Die neuen Sicherheits- und Überwachungsmaßnahmen, die nach den Anschlägen in New York und Washington beschlossen oder angekündigt wurden, werfen die Frage auf, ob wirklich ein Einschnitt im staatlichen Sicherheitsdenken erfolgt. Es könnte ja auch sein, dass die Maßnahmen unseren Blick auf die Kontinuität verschärfter Überwachung im "Informationszeitalter" verstellen. Datenvernetzung scheint sowohl auf nationaler wie auf EU-, ja auf transatlantischer Ebene das jetzt gesuchte und gefundene Allheilmittel zu sein. Aber dann würden die neuen Maßnahmen nur einen Prozess beschleunigen, der ohnehin stattfindet. Vieles, was der Staat bisher nur im Geheimen tun konnte, kann nunmehr - weil er glaubt, die Öffentlichkeit unterstütze ihn -
Overkill der Daten
ÜBERWACHUNGSSYSTEME IN DER EUROPÄISCHEN UNION Betroffen waren bisher unerwünschte Ausländer und politische Aktivisten - warum sollte es in Zukunft anders sein?
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n - offizielle Politik werden. Der folgende Überblick spricht stark für die Kontinuitäts-These. Seit Jahren schon zieht sich das Netz um die Privatsphäre enger: Verschiedene Überwachungssysteme bedrohen den Bürger mit flächendeckender Kontrolle in allen Lebensbereichen, weltweit und "in Echtzeit". Die technische Komplexität der Materie und die Verdunklungstaktiken von Polizei und Geheimdiensten machen Volksvertreter zu hilflosen Zuschauern.Das Schengener Abkommen von 1990 verbinden wir meist mit dem Wegfall der EU-internen Grenzkontrollen, doch diese Liberalität hat ihre Kehrseite in der Abschottung nach außen und dem Zusammenschluss der Polizei-Datenbanken. Das Schengen-Informationssystem besteht aus einer zentralen Datenbank in Straßburg und von den Mitgliedsländern gepflegten Datenbanken - die deutsche wird vom BKA in Wiesbaden unterhalten. Während das Schengener System selbst nur aus standardisierten Daten aufgebaut ist, wird es in den Länderdatenbanken durch SIRENE ergänzt. Die hier gespeicherten "weichen" Daten können alle möglichen Informationen beinhalten und sollen bei Bedarf binnen weniger Stunden EU-intern verfügbar sein.Erklärter Zweck ist Verbrechensvorbeugung, mit anderen Worten: Daten können auch ohne jeden Verdacht angefordert werden. In der Praxis zeigte sich, dass sich Schengener System und SIRENE nicht, wie behauptet, im Kampf gegen das organisierte, international operierende Verbrechen bewähren, sondern hauptsächlich als Instrumente für die Einreiseverweigerung unerwünschter Ausländer.Für SIRENE gibt es keine Datenschutzregelungen; was mit den Daten geschieht, ist Sache der angeschlossenen Länder, die eine sehr unterschiedliche Datenschutzkultur pflegen. Das ist zwar beim Schengener System anders, doch besteht die Gefahr des Missbrauchs durch privilegierte Super-User, die Daten verändern können, ohne Spuren zu hinterlassen.Ein geheimes "Seminar" zur Überwachung digitaler NetzeMit der vollständigen Integration des Schengen-Informationssystems in die EU-Strukturen, die auch Großbritannien, Irland und - durch Kooperationsverträge - die Schweiz einschließen, "ist ein einheitlicher europäischer Fahndungsraum mit einheitlichen für alle Polizeien zugänglichen Fahndungsdaten in unmittelbare Nähe gerückt", meldet stolz das BKA auf seiner Website.Spielen sich diese Vorgänge auf einer politisch-öffentlichen Ebene ab, so ist die Etablierung der Standards zur Überwachung digitaler Netze durch große Geheimniskrämerei gekennzeichnet. 