Wie kein anderer konnte Sherlock Holmes aus den scheinbaren Nebensächlichkeiten des Alltags das Material zur Lösung seiner Fälle rekrutieren. Der Hund von Baskerville beginnt mit einer Nebensächlichkeit par excellence: Mit aufgeklebten Wörtern aus einer Zeitung und mit Löchern im Papier. Als der Held der Geschichte dem Detektiv den eben erhaltenen anonymen Brief zeigt, beugt sich dieser über das zusammengeklebte Textstück und behandelt es wie eine mittelalterliche Quelle: als ein wichtiges Dokument, von dem etwas über die vergangene Geschichte abzulesen ist. Rasch erkennt Holmes die ausgeschnittenen Worte als aus der "inneren Seite" der Times der "gestrigen Ausgabe" entnommen.
Löcher im Papier
Dabei dient ihm die Typographie, die er als eine
t ihm die Typographie, die er als einen der "elementarsten Wissenszweige des Kriminalisten" bezeichnet. Er bemerkt zudem, dass die Worte mit einer Nagelschere aus der ehrwürdigen Zeitung geschnitten und hastig mit Gummi aufgeklebt wurden. Im nächsten Schritt sucht er die in Frage kommenden Orte nach Papierüberresten ab, immer auf der Suche nach den Löchern in der Zeitung. In diesem Fall führt die Zeitungsspur nicht zum Mörder. Doch in der Zeit um 1900 erscheint sie als kriminalistisches Indiz ersten Ranges. 1902, im gleichen Jahr als Conan Doyle die Endfassung seines Romans in London vorlegt, veröffentlicht die Zeitschrift Der Zeitungs-Verlag. Fachblatt für das gesamte Zeitungswesen eine kleine Meldung unter "Vermischtes". Berichtet wird der Fall eines jungen Dienstmädchens, das ihr neugeborenes Kind getötet hatte. Im Zentrum des Artikels steht nichts über den Hintergrund der Tat oder das Gerichtsurteil. Berichtet wird vielmehr, dass ein "kleiner Zeitungsausschnitt" zur Lösung des Falles geführt habe. Man findet das Kind in einer Pappschachtel; die Schachtel "war in mehrere Zeitungsblätter eingewickelt, darunter befand sich auch ein solches, aus welchem ein kleines Inserat ausgeschnitten war. [...] Kriminalkommissar Braun stellte fest, dass an der Stelle der Zeitung eine Annonce gestanden hatte, durch welche leistungsfähige Holzwollfabriken gesucht wurden. Die polizeilichen Recherchen richteten sich nun auf alle derartigen Fabriken, und es wurde schließlich der begründete Verdacht der Thäterschaft auf die Angeklagte gelenkt, die in der Landsberger Allee bei einem Fabrikanten G. diente."Anders als in den Holmes-Geschichten, wird hier in nüchternen Worten ein Verbrechen geschildert, das nicht die Kultur der gebildeten Gentleman-Mörder zum Hintergrund hat, sondern die Sozialgeschichte einer Großstadt um 1900. Doch Fiktion und historische Wirklichkeit, beratender Detektiv und Kriminalkommissar arbeiten mit dem gleichen Material: zu stopfende Löcher im Papier, Schnittspuren und die Charakteristik der Typographie. In beiden Schilderungen steht der Zeitungsrest als materialisiertes Geschehen im Mittelpunkt: bei Holmes, um die Spannung zu steigern und seine berechnende Kombinationsfähigkeit zur Geltung zu bringen; in dem Fachblatt für das gesamte Zeitungswesen, um die prominente Rolle der Zeitung anzuführen. Ein zweiter Blick auf diese beiden Texte offenbart, dass der Zeitungsrest, mehr noch als die Fähigkeiten des Detektivs oder die Rekonstruktion der Ereignisse, das Medium selbst thematisiert. Wie war es möglich, dass etwas so massenhaft Hergestelltes, etwas so Billiges wie die Zeitung Erkenntnisse produzieren konnte?Es waren die papierenen Bearbeitungsspuren, die auf eine rekonstruierbare, vermeintlich dahinter liegende Realität verwiesen und die es als Zeichen zu interpretieren galt. Zugleich aber steckte mehr hinter dieser semiotischen Fleißarbeit, denn die Hinwendung zu den kleinen Geschehensresten zeigt, dass damit auch ein