Der Streik der Hennigsdorfer Stahlarbeiter am 17. Juni 1953 - das ist eine besondere Geschichte, die frühzeitig zur Legende wurde. Als eines der wenigen Ereignisse an diesem Tag ist diese Geschichte auch unmittelbar in die Erinnerung der Westberliner eingegangen. Die Beschäftigten des Hennigsdorfer Stahlwerkes und des Lokomotivwerkes zogen zweimal - am Morgen und am Abend - durch den französischen Sektor. Am Morgen voller Hoffnung und Enthusiasmus.
Das Foto
Viele kennen wohl das Foto, das bei dieser Gelegenheit aufgenommen wurde. Die Männer und Frauen laufen dicht nebeneinander oder halten einander untergehakt. Ihr Gesichter haben einen besonderen Ausdruck. Etwas Offenes, Gelöstes, sehr Glückliches leuchtet aus ihnen. Sie sehen friedlich aus und eigentlich nicht
aus und eigentlich nicht nach Aufstand und Kampfentschlossenheit. Als ob die bloße Übertretung des ungeschriebenen Verbots, gemeinsam zu demonstrieren, schon genügte, um für einen kurzen Moment alle Last von ihnen zu nehmen. Von ihrem Rückzug am Abend, nachdem sie vor den Panzern und Schüssen am Potsdamer Platz geflohen waren, gibt es keine Fotos.Genau erinnert sich heute niemand mehr an diesen Tag - nach fast 40 Jahren verordnetem Schweigen und einer offiziellen Geschichtsversion, der zufolge der Aufstand kein Aufstand, sondern eine faschistische Provokation war, an der sich einige irregeleitete Arbeiter beteiligt hatten. In Hennigsdorf selbst konnte das Ereignis natürlich nicht völlig in diesem Sinne umgedeutet werden. Es gab zu viele Akteure, zu viele einzelne Erinnerungen. Da blieb nur das Tabu und außerhalb der offiziellen Zusammenhänge ein vages Bewusstsein der eigenen Kraft, das sich ummünzte in Legenden: Außenstehenden erzählten die Arbeiter gern, sie bekämen in der Nachtschicht Südfrüchte, damit sie nicht wieder "einen 17. Juni machten". Sie erzählten auch, dass sich in ihrem Betrieb seitdem kein Politbüromitglied mehr hätte sehen lassen (was so nicht stimmte), und dass sie lange Zeit keine kollektive Auszeichnung bekommen hätten (was ebenfalls nicht stimmte). Doch darin drückte sich wenigstens ein Stückchen des von Generation zu Generation weitergegebene Stolzes aus, der sagte: Die haben immer noch Angst vor uns.1989 dann drehte sich alles um 180 Grad. Der 40. Jahrestag des 17. Juni fand 1993 nach einem radikalen Paradigmenwechsel statt. Von einem Nicht-Ereignis verwandelte sich der Aufstand plötzlich in einen Bezugspunkt der kollektiven Erinnerung - die letzten Zeitzeugen kamen vor die Kamera, und auf dem alten Dorfanger von Hennigsdorf wurde ein Denkmal feierlich eingeweiht. Was war seitdem aus ihren Erinnerungen geworden? Waren sie eingekapselt in Schweigen und Verleugnung? War dieser Moment der Entgrenzung, des glücklichen Gelöst-Seins, wie auf dem Foto zu sehen, noch in ihnen aufgehoben? Als ich 1994 bei einem Forschungsprojekt ehemalige Teilnehmer des Streiks befragte, traf ich auf Leute, die froh waren, endlich sprechen zu können. "Es war die Explosion", sagte einer und beschrieb damit deutlich sein Gefühl, die Schwelle des Verbotenen zu überschreiten. Ein anderer sprach davon, "dass man sich da mal Luft holen konnte."Vielleicht hatte auch die kollektive Wiederaneignung der Geschichte ihren Einfluss auf die einzelnen Erinnerungen. Sie sprachen davon, dass sie in der Frühschicht vom Streik der Berliner Bauarbeiter erfuhren, und es diese Nachricht war, die ihren fast geschlossenen Auszug aus dem Stahlwerk auslöste. Es war auch vom Schlagbaum an der Grenze bei Heiligensee die Rede, den die Demonstranten mit ihren Händen herausrissen und zur Seite warfen, von den Päckchen Zigaretten und Schokolade, die sie unterwegs in Westberlin