"Die Rechten sprechen betrügend, aber zu den Menschen; die Linken sprechen wahr, aber zu den Sachen." (Ernst Bloch, Erbschaft dieser Zeit)
Angesichts des seit Jahren grassierenden "Utopieverlusts" und der Dominanz von Thatchers TINA-Ideologie ("There Is No Alternative") ist das Aufzeigen und die Diskussion von konkreten Utopien ein höchst relevantes Unterfangen. Für Linke ist dies sogar eine strategische Notwendigkeit - selbst wenn die "Zeit" noch nicht reif ist.
Seit einiger Zeit jedoch steigt der Bedarf und die Nachfrage nach neuen Handlungsansätzen, wie in der wissenschaftlichen Zukunftsforschung deutlich wird. Das Dogma des "Weiter so" scheint brüchig zu werden. In einer unüberschaubar werdenden Vielfalt an Studien und Publikationen wird versucht, in der Zu
wird versucht, in der Zukunft Zielpunkte zu konstruieren, um Menschen (meist Entscheidungsträger) zu alternativem Handeln motivieren, um unterschiedliche Kräfte und neue Ressourcen zu mobilisieren, und um die Zielvorgabe zu erreichen oder ihnen zumindest näher zu kommen. Von einer allzu pragmatischen und einer allzu idealistischen Konzeption von Zukunft setzt sich ein Strang der Zukunftsforschung ab, der die Kontingenz gesellschaftlicher Entwicklung ernst nimmt und daher von Zukünften (so auch der Titel der größten deutschsprachigen Zeitschrift für Zukunftsforschung) spricht. Mit dem Plural kommt zum Ausdruck, dass jeweils mehrere Entwicklungsmöglichkeiten bestehen. Der jeweils sich durchsetzende "reale Kurs" ist abhängig von Machtstrukturen und den Ergebnissen der gesellschaftlichen Auseinandersetzungen. Innerhalb dieses Strangs von Zukunftsforschung wird häufig mit "wünschbaren Szenarien" gearbeitet, die auf der Basis wissenschaftlicher Erkenntnisse und Plausibilitätsüberlegungen, immer häufiger aber auch mittels diskursiver Prozesse und partizipativer Methoden entworfen werden. Dies hat nicht nur den Vorteil, eine größere Komplexität und einen umfangreicheren Erfahrungsschatz einbeziehen, sondern auch Handlungspotentiale und -bereitschaften abschätzen zu können.Vor diesem Hintergrund sind viele der bisherigen Beiträgen der Freitag-Serie interessant, doch mangelt es ihnen an mehreren Elementen, um wirklich anregend sein zu können. Ein Mangel bezieht sich auf die eingangs zitierte Beobachtung von Bloch: das Gros der Argumentationen verbleibt in akademisch-systemweltlichem Jargon und weist damit eine Art kommunikative Lücke auf zu den Menschen, die zur Umsetzung notwendig sind. Zwar handelt es sich um teilweise originelle, aber doch sehr segmentierte Ideen ohne sonderlich attraktive und mobilisierungsfähige Charakteristika (Interessen, Motive, Handlungsmöglichkeiten). Darüber hinaus verbleiben sie ohne hinreichende Bezugnahme auf Ressourcen und Umsetzungsstrategien ("wer soll das umsetzen - warum - und wie?") - und dies ist eine Art strategisch-praktische Lücke. Ein Beispiel ist der Vorschlag für die Abschaffung von Geld (Franz Schandl: "Die Welt sich vorstellen ohne Geld und Markt", Freitag 25 vom 11.06)), der eine radikale Option abstrakt ableitet und erörtert, aber selbst eingesteht, keine unmittelbaren oder mittelbaren Hinweise für konkrete Aktivitäten zu haben. Daher endet der Beitrag lediglich appellativ: "Die Leute müssen aufhören, ideell (und irgendwann auch reell) jene Verhältnisse zu reproduzieren, die sie als Individuen entschieden bedrohen, sie um das Leben im Leben betrügen." Dem ist zwar zuzustimmen, aber welch einen Unterschied stellt dieses "müssen" dar im Vergleich zu den alltäglich uns (marktschreierisch) angebotenen und sich anbietenden Handlungsmöglichkeiten! In solcherart Utopie steckt kein Leben drin, es duftet nicht nach befreiender Dynamik, es riecht nach dicken Büchern und miefigem Studierzimmer.Meines Erachtens gibt es seit einigen Jahren einen großen alternativen konkret-utopischen Entwurf, der