Gedichte seien Forschungsreisen in das Verborgene, behauptete Ulrike Draesner einst in ihrem Essay Atem, Puls, Bahn. Seit ihrem Lyrikdebüt Gedächtnisschleifen (1995) spürt diese Autorin in zahlreichen Gedichtbänden, Romanen, Erzählungen und Essays dem Unsichtbaren und Unbemerkten nach. Mit unverkennbarer sprachlicher Energie kreist sie ihre Themen ein: Liebesversuche, scheiternde Paarbeziehungen, Verlust und Tod, Kindheit und Prägung durch traditionelle Geschlechterrollen in der Familie, körperliche und psychische Gewalt in verschiedenen sozialen Milieus, Machtverhältnisse, aber auch die Veränderung menschlicher Erlebnis- und Wahrnehmungsfähigkeit im Zeitalter digitaler Medien, genetischer Forschungen und biotechnischer Verfahren.
Selten geh
Selten geht eine Lyrikerin zu den neuesten Entwicklungen und deren Perversionen so sehr auf Distanz wie die promovierte Linguistin, die ihre Stelle als wissenschaftliche Assistenin an der Universität München aufgab, um sich ganz dem kreativen Schreiben zu widmen. Nach anfänglich tastenden Sprachbewegungen, die ihr als stilistische Unentschiedenheit ausgelegt wurden, hat sie rasch lyrische Formen gefunden, die Empfindungsströme rekonstruieren und bündeln. In den Lyrikbänden für die nacht geheuerte zellen (2001) und kugelblitz (2005) folgt die Sprache in wortschöpferischen Wirbeln einem wuchernden Nichts durch kafkaesk anmutende Räume. In einer Erzählung aus dem vor neun Jahren erschienenen Prosaband Reisen unter den Augenlidern bewegt sich eine Reisegruppe durch ein absurdes "Krüppelheim" der Einsamkeit und Zerstörung. In ihrem neuen Gedichtband berührte orte entwirft die Autorin einen ganz neuen, anderen und eigenen Typus des Reisegedichts, der sich sowohl von Fantasiewelten unterscheidet als auch von der üblichen Reiselyrik, die flüchtige Eindrücke des Touristen in Verse presst. Glichen die Reisen unter den Augenlidern noch Horrortrips und Albträumen, bricht Ulrike Draesner in berührte orte zum Verborgenen anderer Kontinente auf: offen, spielerisch, begabt mit allen Sinnen und in einem permanenten Austausch zwischen Außen- und Innenwelt. Obwohl der Titel: berührte orte bescheiden klingt, haben die Gedichte mehr als nur flüchtige Berührungen zu bieten. Aus der 1962 in München geborene Autorin, die heute in Berlin lebt, ist längst eine Weltbürgerin geworden. Hier bricht ein sich permanent wandelndes lyrisches Ich zu einer Odyssee auf, um Unentdecktes in sich selbst und einer fremden Welt zu erfahren. Ausgangspunkt ist eine im einleitenden Gedicht benannte Depression: "eine woche, stumm". Der Prolog enthält Programmatisches. Vom Fensterbrett davonfliegen wie ein Vogel? Oder dem "krautfarbenen sturm", dem "pillenfarn" folgen, der an die Faustsche Versuchung durch die todbringende Phiole erinnert? Die Protagonistin verwirft die letzte, die verzweifelte Konsequenz. Der Tag bricht an und Licht und Geräusche beginnen den Raum zu füllen. "Die liebende stimme: das hündchen" hält sie in der Menschenwelt. Von Hunden, die an Goethes teuflischen Pudel gemahnen und sich doch von ihm unterscheiden, ist in diesem Lyrikband gleich mehrmals die Rede.Erst einmal aber bricht die Ich-Figur zur großen Reise zu sich selbst auf. Das Selbst kann sie nur in der Konfrontation mit dem Anderen, Fremden erfahren. Ein Kapitel führt nach Indien. Der fremde und unbekannte Raum verändert die Wahrnehmung des sprechenden Ich, ein freier, sinnlicher Ton zieht in die Gedichte ein. Gleichzeitig