epistemologischer Zugang gewählt wurde: das Indiz war nunmehr nicht einfach nur Teil eines Geschehens, sondern vielmehr ein das Geschehen in nuce enthaltener Rest, der das Ganze repräsentieren konnte. Die am nächsten Tag bereits veraltete Zeitung nutzten unbescholtene Bürger wie Mörder als Material (für anonyme Briefe) oder als Informationsdienstleister (Anzeigen/Inserate). Zugleich offenbarten die Schnitte in die Zeitung eine dahinter liegende Person, die es zu finden galt und die durch die Wahl der auszuschneidenden Meldung oder ihre Schnittechnik rekonstruierbar wurde. Und die kriminalistische Indienstnahme der ausgeschnittenen Zeitungsstücke war nicht die einzig mögliche. Kultiviert wurde eine regelrechte Schnittkultur um 1900, die die Meldung, das Informationsdetail, aus dem Gesamtzusammenhang aussonderte und in einen neuen Kontext einfügte. Wenn aber, wie Aby Warburg schrieb, der liebe Gott im Detail steckt, wo war er im Zeitungsausschnitt?Schere und KlemmbrettEs gibt kaum jemanden, der noch nie einen Zeitungsartikel ausgeschnitten hat: um ihn weiterzugeben, in ein Buch zu legen oder einer Notiz hinzu zu fügen. Einzelne Zeilen markiert man vielleicht, um später die entscheidenden Details schneller wiederzufinden. Damit wird der Zeitungsausschnitt zu einem eigenständigen Objekt, hinter dem das Medium Zeitung steht, das aber zugleich in einen neuen Kontext überführt wird und dadurch ein bestimmtes Set an Techniken in sich trägt. Das Führen der Schere, das Produzieren von geraden Kanten und das sorgfältige Falten und Einlegen oder Einkleben ist Vorläufer des cut and paste-Befehls, den heute jeder Computerbenutzer kennt. Als Icons findet man auf der Bildschirmoberfläche eine Schere (cut) und ein Klemmbrett mit einem Textzettel (paste). Die Bildschirmoberfläche gleicht einem zweidimensionalen Schreibtisch, auf dem man die vertrauten Gegenstände (Schere, Mappe, Klemmbrett, Textseiten) der Textarbeit vorfinden.Der symbolische Zettel auf dem Klemmbrett war ursprünglich ein Stück Papier mit einem Textfragment, das ausgeschnitten und wieder eingeklebt werden musste. Vom 16. Jahrhundert an trug man in dieser Form Wissensstücke zusammen, die in Kladden eingeklebt oder in Zettelkästen aufbewahrt wurden und die der räumlichen Klassifikation des Wissens dienten. Der Zettel - die vielleicht kleinste materiale Texteinheit der gelehrten Arbeit - begann in den Exzerptheften eines Universalgelehrten wie Konrad Gesner und taucht heute als Bildsymbol auf der Benutzeroberfläche wieder auf.Zeitungsausschnitt-IndustrieIn der Geschichte der Zettelwirtschaft ereignete sich im Jahr 1879 ein Vorfall, der zu einer besonderen Sorte Papierstück führte. In Paris wurde das erste Zeitungsausschnittbüro gegründet. Die Zeitung war zu diesem Zeitpunkt zu einem Massenmedium geworden, das auf die Beschleunigung der Kommunikation durch Telegraph und Zug und auf technische Erfindungen wie die Rotationsdruckmaschine (1872) und die Setzmaschine (1884) reagierte. In Metropolen wie London, Berlin oder Paris gehörte die Zeitung zum ständig Zuhandenen, das das Straßenbild prägte und zugleich innerhalb von Stunden zu Altpapier mutierte: "Die Zeitung von vorgestern war vorgestern interessant, heute ist sie Makulatur."Doch in Paris wusste ein geschickter Unternehmer aus alten Neuigkeiten Geld zu schlagen und setzte mit seiner Gründung eine "Zeitungsausschnitteindustrie" in Gang. Sie bestand aus dem gewerbsmäßigen Sammeln und Ausschneiden von Informationen aus Zeitungen und deren anschließenden Vertrieb. Dazu wurden die in der Tagespresse enthaltenen Artikel gesichtet, nach Inhalten und Kunden sortiert und in gebündelter Form weitergereicht. Als Kunden traten zumeist Personen des öffentlichen Lebens auf, die die