es gibt eine Menge davon im Buch.Was indes den reich strapazierten philosophischen Hintergrund aus aufgebrühtem Existentialismus, gewürzt mit asiatischem Fatalismus und russischer Folklore, betrifft, ist das Buch selbst schwer infiziert von der im Land grassierenden Seuche. Buddhas kleiner Finger ist zwiespältig. Die Musik, die uns Pelewin zum prima aus allem-was-fetzt inszenierten Theater seiner bekifften, versoffenen, schizoiden Goldrussen aufspielt, ist abgestanden. Kapitel für Kapitel verweigert uns Pelewin eine Ebene der fiktionalen Realität, treibt uns von Traum zu Traum, von Rausch zu Rausch, von Halluzination zu Halluzination: alles nicht wahr, alles zurück, wieder nur geträumt! Aber mit der Zeit ermüdet das ewige Abtäuschen doch. Und diese Ermüdung wird verstärkt durch das schwere philosophische Gepäck, das durch beinahe alle Kapitel geschleppt wird, sei es durch die Gespräche der Psychopathen beim Kranichefalten im heiltherapeutischen Praktikum ihrer turbojungianischen Behandlung, sei es bei Tschapajew unter Feuer oder Feuerwasser: Tragen wir die Welt in uns, oder liegt sie draußen herum, und wo, jeweils, wäre unsere Existenz verortet? Schließen beide Antworten sie nicht rechteigentlich aus? Gibt es uns?, die Welt? Die Antwort: nichts, nirgends. Nun kann keiner einem Menschen, einem jüngeren zumal, gram sein, der solche Fragen im Busen wälzt. Fragen, die zur Pubertät gehören wie Pickel. Eine ganz andere Frage ist, ob solche Wälzerei nach ein paar Jahrtausenden Philosophiegeschichte in socher Penetranz in Romane hinein muß. Um einigermaßen heil aus den angezettelten Debatten herauszukommen, ist Pelewin zu Tricks gezwungen, die ihn gelegentlich sehr in die Nähe von esoterischem New Age-Geschwurbel treiben: »Es gab einmal einen Mann, der nicht so leben konnte wie alle. Er wollte herausfinden, was da eigentlich tagaus, tagein mit ihm passierte und wer er - der, dem das passierte - selber für einer war. Und eines nachts im Oktober, als er unter der Krone eines Baumes saß, schaute er hinauf zum Himmel und sah dort einen hellen Stern. In dem Moment begriff er, und er begriff das alles so sehr, daß ein Echo jener weit zurückliegenden Sekunde bis heute ...«. Oder in Fantasy-Verlegenheiten schlechter Trickfilme: Augen zu - Augen auf, und Klärnis ist da, der schwersten Fragen, oder irgendeine Errettung. Farbkreisel und Zeittunnel helfen aus verfahrenen Spekulationen in Träume oder ins Koma zurück.Ziemlich am Ende, Tschapajews Truppen scheinen aufgerieben, läßt die schöne Panzerschützin Anna ihre Geheimwaffe sprechen oder husten, ihre tönerne Kanone, Buddhas kleiner Finger. Sie läßt sie rotieren und dematerialisiert die ganze Welt, einschließlich ihres Panzers. Nur ein Inselchen bleibt, im toten Winkel des Geschützes. Auf diesem Kuchenstückchen sitzen Pjotr, Tschapajew und Anna und merken, daß sie die Zigaretten im Panzer vergessen haben. Irgendwie müssen sie runter von ihrer Scholle, damit die Sache zum Zirkelschluß im Literaturcabaret gebracht werden kann. Also beginnt es mitten im Nichts gewaltig zu strömen, und der Ural (The Uncertain River of Absolute Love) tost gewaltig und unüberschaubar unter ihnen dahin. Man muß sich nur hineinstürzen, um wieder in der Klapsmühle oder der »Spieldose« zu landen, von der dann, just während der durch die Kronleuchterattacke ausgelösten Schießerei, das auferstandene gute Panzerchen mit Schapajew und Anna wartet, um mit Pjotr in die Innere Mongolei zu verschwinden. Die Innere Mongolei - das völlig abgeräumte Innerste, die leerste Ich-Wüstenei, der Triumphplatz des Nichts. Vielleicht aber fiel Patient Pjotr auch nur erneut ins Koma.Es gibt wahrscheinlich einfach eine Grenze: Nichtet das nichtende Nichts allzusehr, denunziert es jede menschliche Anstrengung. »Dieses Buch wirkt wie ein Computervirus - geschaffen, um das kulturelle Gedächtnis Rußlands zu zerstören«, hieß es, so teilt der Verlag mit, in der Begründung, Buddhas kleiner Finger nicht für den Booker-Preis zu nominieren. Da ist was dran. Nicht, daß das Werk irgendein kulturelles Gedächtnis zerstören könnte, was immer das sein soll. Aber es hat mit der Zauberkanone, dem großen Nihilisator, zu hemmungslos herumgeballert. Es hat was abgekriegt. Und siehe: Jetzt frißt es sich selbst.Viktor Pelewin: Buddhas kleiner Finger. Aus dem Russischen von Andreas Tretner, Roman. Verlag Volk und Welt, Berlin 1999, 421 Seiten, 46,- DM
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