darf ich meine Erwiderung auf Ihren Offenen Brief an mich - die sie Ihren Lesern sicher auch nicht vorenthalten werden - damit beginnen, daß ich mir zunächst vor Verwunderung sprichwörtlich die Augen gerieben habe? Ich kenne und schätze Sie als einen Mann des Wortes, einen Publizisten, der das Wort zu wählen und zu wägen weiß. Und dann diese wütende Fehlinterpretation eines Satzes von mir.
Vergewissern wir uns des Anlasses: In meiner Geburtstagslaudatio für Wolfgang Ullmann, zu der man mich nicht lange bitten mußte, hatte ich seinen Freitag-Leitartikel »Passionsgeschichte« zum Ausgangspunkt einiger ihn charakterisierender Betrachtungen genommen. Ullmann zeigt sich darin als entschiedener Kritiker der Nato-Lu
rakterisierender Betrachtungen genommen. Ullmann zeigt sich darin als entschiedener Kritiker der Nato-Luftangriffe auf Jugoslawien. Ich habe seine damalige Haltung so nicht geteilt, aber ich fand sie in hohem Maße respektabel, auch deswegen, weil ich selbst den Vollzug der Bombardements für eine »ultima ratio« hielt, in die sich Europäer wie Nato durch politische und diplomatische Versäumnisse der voraufgegangenen Jahre selbst manövriert hatten. Ich teilte und teile die Auffassung Erhard Epplers, wahrlich keines Kriegstreibers: Wenn wir nicht eingreifen, machen wir uns schuldig, im anderen Falle auch.Zu Ullmann schrieb ich: »Er ist weit davon entfernt, in den Chor derer einzustimmen, die durch ihre massive Kritik an den Nato-Bombardements ihr jämmerliches Stillschweigen zu MilosŠevic´s ethnischer Vertreibungs- und Mordpolitik zu kaschieren versuchen. Ich wüßte nicht, was ich an diesem Satz zurückzunehmen hätte. Noch weniger kann ich begreifen, daß Sie sich darin persönlich angesprochen fühlen. Ich habe nicht jeden Ihrer Kommentare gelesen. Ihr »Offener Brief« zumindest läßt keinen Zweifel daran, was Sie von Serbiens Staatslenker und seiner mörderischen Politik halten. Wenn deutsche Sprache noch irgendeinen Sinn macht und als Grundlage für unsere Verständigung dienen soll und kann, dann läßt der inkriminierte Satz nur eine Deutung zu: Ich unterscheide den Nato-Kritiker Ullmann positiv von Kritikern und Kommentatoren, die zu MilosŠevic´s Mordpolitik jämmerlich geschwiegen haben. Nicht mehr und nicht weniger.Nochmals: Ich unterscheide zwischen nachvollziehbarer, respektabler und - aus meiner Sicht - inakzeptabler Kritik. Wollen Sie bestreiten, daß es letztere gegeben hat? Ich könnte Ihnen genügend Kommentare und politische Resolutionen zeigen, in denen nach einer knappen, windelweichen Distanzierung von der serbischen Politik in einem Satz oder Halbsatz 95 Prozent des Textes auf die Geißelung der Nato-Politik bzw. der Politik der Bundesregierung verwendet wurden.Es ist jedoch absurd und eine bösartige Falschinterpretation des zitierten Satzes, daraus eine »Gleichsetzung der kritischen Warner mit Leuten, die ›jämmerlich stillschweigen‹«, ja sogar eine »pauschale Diffamierung der Kriegsgegner« zu machen und mir dies vorzuwerfen. Und Sie nehmen diese Falsch interpretation zum Anlaß einer bösen Polemik gegen mich (»Beleidigung«, »Mangel an Erfahrung in politischer Gewöhnlichkeit«, »aller ge wöhnlichste Politik«, »übliche Unverfrorenheit«, »ablenkende Stimmungsmache«), die ich für eine Einladung zu einem freundschaftlichen Gespräch nicht halten kann.Werter Herr Gaus, mich treibt die Frage um, wie es dazu kommen konnte, daß Sie mein präziser, differenzierender Satz derartig in Rage gebracht hat. Irgend etwas hat er wohl doch in Ihnen angesprochen. Da Sie mich zum »begründeten Widerspruch« in der Sache aufgefordert haben, will ich Ihnen diesen nicht schuldig bleiben. Wer mich in Debatten über den Kosovo-Krieg erlebt hat, konnte feststellen, daß meine Zustimmung