zugleich praktisch auf das alltägliche Anders-Handeln (Freitag 26 vom 18.06: Stefan Meretz "Den Kampfhund bändigen": "täglich die alten Spielregeln außer Kraft setzen") abzielt. Dessen revolutionäres Potential ist jedoch noch nicht angemessen zur Kenntnis, geschweige denn ausgereizt worden. Ich meine "Sustainable Development", jenes auf ein Grundprinzip deutscher Forstwirtschaft des 18. Jahrhunderts zurückgehende, und im Kontext der Diskussionen über globale Entwicklungsprobleme von verschiedenen Kommissionen skizzierte, und dann 1992 während des UN-Erdgipfels in Rio de Janeiro proklamierte Leitbild für das 21. Jahrhundert, das in der deutschen Sprache etwas unzureichend als zukunftsfähige oder nachhaltige Entwicklung bezeichnet wird. Hier ist jedoch nicht der Raum, diese komplexe Thematik in allen Aspekten zu erörtern, vielmehr soll hier nur das Konstruktive herausgearbeitet werden.Vereinfachend lässt sich sagen, dass Nachhaltigkeit an zahlreichen Einzelproblemfeldern ansetzt und sie aus ganzheitlicher menschlicher und systemischer Perspektive denkt/begreift. Und zum ersten Mal wird deutlich gefragt, wie die Menschen sich ihre Zukunft vorstellen und versucht, dies in öffentlichen Klärungsprozessen (insb. im Rahmen von "Konsultationsprozessen" der Lokalen Agenda 21 auf kommunaler Ebene!) neu zu bestimmen und damit eine wirklich politische Öffentlichkeit zu bilden, die die durch die Konkurrenz zugespitzte Fragmentierung und Atomisierung überwinden könnte. Nachhaltigkeit stellt eine weiterführende Synthese früherer Konzeptionen dar, verknüpft Entwicklungstheorien mit politischer Ökologie, globale Governance mit Veränderung von Lebensstilen, Verwaltungsdenken mit bürgerschaftlichem Engagement, ergänzt die kapitalistische Halbdemokratie ("repräsentative Demokratie") mit neuen Elementen - und ist damit in der Lage, systemüberwindende Reformen in Gang zu setzen. Ein "Sprung" ist nach alles historischer Erfahrung und nach spieltheoretischen Abwägungen wie denen des marxistischen US-Politologen Adam Przeworski wenig wahrscheinlich bzw. bedarf entsprechender Reife" und "Vorbereitungen".Letztlich resultiert Nachhaltigkeit aus der (für Manche schon heute tödlichen) Erfahrung, dass die seit Jahrzehnten dominierende kapitalistische Produktions- und Lebensweise, die durch neoliberale Zuspitzung extremistische Züge angenommen hat, nicht "nachhaltig" ist - d.h. nicht mehr lange funktionieren kann und außerdem nicht verallgemeinerungsfähig und übertragbar auf alle anderen Länder ist (hier kann auf Einschätzungen Rosa Luxemburgs zurückgegriffen werden). Dieses kleinlaute Eingeständnis ist durch die Unterzeichnung der Agenda 21 im Jahre 1992 in Rio von über 170 Staatsoberhäuptern "amtlich", bislang aber nicht vehement genug verfolgt bzw. eingefordert worden, und hat nur zu geringen positiven Effekten geführt. Aber immerhin, denn das Unterfangen ist von historischem Ausmaß: erstmals in der Menschheitsgeschichte soll nicht blind weiterproduziert, nicht blind weiterkonsumiert werden, soll nicht weiter gewachsen und über Gebühr ausgebeutet werden. Dieses Leitbild ist nicht zuletzt auch deshalb überaus ambitioniert, weil die liegen gebliebenen Probleme gelöst werden sollen, es ist extrem voraussetzungsvoll, weil es nicht top-down und technokratisch bewerkstelligt werden soll und kann. Und es dient - wenngleich noch häufig lediglich symbolisch - als Richtschnur vieler Akteure weltweit und besitzt damit eine höhere Autorität als andere progressive Leitbilder (geschweige denn "Sozialismus")! Hinzu kommt, dass aufgrund des konzeptionellen Ansatzes, mittels Qualitätszielen und Indikatoren die Realisierung der Vorgaben zu überprüfen, wodurch Rechtfertigungszwänge und Legitimitätsanforderungen hergestellt werden.Und hier ist Hermann Scheer zuzustimmen, der es für "traditionelles, aber mittlerweile unbrauchbares