1993 lud das FBI, unterstützt durch den US-Geheimdienst NSA, 19 Industrieländer zum International Law Enforcement Telecommunications Seminar in seine Akademie in Quantico, Virginia. Ziel des "Seminars" war die Festlegung politischer und technischer Standards für die Überwachung digitaler Netze, etwa von modernen Mobiltelefonen. 1994 hatte man sich auf die Anforderungen (International User Requirements) geeinigt: Der Zugriff sollte in Echtzeit rund um die Uhr erfolgen; Lauschangriffe sollten über Landesgrenzen hinweg möglich sein; später wurde ergänzt, dass die Überwachungsschnittstellen in die Standards der zuständigen Normierungsinstitutionen aufgenommen werden sollten, damit Netzanlagen ohne Abhörschnittstelle künftig nicht mehr zugelassen werden.Seit 1994 gingen diese Anforderungen in viele Gesetze ein, in den USA wie in den meisten EU-Ländern. In der EU selbst wurden sie auf besonders abenteuerlichem Weg gesetzesreif gemacht: Im Januar 1995 verabschiedete man sie als Papier der Kommission für Polizeiangelegenheiten Enfopol im abgekürzten "schriftlichen Verfahren" durch den Fischerei-Ausschuss; das Parlament wurde nicht befragt.1998 wandten sich die zuständigen Polizei- und Geheimdienstfachleute, Politiker und Techniker des "Seminars" den technischen und politischen Problemen zu, die sich durch die Ausweitung seiner Anforderungen auf Internet und Satellitenkommunikation stellten. Im November 1998 erlitten sie dabei einen schweren Rückschlag: die aktualisierten Anforderungen, Enfopol 98, wurde durch die Fachzeitschrift Telepolis veröffentlicht. Bis dahin waren alle Aktivitäten und Dokumente des "Seminars" verborgen geblieben, obwohl die Organisation de facto als internationales Standardisierungsinstitut arbeitete.Das Werk des "Seminars" wird in Europa unter dem Dach des European Telecom Standards Institute fortgesetzt; vor allem britische, holländische und deutsche Behördenvertreter und Fachleute arbeiten hier an der Standardisierung und Perfektionierung von Überwachungstechniken. Wichtigste Errungenschaft ist der Standard ES 201 671, eine technische Umsetzung jener Anforderungen. Dieser Standard ermöglicht gleichzeitige Abhöraktivitäten mehrerer überwachender Dienste, ohne dass diese einander bemerken - eine Eigenschaft, die nur für geheimdienstliche Arbeit einen Sinn ergibt.Nach der Panne von 1998 wurden die aktualisierten Anforderungen als knapper Forderungskatalog Enfopol 19/91 verabschiedet, dessen technische Details der EU-Rat nicht erfuhr - das Parlament übergingen die Fachleute des "Seminars" ohnehin. Die geplanten Zugriffsmöglichkeiten auf Internet-Kommunikation sind sehr weitreichend; so sollen Zugangs- und Contentprovider gleichzeitig belauscht werden. Durch das EU-Rechtshilfeübereinkommen vom Mai 2000 kann von diesen Möglichkeiten auch ausgiebig Gebrauch gemacht werden - Observierte dürfen im Ausland zwölf Tage ohne Gerichtsbeschluss abgehört werden.Ähnlich wie das "Seminar" arbeiten die zuständigen Arbeitsgruppen des European Telecom Standards Institute im Verborgenen und halten ihre Papiere streng unter Verschluss. Die zuletzt stark angewachsene Medienaufmerksamkeit scheint hier zu internen Verunsicherungen und Differenzen zu führen. Die geheimen Papiere sind auf cryptome.org publiziert.Unter den zahlreichen weiteren Technologien, mit denen im großen Maßstab die Privatsphäre verletzt wird, ist vor allem das Mail- und Chatüberwachungssystem DCS1000 - besser bekannt