Der Pfarrer hat die Nase voll. So klingt es jedenfalls am Telefon. Aber so würde er das nie sagen. Drei Tage lang war die Bildzeitung im Haus, Rundfunk und Fernsehen. Redaktionen fragen nach Terminen. Der Run auf die Kinder-Küche der "Arche" im Berliner Stadtteil Hellersdorf kostet zwar Nerven, bringt aber auch Spenden ins Projekt. Weihnachten macht weich, fremde Not stimmt freundlich. Geld gegen Gefühliges: "Arme Kinder. Schrecklich."
Und nichts Neues in Deutschland. Die Nationale Armutskonferenz stellt in ihrem diesjährigen Bericht fest, dass 1,1 Millionen Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren von Sozialhilfe leben. 1994 waren es "nur" 871.000. Auch die Hauptstadt lässt sich nicht lumpen: Laut Familienbericht 2002 ist jedes siebte Kind unter 18 Jahren arm. Sie le
ahren arm. Sie leben in Haushalten mit weniger als der Hälfte des Durchschnittseinkommens - so die Europa-Formel für staatlich anerkannte Armut. Besonders allein erziehende Mütter haben oft nur ein geringes Einkommen. Jede vierte von ihnen hält sich und ihre Kinder mit Sozialhilfe über Wasser. Experten schätzen die Zahl der tatsächlich in Armut lebenden minderjährigen Kinder auf 180.000. Das sind 100.000 mehr als offiziell angegeben.An der Ecke Schwedter/Tangermünder Straße ist es windig, kalt sowieso und es dauert ewig, bis man über die Kreuzung kommt. Der Junge neben mir tritt von einem Fuß auf den anderen, geht in Startposition. Er hat es eilig. Weißt du, wo die "Arche" ist? Er nickt. Kennst du die? Ja. Und was ist da? Die Kids-Küche. Gehst du auch dahin? Ja. Zum Essen? Ja, meine Ma bezahlt das. Aber für arme Kinder ist es umsonst und so viel, wie man will. Kevin ist auf dem Weg dorthin. Ich kann Sie mitnehmen, sagt er. Sie wollen bestimmt zum Pfarrer.Das Kinder- und Jugendzentrum der Evangelischen Freikirche hat nach mehreren Zwischenstationen nun eine ehemalige Grundschule bezogen. Die Suppenküche der "Arche" wurde vom Insidertipp mittlerweile zur festen Anlaufstelle für 100 bis 150 Kinder. Essen, spielen, Geselligkeit. Die Schule außer Dienst ist wieder ein Ort für Kinder. Sie dürfen toben, laut sein, Fragen stellen - das Team unter Pfarrer Bernd Siggelkow zeigt Geduld und Verständnis. Ab 13 Uhr herrscht Hochbetrieb. Andrea T. gibt das Essen aus. Heiße Würstchen, Brötchen, Gurkensalat, Hühnersuppe. "Habt ihr schon gebetet?" Keine Antwort. "Ich warte auf einen, der betet. Freiwillige vor." Keine Reaktion. Alle kichern, gucken weg, zappeln. Sie haben Hunger. Ein Mitarbeiter erbarmt sich und betet vor. Amen. Im Speiseraum der übliche Vorgang: Tasche und Jacke hinschmeißen, Schubsen, Drängeln, Neckereien. Wer hier ein Bild des Elends erwartet, wird enttäuscht. Armut sieht heute nicht mehr ärmlich aus und Not wird nicht erzählt. Andrea T. erkennt den Mangel an Kleinigkeiten: ein immer gleicher Pullover oder dunkle Schatten um die Augen herum. Sie ist selbst Sozialhilfeempfängerin, "da weiß man doch, wie´s aussieht". Sie hilft hier, "weil es gut ist, gebraucht zu werden." Manche Kinder holen sich zwei- oder dreimal Nachschlag. Für viele ist es die erste Mahlzeit am Tag, bei manchen die einzige. Nach vier, fünf Stunden Unterricht und mit einem langen Nachmittag vor sich, wird die "Arche" zum Mittelpunkt des Tages für Kinder wie David und Fabian. Zu Hause ist oft kein Zuhause. Daniel kommt "fast immer, weil es Essen gibt und weil man hier spielen kann". Fabian nickt zustimmend. Seine Mutter arbeitet bis spät und hat einfach keine Zeit. Es kommt schon mal vor, dass er ihr Essen von hier auf die Arbeit bringt.Auch Jenny gehört zu den regelmäßigen Gästen. Sie zieht sich gern in ruhige Ecken zurück und denkt sich Geschichten aus. Liebesgeschichten, in