Zwiespalt Berichte aus dem Dunklen: Kurt braucht Geld, um sich das Leben zu leisten, das er seiner Frau bieten will. Doch dann wehrt sich ein Kassierer. Teil 5 der Freitag-Serie
Es ist ein trüber, feucht-kalter Freitag im Januar 2004. Kurt steht gegen acht Uhr auf, trinkt eine Tasse Kaffee, raucht eine Zigarette und räumt die Wohnung auf. Er trägt Papier hinaus, das sich auf der Kommode im Flur angesammelt hat. Gleich wird die Müllabfuhr kommen und die blaue Tonne leeren. Er weiß nicht so recht, warum er überhaupt aufgestanden ist und sich in diesen leeren, sinnlosen Tag hineingequält hat. Seine Frau Nicole liegt noch im Bett.
Kurt ist seit dem letzten Herbst arbeitslos. Er ist gelernter Elektriker und hat lange Jahre bei einer Aufzugsfirma gearbeitet. Seit dem Sommer hat er keinen Lohn mehr erhalten, im Oktober meldete die Firma Konkurs an. Nicole nimmt halbherzig an einer Umschulung teil, die in einer rund 100 Kilometer entfernt
r entfernten Großstadt stattfindet. Heute scheint sie aber keine Lust zu haben. Vor drei Jahren haben sie geheiratet und ein paar größere Anschaffungen gemacht. Seit er keinen regelmäßigen Lohn mehr bekommt, sind sie mit den Ratenzahlungen hinterher und müssen jeden Cent drei Mal umdrehen. Nicole reitet gern und teilt sich mit zwei Freundinnen ein Pferd. Das kostet Geld, das sie kaum mehr aufbringen können. So kann es nicht weitergehen, immer häufiger streiten sie sich wegen Kleinigkeiten. Kurt hat Angst, Nicole zu verlieren, wenn sich nichts ändert. Manchmal wundert er sich, dass sie überhaupt mit einem wie ihm zusammen ist.Als Nicole später aufsteht, bemerkt sie, dass ein Umschlag mit Geld verschwunden ist, den sie im Flur neben dem Altpapier abgelegt hat. Das Geld im Umschlag war für die Monatskarte der Deutschen Bahn gedacht, mit der sie zur Umschulung fährt. Sie stellt Kurt zur Rede. Er muss diesen Umschlag versehentlich mit dem Altpapier hinausgetragen und in die Mülltonne geworfen haben. Er rennt auf die Straße, aber die Tonne ist bereits geleert. Nicole glaubt ihm nicht und unterstellt ihm, er habe das Geld an sich genommen, um es bei nächster Gelegenheit mit seinen Kumpels vom Fußball zu vertrinken. Er hat früher im Dorfverein gekickt, bis sich nach einem Arbeitsunfall eine schmerzhafte Arthrose entwickelte und er ein künstliches Hüftgelenk eingesetzt bekam. Seitdem ist seine aktive Laufbahn zu Ende, aber er gehört weiter zum Kreis der Mannschaft, vor allem in der dritten Halbzeit. Seit er arbeitslos ist und zu Hause meist schlechte Stimmung herrscht, betrinkt er sich öfter mit den Sportsfreunden im Vereinsheim. Manchmal schläft er dann im Auto, weil er so nicht nach Hause kommen mag.Die Ordnung des BaumarktsAus der Sache mit dem verschwundenen Geld entwickelt sich ein heftiger Streit, dem sich Kurt nicht gewachsen fühlt. Er mag keinen Streit. Er hat es nicht so mit der Sprache, die Anschuldigungen seiner Frau lassen ihn beinahe erstarren und verstummen. Er verlässt das Haus mit dem Versprechen, Geld aufzutreiben. Er geht zur Bank und bittet um einen kleinen Kredit. Die Bank verweist auf seinen Kontostand und weigert sich. Er fährt zu seiner Schwester, die in einer nahe gelegenen Kleinstadt wohnt. Es ist kaum noch Benzin im Tank, hoffentlich kann die Schwester ihm etwas Geld leihen. Sie halten zusammen im Geschwisterkreis. Sieben sind sie gewesen, ursprünglich, bis seine älteste Schwester von einem Zug erfasst und getötet wurde. Die Familie hört es nicht gern, aber es ist wohl ein Selbstmord gewesen. Als die Mutter das Leben mit ihrem trinkenden und prügelnden Mann nicht mehr ertrug, ließ sie sich scheiden. Die