zur Politik der deutschen Bundesregierung eine Entscheidung auf der Grundlage einer inneren Zerrissenheit war, die ein klares Ja oder Nein, Schwarz oder Weiß in dieser Angelegenheit nicht kannte. Ullmanns Intervention (mit anderem Ergebnis) schätze ich gerade deswegen, weil ich erkennen kann, daß ihn die gleichen Fragen quälen.Ihren Offenen Brief lese ich - ich sage das mit Bedauern - anders, mit Befremden besonders folgende Passage: »Keine Begleiterscheinungen von Kriegen fehlten: Morde auf beiden Seiten. Die jeweils Stärkeren morden in der Regel mehr Menschen als die Schwächeren ... inhaltlich steht auf beiden Seiten des Blattes dasselbe. Das ganze ist übrigens keine balkanische Spezialität.« Sie kennzeichnen das sogar als eine »Feststellung, die nach meiner Kenntnis sachlich ist«. Mit Verlaub: Mir graut vor dieser »Sachlichkeit«. Mit anderen Worten heißt das oder könnte doch heißen: Krieg ist überall ein schmutziges Geschäft, gemordet wird auf allen Seiten, von den Stärkeren halt immer etwas mehr als von den Schwachen. Uns geht es nichts an, wir schauen zu, sollen sie sich nur gegenseitig massakrieren (in Kambodscha, in Somalia, in Uganda, auf dem Balkan oder sonstwo). In dieser Nacht sind alle Katzen grau. Es gibt keine Fragen nach Ursachen, Gründen und Wirkungen. Mit einer derartigen Haltung hätten sich die USA aus dem ersten und zweiten Weltkrieg heraushalten müssen, hätte Vietnam dem Völkermord im Nachbarland Kambodscha nur zuschauen dürfen, hätten OSZE und Europäer die ethnische Aufteilung Bosnien-Herzegowinas zwischen Serbien und Kroatien stumm erdulden müssen.Zur Klarstellung: Ich halte kein Plädoyer für Nato-Eingreifen ohne UN-Mandat in jedem Krisengebiet. Aber ich plädiere für die Arbeit an der Beendigung einer Weltordnung der »Nichteinmischung in innere Angelegenheiten« im Sinne (nicht nur) der Breschnew-Doktrin, in der der Osten den Vereinigten Staaten ihr Chile, Nicaragua, El Salvador usw. vorhielt und der Westen mit dem Hinweis auf Ungarn, CSSR und Afghanistan konterte und umgekehrt. Die Instrumente einer neuen, die Universalität von Menschenrechten akzeptierenden Weltordnung jenseits der alten bipolaren Ordnung sind noch nicht entwickelt. Aber ich bin dafür, sie zu entwickeln und auch in unseren Köpfen dafür zu sorgen, daß die entgegenstehenden Schranken abgebaut werden.Zu dieser m. E. zu überwindenden Bipolarität gehört nämlich auch die in unserem Denken. So wenig, wie ich mit denjenigen in einen Topf geworfen werden möchte (die es auch gibt), die über die Probleme auf dem Balkan die Legitimation für eine faktische Weltpolizistenrolle der Nato anstreben, so verwahren Sie sich zu Recht davor, mit Rechtfertigern oder Verharmlosern der serbischen Politik identifiziert zu werden.Aber dann müßte es auch in Ihrem ureigenen Interesse liegen, daß die Ursachen der Kosovo-Krise klar benannt werden. Wenn ich die klugen Berichte Ihres Balkan-Korrespondenten lese, dann kann wohl kein Zweifel daran bestehen, daß die Verantwortung für die Eskalation von Mord und systematischer Vertreibung von Hunderttausenden Kosovo-Albanern bei der serbischen Führung liegt. Einzufordern, daß diese schlichte Tatsache zum Ausgangspunkt jedweder durchaus streitigen Auseinandersetzung um eine deutsche oder europäische Balkan-Politik gemacht wird, halte ich für alles andere, aber nicht für das Aufstellen von »Geßler-Hüten«, wie Sie es mir vorwerfen. Es geht mir um den Vorrang von Wahrhaftigkeit vor Parteilichkeit.Sollten Sie es immer noch für angebracht und wünschenswert halten, stehe ich für das in Aussicht genommene persönliche Gespräch weiterhin gerne zur Verfügung.Mit freundlichen GrüßenIhr Wolfgang Thierse
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