denen alles gut geht. Wo alles leicht und freundlich ist. Vater, Mutter, Kinder - alle zusammen. Sie machen Urlaub oder gehen gemeinsam ins Kino. Und bei Klassenreisen kann sie immer mitfahren. Und alles ist ganz schön. Jenny ist elf Jahre, hat noch drei Geschwister, ihre Mutter ist arbeitslos. Zu fünft leben sie von Arbeitslosenhilfe und einem Zuschuss vom Sozialamt. "Zum Leben zu viel, zum Sterben zu wenig." Sylvia N., Jennys Mutter, stellt es einfach nur fest. Im November vor einem Jahr ging ihre Firma pleite. Nach nur drei Monaten Arbeit als Alten- und Krankenpflegerin rutschte sie gleich in die Arbeitslosenhilfe. Nach unten geht es rasend schnell. Nun besucht sie einen Lehrgang: Computer, Bewerbungsschreiben, Training für Vorstellungsgespräche. Eine Antwort auf ihre Bewerbungen gab es bisher nicht. Sie würde gern wieder arbeiten. Ihre Kinder brauchen neue Sachen, immer mal Geld für Eintritt und Fahrkosten bei Wandertagen. Klassenfahrten reißen Löcher ins Budget. Der erste Antrag auf Unterstützung beim Sozialamt war ihr "ganz unangenehm, jetzt nimmer". Gut, dass die Kinder in die "Arche" gehen. "Jeden Tag kochen, das geht nicht. Wo soll ich das Geld hernehmen, bei 600 Euro?" Ihre Stimme ist hart geworden. Um über die Runden zu kommen, müsste sie gleich zwei oder drei der gerühmten Minijobs aus dem Hartz-Maßnahmen annhemen. Nein, sie hat keine Erwartungen mehr an die Politik. "Wenn ich dort oben wär´, ich wüsst´ schon, was ich mache." Es klingt wie eine Drohung. Aber keiner macht sie wahr."Natürlich denkt man nach, wie das weiter geht." Bernd Siggelkow erlebt, welche Folgen das Kürzen und Streichen des Berliner Senats hat: Kindergärten werden aus Kostengründen abgestoßen, Lehrerstellen gestrichen, Kultur und soziale Projekte fallen weg. Haushaltssperre. Der Großbezirk Marzahn-Hellersdorf, mit sozialen Brennpunkten wie in Kreuzberg oder im Wedding, darf keinen Cent mehr ausgeben als im Vorjahr. "Ein schwerer Schlag", der genau die Menschen trifft, die zunehmend auf jede Hilfe angewiesen sind. Der Pfarrer weiß, wovon er redet und er weiß auch "wo kein Kläger ist, ist kein Richter". Die kürzlich prognostizierte Arbeitslosenquote von zehn Prozent bundesweit wird um Hellersdorf keinen Bogen schlagen. Schon jetzt hat der Stadtteil eine Arbeitslosenquote von 17,4 Prozent, Sozialhilfeempfänger sind 5,4 Prozent der Hellersdorfer. Fast die Hälfte von ihnen hat Kinder unter 18 Jahren. Alleinerziehend sind 29 Prozent aller Sozialhilfehaushalte. Jedes vierte Hellersdorfer Kind unter sechs Jahren ist auf Sozialhilfe angewiesen. Hauptursache ist fast immer Arbeitslosigkeit. Soziale Armut kriecht von den Rändern zur Mitte. Indikator für die familiären und gesellschaftlichen Defizite sind die Kinder. In Hellersdorf sind in der Altersgruppe von 18 bis 27 Jahren bereits zwei Drittel Empfänger von Sozialhilfe. Die Falle ist zugeschnappt. Armut vererbt sich.Kinder - von Politikern immer mal wieder als "Zukunft der Gesellschaft" beschworen - werden als Gefühlsappell für Kampagnen benutzt oder als menschelndes Beiwerk für die Selbstdarstellung. Polit-PR.Aber die Zukunft hat Hunger. Darüber redet doch keiner von denen, "wenn es in unserer reichen Gesellschaft Kindern schlecht geht. Ganz schlecht." Bernd Siggelkow hat diesem Zustand seinen persönlichen Kampf angesagt. Das Projekt "Arche" ist sein Projekt Hoffnung. Doch ohne fremde Hilfe geht es nicht. Alles wird aus Spenden finanziert. Für seine Tätigkeit wurde aus dem Topf des Jugendaufbauwerkes Ost beim Bezirksamt eine Stelle geschaffen. Beantragt ist eine weitere, aber es gab bisher keine Zusage. Schade, denn bei soviel freiwilliger Hilfe der circa 20 Mitarbeiter für