Wie das Internet wohl aussieht? Japanische Webdesigner haben ein treffendes Bild gefunden. Sie bestimmen jährlich die 333 größten und einflussreichsten Websites und sie ordnen sie als U-Bahnnetz an. 14 Linien schlängeln sich durch eine virtuelle Stadt, deren reales Vorbild Tokio ist, Japans riesige, postmoderne Metropole. 35 Millionen Menschen leben in der Region und machen sie zu einer unübertroffenen Wirtschaftsmacht. Genau wie das Internet blinkt es hier an jeder Ecke, es wird aufgebaut und abgerissen, es herrscht dichtes Gedränge und unbegrenzte Vielfalt. Für Computer-Nerds ist Tokio wahr gewordene, neonleuchtende Science-Fiction.
Die Bahnlinien auf der Web Trend Map orientieren sich an denen der Tokioter U-Bahn – wurden aber nach Themen umbenann
ientieren sich an denen der Tokioter U-Bahn – wurden aber nach Themen umbenannt. So gibt es die Linie der Web-Anwendungen mit den Haltestellen Hotmail und Firefox, eine Linie der Nachrichten-Seiten, und Ebay und Amazon liegen entlang der Geld-Linie. Dort, wo in Tokio Großmütter im Stadtteil Sugamo shoppen gehen, liegen auf der Karte die Stationen der „alten Tanten“ New York Times und BBC – eine von vielen Anspielungen. Auch ohne Insider-Kenntnisse bleibt es interessant: Welche Linien kreuzen sich wo und welche Websites sind benachbart?Knotenpunkt TwitterMehr als tausend Websites hat die Agentur Information Architects für die vierte Ausgabe der Karte analysiert und die 333 derzeit wichtigsten herausgefiltert. Die Daten hat das Zürcher Büro zusammengetragen, das Design kommt von den Kollegen in Japan. Ausschlaggebende Faktoren: Die Anzahl der Besucher, das Alter der Seite, ihr erzieltes Einkommen und die Firma dahinter. Je höher eine Station auf der Karte eingezeichnet ist, desto erfolgreicher hinsichtlich Besucherzahlen, Einkommen und Trendwirkung ist eine Seite. Je größer der abgebildete Grundriss, desto stabiler steht das Unternehmen hinter der Website im Markt.Einer der Knotenpunkt ist der vielbeachtete Kurznachrichten-Dienst Twitter. Er steht auf der Karte für Shibuya, Tokios angesagtes Shopping- und Ausgehviertel. Direkt vor der Station liegt eine durch Filme berühmte Straßenkreuzung, bei der alle Fußgängerampeln gleichzeitig auf grün springen und Tausende Menschen aus allen Richtungen aufeinander zustürmen. Lässt man sich mitreißen und wandert, geblendet von den Meterhohen Neonreklamen, durch den Szenestadtteil, drängt sich der Vergleich geradezu auf: Hier brummt es wie auf Twitter, ein nicht enden wollender Strom an Eindrücken, beeindruckend und berauschend.Porno spielt keine RolleSelbst die großen Datei-Tauschbörsen sind auf der Karte vertreten, Pirate Bay, torrents.to und Rapidshare haben Stationen, verklappt werden hier sicher nicht nur aktuelle Musik- und Hollywood-Bootlegs. Nur wo ist der Sex? Auf der Karte geht es so züchtig zu wie in der Tokioter U-Bahn: Kein öffentliches Rumgefummel. Aber jeder weiß, dass Porno im Internet eine große Rolle spielt. Weil nach Ansicht der Designer aber keine dieser Seiten eine eigene starke Präsenz entwickelt hat oder Standards setzen konnte, gilt: Jedem sein Porno.Die komplexe Karte, die den Information Architects die Aufmerksamkeit der Blogosphäre wie die potentieller Kunden sichert, gibt es auch als Poster in limitierter Auflage. Nachdem die Agentur eine frühe Version ins Netz gestellt hatte und Tech Crunch (Opinion Line, rechts oben) darüber berichtet hatte, gingen über tausend Vorbestellung ein. Mit etwas Glück ist eine Reservierung auch jetzt noch erfolgreich: In den vergangenen Jahren kaufte nur jeder Dritte tatsächlich einen Druck.An den Rändern, wo die sonst so vernetzten Linien langsam ausfasern, sind die Bewohner in ihren Viertel eher ungestört – doch je weiter es unter der Erde ins Zentrum der Stadt hineingeht, desto mehr unterschiedliche Szenen treffen aufeinander. In der Mitte der Karte sammeln sich die größten, einflussreichsten Websites um den Palast des Kaisers. Im Schlossgarten: Die Chefs von Apple, Microsoft, Medienmogul Rupert Murdoch – und US-Präsident Barack Obama, der mit seinem Online-Wahlkampf via Blog und YouTube das Internet verzückt hat.Weiter links davon befindet sich Shinjuku, die größte Pendlerstation der Welt, wo jeden Tag mehr als 3,5 Millionen Menschen in dem wahnwitzigen Labyrinth aus Haltestellen, Verbindungswegen und Einkaufszentren ihren Weg zur Arbeit suchen. Ein Reiseführer warnt: Nimmt man den falschen Ausgang, bräuchte man eine halbe Stunde, um den richtigen Weg wieder zu finden. Das ist natürlich eine freundliche Untertreibung und kann allenfalls für langjährige Nutzer gelten, als Tourist spülen einen die Menschenmassen stundenlang durch Unterführungen, Tunnel, Zwischengänge in immer neue, bisher unbekannte Teile von Shinjuku.Hat man aber dann begriffen, wie die Linien ineinander greifen, wird die Station zum nützlichen Knotenpunkt, den man fortan täglich aufsucht. Klar, dass auf der Web Trend Map an dieser Stelle Suchmaschinen-Gigant Google zu Hause ist – und drumherum spannen sich die zahlreichen Ableger der größten, erfolgreichsten Website der Welt. Auch klar, dass Tokios Verwaltung hier in einem der höchsten Wolkenkratzer über der Stadt sitzt.In Ausgabe 17 des Freitag bilden wir die komplette Karte im Großformat ab