wächst die Sensibilität der Reisenden für Konflikte. Die Gedichte sind voller Beobachtungen vom Straßenrand her, sie bersten fast vor Gerüchen und Geräuschen. Grotesk die Kinderarbeit in der Fischfabrik, absurd der billige Tand in den Andenkenläden zwischen Abfallhaufen und Werbetafeln. Das erste Kapitel mit der auf den Wortwitz der Alliteration bauenden Überschrift nur kamele kauen kakteen und das fünfte: damaskus, manöver führen durch arabische Länder. Marokkanische Städte wie Fes, Casablanca und Tanger, die syrische Haupstadt Damaskus, aber auch die Dörfer der Gebirgsketten und Passstraßen werden zu Schauplätzen der Welt- und Ich-Erfahrung.Ulrike Draesner bedient sich einer rhythmischen Sprache voller Klangassoziationen und Wort-Erfindungen, die getränkt ist von Milieus, uralten religiösen Riten und kulturellen Überlieferungen. In einer merkwürdigen Kombination aus Abstraktem und Gegenständlichem, einem Kaleidoskop von Sinneseindrücken, wird das Ich gleichsam durchlässig für Landschaften, Pflanzen, Tiere, Dinge, Temperaturen. Es öffnet sich menschlichen Begegnungen, nimmt die Eigenarten des Gerbers, der die Haut der Schafe bearbeitet, ebenso wahr wie die der vermummten Frau, die in sindbads ohr eine Satellitenschüssel auf dem Balkon installiert. Alte Bräuche und religiöse Vorstellungen und Praktiken mischen sich mit profanen Dingen auf den Elektromärkten der Neuzeit. Die barfuß im Sand kickenden Jungen könnten auch an anderen Meeresstränden ihr Spiel treiben, ebenso die Jugendlichen, die einen Hund zu Tode quälen, indem sie ihn immer wieder ins Meer zurückstoßen. Da ist er wieder: der Hund, eines der Panier-Tiere der Ulrike Draesner. Was in der Erzählung Hot Dogs (2004) als modischer Kampfhund vermarktet wurde, wird hier im eiskalten Atlantik ertränkt - ein anderes, sehr böses Spiel. Ulrike Draesner spricht die Worte Brutalität, Gefühllosigkeit oder Gewalt nicht aus. Sie beschreibt Szenen, die für sich sprechen. Sie benennt den Vorgang und das Versagen des Zuschauers: "ich stand / fern, ich ging nicht hin / ich schäme mich." Die Identität des lyrischen Ich verwandelt sich, wird zum Du, zu einer anderen menschlichen Figur, zum arglosen Tier oder zum Leser, den das Gedicht zum Mitwisser macht. Einmal fliegen Steine gegen einen Zug; wir sind mitten im Manöver. Die Szene mit dem zu Tode gefolterten Hund könnte überall auf der Welt spielen - dort wo Menschen zu bloßen Zuschauern von Gewalttaten werden.Fast heiter und gelöst wirkt da das zweite Kapitel "revontulet", durchflutet von norwegischem und finnischem Licht. Im dänischen Exil kommen "BB" und "RB"zu Wort, die an Bertold Brecht und Ruth Berlau erinnern und dennoch fiktive Personen bleiben. Draesners erfundene Rollenrede ist kühn und wirkt doch melancholisch gelassen und selbstverständlich im Sprachgestus. Die Montagetechnik der Dichterin verbindet Handlungselemente, wörtliche Rede, Traumbilder und die surrealistisch anmutende Präsenz zeittypischer Dinge nahtlos miteinander. Wortschöpfungen zu so noch nie benannten Situationen und Empfindungen bevölkern ihre Verse. Erfährt die Reisende, was die Welt im Innersten zusammenhält? "Wie unsere gesten verlässlich / weltweit: das lächeln, die grundideen" heißt es im Damaskus-Kapitel und: "wir / winkeln die hände dabei / nur auf unterschiedliche weise an."Ulrike Draesner berührte orte. Gedichte. Luchterhand Literaturverlag, München 2008, 180 S., 16,00 EUR
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