den Stadtbezirk wäre eine zweite Stelle dringend nötig. Mit einigen festen Spenden, unter anderem von der Stiftung Aktion Mensch, steuert die "Arche" durch das Jahr. Die Einrichtung des Büros sieht nach milden Gaben aus. Während des Gesprächs mit Pfarrer Siggelkow kommen zwei großzügige Spender aus Berlin-Frohnau vorbei. Tausend Euro für die armen Kinder von Hellersdorf. Der Pfarrer, der mal Einzelhandelskaufmann gelernt hat, freut sich. Eine Rücklage, vielleicht für ein Feriencamp oder für eine Straßenaktion. Auf jeden Fall ein Schrittchen weiter. So geht das seit der Gründung des Vereins 1997. Mit dem täglichen Mittagessen vor zwei Jahren nahm das Interesse deutlich zu. Auf die Idee für das in Berlin einzigartige Projekt kam Bernd Siggelkow endgültig nach einer Umfrage unter 280 Hellersdorfer Schülern. Danach erhalten 35 Prozent der Befragten nur zweimal in der Woche eine warme Mahlzeit. "Die Ernährungssituation vieler Kinder und Jugendlicher ist ernst bis dramatisch." Bernd Siggelkow kommt 1991 das erste Mal nach Hellerdorf. Ein Jahr später zieht er mit Kind und Kegel vom Schwarzwald nach Berlin, weil er glaubt, "hier gebraucht zu werden". Sein Vorhaben, in Hellersdorf - "alles nur Atheisten hier" - eine moderne Kirche aufzubauen, scheitert. Dafür lernt er den Osten kennen, "den Preis der Einheit": Arbeitslosigkeit, Verlockungen, Versprechungen, existentielle Unsicherheit, soziale Brüche in den Familien. Damit hat der Pfarrer es nun zu tun. Von Chancen und Karrieren liest er in der Zeitung: Zum Beispiel, dass Hellersdorf nach Zehlendorf und Wilmersdorf den dritten Platz beim Familieneinkommen belegt, statistisch gesehen. Darauf darf man nicht reinfallen, warnt Bernd Siggelkow. Entscheidend ist - natürlich - das pro-Kopf-Einkommen, also ob zwei oder fünf Personen von 1.600 Euro leben. Die einen kommen zur Weihnachtsfeier in die "Arche". Die anderen spenden dafür. Achja, Weihnachten. Sabine V. starrt die Kunstblumen auf dem Fensterbrett an. Draußen schneit es leicht. Wenigstens etwas. Sie hat aufgehört, zu lange nachzudenken. Da kommt nur das heulende Elend. Es ist, wie es ist. "Ich hab schon alles da. Ich kann es Ihnen mal zeigen." In dem Schrank mit Giebeldach liegen die Sachen für Tina und Thomas. Sabine V. zählt alles auf. Sie klingt zufrieden. "Der Kleine kriegt einen Rucksack für zehn Euro, ein Sternzeichenhandtuch, vier Euro, und das Puzzle. Das war ein Sonderangebot, nur fünf Euro." Mädchen sind teurer. Die Fünfzehnjährige bekommt auch ein Handtuch mit Sternzeichen, "das geht ja. Aber die Turnschuhe, fünfzig Euro! Zum Glück kann ich die bis April abzahlen. Und hier ist ein Gutschein für Dessous, zwanzig Euro." Ende. Mehr geht nicht. Nun muss sie noch den Baum kaufen, Süßigkeiten für den bunten Teller. Obst? Das wird alles so teuer. "Aber zwei Äpfel, zwei Apfelsinen, die hol´ ich schon." Dann werden sie noch schön essen. "Braten, Klöße, Rotkohl. Ente oder Gans, das kann ich mir nicht leisten. Das geht nicht." Ja, so sei das eben. Bunte Wünsche, vielleicht sogar ein bisschen unnütz, fallen ihr auf die Schnelle nicht ein. Oder doch: Eine Woche Ostseeurlaub mit den Kindern oder mal etwas Neues für sie zum Anziehen. Die Wünsche sind ihr ausgegangen: Zu viele Male nein gesagt, ständige Preisvergleiche, mühevolle Ratenzahlungen, Einkaufen mit abgezählten Cents. Irgendwann hat Sabine V. von der Suppenküche für arme Kinder gehört. Nun geht wenigstens der Kleine dort essen. Der Begriff schreckt sie nicht mehr. Ihre Kinder werden damit aufwachsen.*Namen der Mütter und Kinder geändertSpenden für das Projekt an: Kto-Nr.: 1527444, Sparda-Bank Berlin eG, BLZ: 12096597
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