als "Carnivore" (Fleischfresser) - hervorzuheben, welches vom FBI derzeit bei zahlreichen US-amerikanischen Zugangsprovidern installiert wird. Doch auch Unternehmen zeigen ein ungesundes Interesse an Daten ihrer Kunden. Software verbindet sich über das Internet unverlangt mit ihrem Hersteller und übermittelt Daten über das Nutzungsverhalten. Online-Detekteien bieten die Ermittlung von Kontostand, Telefonverbindungen und weiteren Informationen an. Heimlich am Arbeitsplatz installierte Computerprogramme zeichnen Eingaben auf und erfassen besuchte Webseiten oder Chats. Mobiltelefone und Autos mit Navigationssystemen ermöglichen die Ortung jeder Bewegung. Und selbst wer sich den Möglichkeiten digitaler Kommunikation entzieht, ist von der massiv angewachsenen Videoüberwachung an öffentlichen Plätzen betroffen. Mit Hilfe moderner Biometrie-Software, die in der Lage ist, Gesichter zu erkennen, rücken Alpträume von der totalen Überwachung einen Schritt näher.Wer kann die Informationsflut austrinken?Was die Überwachung digitaler Kommunikation so bedrohlich macht, sind vor allem zwei Umstände: zum einen können Informationen sehr schnell gesammelt und weiterverwertet werden, zum anderen lassen sich die Informationen im Zeitalter der Globalisierung über Ländergrenzen hinweg vernetzen. Durch die Integration der verschiedenen Überwachungssysteme und Datenbanken der EU lassen sich, wie der norwegische Rechtssoziologe Thomas Mathiesen (Die Globalisierung der Überwachung, Telepolis 20.6.2000) warnt, "die Konturen eines weitreichenden, zunehmend integrierten, multinationalen Registrier- und Überwachungssystems ausmachen, dessen Informationen sich mehr oder weniger frei zwischen den Subsystemen bewegen und große Bevölkerungsgruppen abdecken".Einen Vorgeschmack auf die praktischen Auswirkungen behördlicher Datenerhebung und -weitergabe haben Demonstranten von Genua und Göteborg bekommen. Gegen strafrechtlich unbescholtene politisch aktive Bürger wurden im Vorfeld Reiseverbote verhängt - eine der "vorbeugenden" Maßnahmen, mit denen Ausschreitungen verhindert werden sollten. Was die Betroffenen für diese Sonderbehandlung qualifiziert hat, ist ihnen meist selbst ein Rätsel. Polizei und Geheimdienste drohen derweil, unter der herbeigesehnten Informationsflut zusammenzubrechen. So wurde eine einschlägige Warnung des französischen und des ägyptischen Geheimdiensts im Vorfeld des New Yorker Terroranschlages ignoriert oder übersehen. Solange die westlichen Demokratien die Geheimdienste nicht auf das Format des DDR-Staatssicherheitsdienstes anwachsen lassen wollen, werden sich solche Pannen mit dem anwachsenden Informations-Overkill häufen. Nicht umsonst wurde die Exekutive für die Verbrechensbekämpfung, nicht für die Prävention geschaffen. Argumente gegen die Überwachung gibt es genug - allen voran ihre Erfolglosigkeit. Hauptbetroffene der Lauschmaßnahmen sind unerwünschte Ausländer und politische Aktivisten, die nicht in allen Demokratien gut gelitten sind. Wer aber wirklich etwas zu verbergen hat, wird kaum dumm genug sein, über unverschlüsselte E-Mails oder Handy-Telefonate verräterische Informationen auszutauschen. Hier gibt es effektivere Methoden wie Steganographie (in Bildern versteckte Nachrichten), die von keiner Überwachungstechnologie ohne gezielte Entschlüsselung gefunden werden.Herbert Braun ist Germanist und arbeitet zur Zeit als Internetredakteur.
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