geschenkt bekamen, von den Bildern und Transparenten, die am Walter-Ulbricht-Stadion heruntergerissen wurden, schließlich auch von den Schüssen am Potsdamer Platz, von denen sie mit dem Gestus der erfahrenen Kriegsteilnehmer erzählten, die ruhig geblieben sein wollten und sich schließlich zurückzogen, als scharf geschossen wurde.Pflichtbewusste ArbeiterAuch die Deutung des 17. Juni 1953 als Werk von gewalttätigen Provokateuren hatte Spuren in ihren Erzählungen hinterlassen. Es war nicht zu übersehen - die Erinnerungen bewegten sich noch immer entlang dieser offiziellen Version, um sie zu widerlegen, um sich zu rechtfertigen, um die Ehre als pflichtbewusster Facharbeiter wieder herzustellen. So war es Rudolf Lampe (Namen im folgenden geändert) wichtig zu betonen, dass einige Kollegen im Betrieb blieben, damit die Öfen nicht erkalteten und kein größerer Schaden entstünde. Kurt Panitz, der in der Gießerei arbeitete, hatte gerade eine Pfanne abzugießen: "Die kann man ja nicht stehen lassen die Pfanne, das wäre ja ... ginge ja nicht, das friert ja alles ein. Soviel Vernunft muss man schon haben. Und dann habe ich die Pfanne abgegossen ... und dann raus aus dem Stahlwerk auf die Straße."Rudolf Lampe distanzierte sich in seiner Erzählung auch von jeglicher Gewalt, die er unterwegs sah und erlebte. Er sei zusammen mit "alten Genossen marschiert". Deren Gesellschaft schien ihm noch im Jahre 1994 ein Beweis für die Redlichkeit seines damaligen Tuns zu sein. So berichtete er von einem FDJler, den die Demonstranten kurz vor Heiligensee in den Straßengraben geworfen hatten, und den er gemeinsam mit seinem Kollegen wieder aufhob. Als sie am Walter-Ulbricht-Stadion vorbeikamen, sei dort "alles runtergerissen" worden: "Ich hatte immer rechts und links geguckt, mich nicht daran beteiligt. Und wir haben nur immer gesagt, lasst die Bilder von Ernst Thälmann hängen. Man wollte diese Bilder auch runterreißen, und wir haben immer gesagt: lasst das ... wir waren ja Arbeiter."Auch Kurt Panitz schilderte, wie die "großen Buchstaben" über dem Eingang des Walter-Ulbricht-Stadions heruntergeschlagen wurden, nicht ablehnend wie Lampe, eher neutral, als Beobachter. "Da sind welche hin...", sagte er, um plötzlich mitten im Satz abzubrechen und zu erklären: "Ich war dabei". Er wurde Teil einer Männermasse, die ihre eigene Dynamik entfaltete, zum Schluss erzählte er: "Da waren zwei Polizeigürtel, die mit Pistolen geschossen haben, wenn wir uns denen genähert haben. Dann haben wir uns alle zwischen Ecken und Mauern hingestellt und die auch mit Steinen beworfen, wie die auf uns geschossen haben ..."Am Abend mit der Rückkehr nach Hennigsdorf war "die ganze Herrlichkeit" dann vorbei. Was gerade noch verboten gewesen war, war schon wieder verboten. Keine Zeit, sich an den aufrechten Gang zu gewöhnen. Der Alltag der Anpassung begann erneut. Die Normerhöhungen wurden zwar zurückgenommen, der fehlende Lohn nachgezahlt. Aber alles in allem war es eine tiefe Niederlage.Bestimmend blieb am Ende die Erfahrung von Ohnmacht und Resignation, die das Fazit ihres Lebens ausmachte. Stellvertretend erklärt Rudolf Lampe: "Wenn ich mal zurückdenke, wer hat uns denn am 17. Juni geholfen? Von drüben wurde geguckt. Ja. Man hat uns im Stich gelassen damals. Wir haben hier die ganzen Jahre... und die haben die ganzen Jahre den 17. Juni drüben gefeiert. Ja, das ist das Einzige, was mich eigentlich ärgert."Annette Leo arbeitete im Rahmen des Forschungsinstituts Recklinghausen über das Geschichtsbewusstsein von Arbeitnehmern in Ost und West, wobei der 17. Juni nicht der einzige Gegenstand der Befragung war.
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