Pakistan hat sich mit seiner Kaschmirpolitik in eine ähnliche Situation gebracht wie zuvor in Afghanistan - zweifelhafte oder brutale Organisationen zu unterstützen, die sich nicht kontrollieren lassen. Für diese Fehler gibt es mindestens zwei Gründe: die - legitime - Sympathie für die kaschmirischen Muslime, denen von Indien seit 1948 das Selbstbestimmungsrecht vorenthalten wird. Zweitens die - idiotische - Versuchung, dem übermächtigen Nachbarn Nadelstiche zu versetzen und Schaden zuzufügen. Und drittens ließe sich noch die - naive - Hoffnung nennen, das eigene Staatsgebiet um Kaschmir zu vergrößern. (Naiv auch deshalb, weil dies die Rechnung ohne die Kaschmiri macht.) Pakistan ist also nicht unschuldig, aber es hat keinerlei Interes
resse an Krieg: Den wird es mit Sicherheit verlieren, und die pakistanischen Generäle wissen das genau. Ein Krieg bedroht nicht allein die Macht der Regierung, er könnte die Existenz des fragilen Staates insgesamt in Frage stellen. Die Kriegsgefahr geht deshalb nicht von Pakistan aus.Aus indischer Sicht stellt sich dies anders dar. Dort wird die Situation - wenn man von der realen und berechtigten Empörung wegen des Angriffs auf das Parlament absieht - vor allem als Chance begriffen. Unter dem Deckmantel der internationalen Terrorkampagne soll das Kaschmirproblem militärisch gelöst werden, ohne internationale Proteste befürchten zu müssen. Zwar entspringt dieses Problem vor allem der indischen Politik selbst, nämlich der Weigerung, die überwiegend muslimischen Kaschmiri über ihr eigenes Schicksal bestimmen zu lassen, oder den massiven Menschenrechtsverletzungen durch indische Truppen. Aber die Sorge, durch eine Sezession Kaschmirs weitere Unabhängigkeitsbewegungen zu ermutigen, führt zu einer Politik der harten Hand. Nun bietet sich die Gelegenheit, Pakistan als Unterstützer der kaschmirischen Rebellen eine Lektion zu erteilen, ihm entweder durch militärische Drohungen eine demütigende Niederlage beizubringen oder es durch Krieg zu einer Änderung der Politik zu zwingen. Die diplomatische Option zielt auch auf die Instrumentalisierung der USA und anderer externer Akteure gegen Pakistan durch anti-terroristische Rhetorik, die militärische auf die Tatsache, dass große Teile des pakistanischen Militärs gegenwärtig an der afghanischen Grenze stationiert sind. Indien braucht sich vor einem Krieg nicht zu fürchten, solange die Eskalation unterhalb der Nuklearschwelle bleibt, da es ihn nur gewinnen kann. Die Tatsache, dass der Truppenaufmarsch sich nicht auf die abgelegene Hochgebirgsregion Kaschmirs beschränkt, sondern entlang der gesamten, fast 3.000 Kilometer messenden Grenze (Punjab, Rajasthan und Gujarat) erfolgt, deutet auch darauf hin, dass ein solcher Krieg eben nicht allein um oder wegen Kaschmir geführt würde. Ein indischer Minister formulierte das kürzlich so: "Wenn es Krieg geben sollte, dann wird seine Intensität so groß, dass wir zukünftig keinen Krieg gegen Pakistan mehr brauchen werden."Das Säbelrasseln und die Kriegsvorbereitungen Indiens richten sich in diesem Rahmen nicht allein auf die gewaltsame Lösung der Kaschmirfrage, sondern auch auf die endgültige Durchsetzung seiner regionalen Hegemonie. Delhi verfolgt Großmachtambitionen, spätestens seit es 1974 seine erste Atombombe testete. Heute plant es den Bau zweier Flugzeugträger. Den alten Gegner Pakistan in die Knie zu zwingen, würde die außen- und militärpolitische Dominanz Indiens in der Region endgültig durchsetzen - nur im Norden gibt es noch machtpolitische Konkurrenz: die Volksrepublik China, die seit Jahrzehnten freundschaftliche Beziehungen zu Pakistan unterhält. Und genau von dort droht der einzige Unsicherheitsfaktor: China hat in den letzten Wochen im Nordosten Indiens Dutzende von Grenzmarkierungen zerstört und ist bis zu 20 Kilometer tief über die umstrittene Grenzlinie vorgestoßen - ein dezenter Hinweis darauf, dass Peking mit der indischen Politik unzufrieden ist. Die indischen Grenztruppen haben vorsorglich Verstärkung angefordert - genau zu einer Zeit, in der Indien sein Militär massiv an die pakistanische Grenze verlegt. Einen militärischen Konflikt zwischen Indien und China wird es gegenwärtig aber kaum geben.Die indische Politik wird deshalb darauf zielen, den Konflikt einerseits unter der Nuklearschwelle zu halten, zweitens China mit Vorsicht behandeln, um es nicht in den Konflikt zu ziehen. Unterhalb dieser beiden Risikoebenen scheint die Handlungsfähigkeit Delhis nur von einer politischen Spaltung innerhalb der Regierung begrenzt. Während Ministerpräsident Vajpayee eher auf einen diplomatischen Erfolg zu setzen scheint, drängen Hardliner um seinen Innenminister Advani offen zum Krieg. Die Sorge wächst, dass die Kriegsfraktion sich durchsetzen wird. Zu massiv sind die Kriegsvorbereitungen, zu viele Truppen und Material bereits über große Entfernungen aus dem Osten des Landes an die pakistanische Grenze verlegt - was bisher erst zweimal geschah: 1965 und 1971, bei den beiden schwersten Kriegen zwischen Indien und Pakistan.