unübersehbar werdende Menge an Tagesinformationen zu organisieren hofften. Um die Jahrhundertwende hielt also der massenhafte Zeitungsausschnitt Einzug in die verschiedensten Wissensgebiete und Künste und etablierte sich als ein anerkanntes Sammelobjekt. Die Collagen von Hannah Höch oder Kurt Schwitters, die Manuskripte der Romane von John Dos Passos oder Alfred Döblin, die papiers collés der französischen Kubisten wären ohne den Zeitungsausschnitt nicht denkbar. Aber auch Wissenschaftler fügten ganze Zeitungsausschnittsammlungen zusammen.Sammelte der Pathologe Rudolf Virchow von 1889 an hauptsächlich solche Artikel, die über ihn und das Berliner Pathologische Museum berichteten, so sammelte der Berliner Physiker Ernst Gehrcke in den Jahren 1919 bis 1922 alle Artikel, die sich auf die Relativitätstheorie und Albert Einstein bezogen. Eigenen Aussagen zufolge waren es über 5.000 Artikel, die er durch mehrere Zeitungsausschnittbüros bezog und nach Erhalt in selbstgefertigte, fadengeheftete Bände einklebte. Dem an der Physikalisch Technischen Reichsanstalt tätigen Physiker kam es darauf an nachzuweisen, dass diese Art der theoretischen Physik nicht wirklich etwas Neues darstelle. Vor allem aber kritisierte er die Begeisterung der Öffentlichkeit, die nicht etwa von einem Verständnis der Materie herrühre, als vielmehr eine "Massenhysterie" darstelle.Die zahlreichen ausgeschnittenen Artikel dienten ihm dazu, diese "Massensuggestion" Stück für Stück nachzuweisen. Zum Teil hatte Gehrcke damit wirklich ein Phänomen des Massenmediums Zeitung festgehalten, denn die Berichterstattung über Albert Einstein und seine Entdeckungen nahmen durchaus groteske Züge an. Zum anderen aber insinuierte Gehrcke mit seinen Schriften, dass Einstein diese Art der öffentlichen Repräsentanz selbst befördere und las die Artikel nicht als gefärbte Darstellung, sondern als eine objektive Berichterstattung. Damit tappte der Kritiker selbst in die Falle des Mediums Zeitung.Die Physiognomie des PapiersZiel war es, wie Gehrcke selbst schrieb, eine Tatsachensammlung zusammenzustellen. Der Zeitungsausschnitt lieferte ihm Informationen, die erst nach dem Gesetz der großen Zahl an Bedeutung gewinnen konnten. Gehrcke verlieh dem einzelnen, nur für den Tag geltenden Zeitungsausschnitt Bedeutung, indem er ihn in eine Reihe mit anderen stellte und damit eine positivistische Sammlung von Daten anlegte. Anders als in der Erzählung Der Hund von Baskerville, wo der einzelne Artikel und seine materiale Spur zum Ereignis zurückführen sollen und Teil seiner Rekonstrukion sind, fügte Gehrcke aus mehreren Perspektiven das mediale Ereignis Einstein zusammen. War Kriminalkommissar Braun darum bemüht, den Artikel wieder zu seinem Ursprung zurückzuverfolgen, so löste Gehrcke ihn aus dem Zusammenhang der Zeitungsseite und überführte ihn in einen neuen Kontext, der neues Wissen generierte.Der Zeitungsausschnitt kann ein zu Identifikationszwecken dienendes Objekt, aber auch Repräsentant einer epistemologischen Technik sein, die gleichsam statistisch aus der Menge der Daten das vermeintlich Tatsächliche ermittelt. Und in beiden Fällen zeigen sich in den Papierstücken die Physiognomien der sie bearbeitenden Personen. Wenn das Detail ein Zeitungsausschnitt sein kann, dann steckt der liebe Gott nicht im Inhalt des Artikels, sondern in seinen Rändern und Kanten.Dr. Anke te Heesen ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte Berlin. Sie arbeitet schwerpunktmäßig zur wissenschaftlichen Bedeutung des Sammelns. Die Abbildungen auf dieser Seite sind dem Buch cut and paste um 1900. Der Zeitungsausschnitt in den Wissenschaften ( KALEIDOSKOPIEN, Bd. 4, Berlin 2002) entnommen
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