Kinder blieben bei ihr und die älteren halfen mit, die jüngeren groß zu ziehen. Kurt ist der Jüngste, er war damals acht Jahre alt.Die Schwester ist zu Hause, aber mehr als zehn Euro kann sie nicht erübrigen. Gegen Abend will er sich in der nächstgrößeren Stadt in einer Möbelfirma vorstellen und nach Arbeit fragen. Sein Schwager hat ihm erzählt, dass man dort einen Lagerarbeiter suche. Es wäre toll, wenn das klappen würde. Irgendwann muss ja auch Kurt mal wieder Glück haben, nachdem er in der letzten Zeit auf seine Bewerbungen nur Absagen erhalten hat. Er vertankt die zehn Euro und fährt 40 Kilometer in die Stadt. Er fragt sich zur Personalabteilung durch und erfährt, dass man die Stelle vor ein paar Tagen besetzt hat. Nichts zu machen.Es ist früher Abend, als Kurt die Möbelfirma wieder verlässt. Er fühlt sich elend, ihm ist zum Heulen zumute. Wie soll er am Ende dieses auf der ganzen Linie erfolglosen Tages seiner Frau unter die Augen treten? Soll er das Auto besteigen und gegen einen Baum fahren? Dann hätte sein freudloses Leben endlich ein Ende. In letzter Zeit hat er immer wieder mit dem Gedanken an Selbstmord gespielt. Oder, wie wäre es, wenn er eine Bank überfiele, seiner Frau das Geld in den Schoß legte und sich dann umbrächte? So etwas könnte er gar nicht. Bisher ist er anständig gewesen und hat mit Polizei und Justiz nur ein Mal zu tun gehabt. Mitte der neunziger Jahre hat er ein Fahrzeug benutzt, das nicht versichert war, und dafür eine Geldstrafe erhalten.Kurt muss Zeit gewinnen. Nicht weit von der Möbelfirma entfernt ist ein Baumarkt. Das ist seine Welt, er schlendert eine Weile durch die Gänge. Warum ist nicht alles so einfach wie ein Baumarkt? Er besteigt das Auto und fährt in Richtung Innenstadt. Er findet einen Parkplatz und stellt das Auto ab. Ziellos lässt er sich durch die bereits dunklen Straßen treiben. Er betrachtet die Auslagen der Schaufenster und betritt ein Kaufhaus. Kurz vor 20 Uhr fordert eine Durchsage die letzten Kunden zum Verlassen des Kaufhauses auf. Er steht auf der Straße und weiß nicht wohin und wie weiter. Er lässt sich von einem Aufzug in den höher gelegenen Teil der Stadt tragen und geht dort in der Altstadt auf und ab. Die Geschäfte haben inzwischen geschlossen, kein Mensch ist mehr unterwegs. Er will nicht nach Hause. Was soll er Nicole sagen? Hat sie sich wegen des verschwundenen Geldes inzwischen wieder beruhigt oder wird sie ihn mit neuen Vorwürfen überhäufen? Besser, er kommt erst nach Hause, wenn sie im Bett ist. Er fährt mit dem Aufzug wieder hinab und geht eine Straße entlang.Plötzlich steht er vor einem Sex-Shop. Er ist in einer christlich geprägten Umgebung aufgewachsen, da meidet man solche Läden. Einmal ist er in Begleitung seiner Frau, die in diesen Dingen aufgeschlossener ist, in einem solchen Geschäft gewesen. Er betritt den Shop und schaut sich die Hüllen von Videofilmen an. Ein älterer Mann führt die Aufsicht und räumt auf, bevor auch er für heute Schluss macht. Außer Kurt gibt es keine Kunden. Plötzlich kommt ihm der Gedanke: In der Kasse wird das Geld sein, das im Laufe des Tages eingenommen worden ist. Wie wäre es, wenn du dem alten Mann dein Messer an den Hals hältst und ihn zwingst, die Kasse aufzumachen? Dann kannst du nach Hause fahren und Nicole unter die Augen treten. Dann wärst du aus dem Gröbsten heraus.Ein Stich, ein KeuchenKurt tastet nach dem Klappmesser, das er als Handwerker immer in der Hosentasche mit sich führt. Nein, das kannst du nicht tun, kämpft er seinen Gedanken erst einmal nieder. Er steigt nach oben in den zweiten Stock und sieht sich dort um. Auch hier kein Kunde. So eine Gelegenheit bietet sich dir so schnell nicht wieder, geht der Disput in seinem Innern weiter. Er steigt die Treppe hinab. Der Mann steht hinter dem Tresen und sortiert Bücher in ein Regal. Jetzt oder nie, denkt Kurt, klappt das Messer auf, tritt auf den Mann zu und hält es ihm an den Hals: „Gib mir’s Geld!“ Der ältere Mann weicht ein wenig zurück und schlägt dann nach dem Arm, der das Messer hält. Kurt sticht zu, das Messer fährt dem Mann in der Herzgegend in die Brust. Er klettert über den Tresen und stürzt sich auf den am Boden liegenden Mann. Sie kämpfen miteinander. Zwei Mal sticht er noch zu. „Lass mich in Ruhe, ich mache Dir die Kasse auf“, keucht der schwer verletzte Mann. Kurt zieht ihn hoch, der Mann öffnet die Kasse. Kurt klaubt das Geld aus den Fächern und flieht. Aber durchtrennen Täter in Kriminalfilmen nicht immer noch das Telefonkabel? Also noch einmal kehrt und die Telefonleitung gekappt! Dann verlässt Kurt den Tatort und läuft zu seinem Auto. Er sinkt auf den Fahrersitz und zählt das Geld. Rund 500 Euro hat er erbeutet. Er bemerkt, dass ein Hosenbein blutverschmiert ist. Er holt eine Jogginghose aus dem Kofferraum und zieht sie über.Kurt weiß nicht, wie es weitergehen soll und fährt los. Plötzlich ist er auf der Autobahn Richtung Norden. Er fährt immer weiter durch die Nacht. Immer wieder flackert Panik auf. An einer Raststätte bei Hannover tankt er und trinkt einen Kaffee. Nur weiter. Gegen Morgen kommt er in Hamburg an. Er stellt das Auto ab und läuft über die Reeperbahn. Irgendwann betritt er einen Spielsalon und verliert einen großen Teil der Beute an Geldspielautomaten. Als die Geschäfte öffnen, kauft er sich neue Klamotten. Die blutverschmierte Kleidung vom Vortag wirft er in den Kofferraum. Er isst eine Currywurst und trinkt ein paar Weizenbiere.Dann ist er pleite.Kurt ist müde und legt sich im Auto schlafen. Als er erwacht, ist es beinahe schon wieder Abend. Wieder denkt er daran, seinem Leben ein Ende zu setzen. Er startet den Wagen und fährt Richtung Süden. Nach ein paar Kilometern denkt er: Das geht nicht, du hast etwas Schreckliches getan, du musst dich stellen. Er macht kehrt und stellt sich auf der Davidswache der Polizei. Am nächsten Morgen wird er zwischen Göttingen und Kassel der hessischen Polizei übergeben und an den Ort des Verbrechens gebracht. Dort erst teilen ihm die vernehmenden Polizisten mit, dass sein Opfer wenige Stunden nach der Tat im Krankenhaus verstorben ist. Unter dieser Nachricht bricht Kurt zusammen. Er hat das nicht gewollt, er kann nicht fassen, dass er einen Menschen getötet hat. Als drei Monate später seine Mutter an Herzversagen stirbt, hat er das Gefühl, auch sie getötet zu haben. Er glaubt, das Gewicht der doppelten Schuld nicht tragen zu können, und überlegt erneut, sich zu töten.Ein halbes Jahr später wird Kurt wegen Mordes zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt. Das Gericht geht davon aus, dass er mit bedingtem Vorsatz und aus Habgier gehandelt hat. Nach wie vor gelten der Strafjustiz die Beweggründe der Niedrigen als niedrige Beweggründe. Die Ehe zwischen Kurt und Nicole wird drei Jahre später geschieden. Sie ist inzwischen wieder verheiratet und hat mit ihrem jetzigen Mann ein Kind. Kurt hat sich inzwischen mit seiner Strafe arrangiert. Das Leben geht unter Gefängnisbedingungen weiter. Er arbeitet in der Elektroabteilung, absolviert ein Fernstudium und singt im Kirchenchor der Anstalt. Wenn alles gut läuft, kann Kurt um das Jahr 2020 herum aus der Haft entlassen werden. Er wäre dann 53 Jahre alt.
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