linkes Denken" erachtet, erst die Systemfrage zu stellen und danach alles andere klären zu wollen (Freitag 27 vom 25.06). Und zwar nicht nur, weil die ökologische Katastrophe dringend verhindert werden muss, sondern auch, weil die Systemfrage stellen einfach nicht abstrakt in einer Gesellschaft zu bewerkstelligen ist, sondern höchstens in kleinen intellektuellen Zirkeln. Aller Erfahrung nach "stellt sich die Systemfrage", wenn möglichst viele der alltäglich wahrnehmbaren Probleme einigen systemischen Fehlern plausibel zuzuschreiben sind, unerträglich werden, und erkennbare Alternativen umsetzbar erscheinen, und nicht durch intellektuell ausgefeilte Ideen und abstrakte Einfälle.Die bisherigen Studien zur Bilanzierung von Agendaprozessen in verschiedenen Staaten sind zwar ernüchternd und es ist bisher noch viel zu wenig erreicht worden - doch schließlich haben die Agenda-Akteure mit fast denselben Hürden zu kämpfen wie die Linke bei ihren gesellschaftlichen Umgestaltungsversuchen. Doch in vielen Staaten, Regionen, Städten und Gemeinden geht es langsam und häufig sehr zäh voran, neue Arrangements und neue Institutionen, Gesetze und Indikatoren werden geschaffen. Herausfordert sind alle Teile der Bevölkerung, alle Organisationen und Institutionen - Politik, Wirtschaft, Wissenschaft, NGOs. Zudem findet in der Praxis eine deutliche Bezugnahme auf zahlreiche "linke" Themen, Ansätze und Praktiken (Süd-Nord-Arbeit, Ökologie, Emanzipation, Partizipation etc.) - weshalb die Abneigung der traditionellen Politik und der Wirtschaft verständlich wird: sie wittern Gefahr im Verzuge. Da werden Verwaltungsprozesse geöffnet und Runde Tische eingesetzt, Leitbilder und Indikatoren formuliert, praktische und exemplarische Projekte umgesetzt, "Bürgerhaushalte" eingeführt und vieles andere mehr. Zusammen betrachtet ergibt sich ein großes Experimentierfeld, das über die alternativen Nischen der 70er Jahre hinausreicht. Das Spektrum an Beteiligungs- und Aktionsmöglichkeiten ist immens, reicht von praktischen Nachbarschaftsprojekten bis hin zu konzeptionellen und globalen Projekten.Meines Erachtens kommt an den innovativen Nachhaltigkeitsprozessen niemand mit Weitblick vorbei, denn die althergebrachten Politikkonzepte lösen keines der akuten Probleme. Das Nachhaltigkeitskonzept ist gerade im jetzigen historischen Moment, in welchem die herrschenden Kreise nicht mehr wirklich von ihren eigenen Rezepten überzeugt sind, von immenser Bedeutung, denn es besteht die Gefahr eines gestalterischen Vakuums, daraus resultierender Angst und Frustration, und die destruktive Option des Rechtsextremismus.Peter Weiss war der Auffassung: "Wer denken kann, kann weiterdenken". Und in Bezug auf Nachhaltigkeit steht zu vermuten, dass eine Dynamik in Gang gesetzt worden ist, die nicht mehr zu stoppen sein wird, denn die zugrundeliegenden Prinzipien sind nicht nur wissenschaftlich fundiert und sachlich gerechtfertigt, sondern finden Anklang in der Bevölkerung, wie die jährlichen Umfragen des Umweltbundesamtes beweisen: durchschnittlich 80% der BürgerInnen stimmen den (abstrakten) Zielen der Nachhaltigkeit zu. Es stünde der Linken gut an, zu einer Verbreitung der Nachhaltigkeitsdebatte beizutragen, kritische Impulse (zum Beispiel Machtanalyse), aber auch praktische Anstöße zu geben und bei der Mobilisierungsfähigkeit von noch mehr Menschen und Institutionen für die Sicherung des Überlebens und der Humanisierung unserer löchrigen Zivilisation mitzutun - DAS ist die Systemfrage in lebensweltnaher Variante. Das Ausmalen von Zukunftsbildern für kleine soziale Milieus und Nischen ist Teil der Geschichte, doch erfahrungsgemäß scheitern schöne Ansätze an unzureichender Verallgemeinerung und defizitärem Mainstreaming.Nachhaltigkeit erscheint mir als linke "Utopie konkret" par excellence! Es ein "Suchprozess", dessen konkrete Ausgestaltung auf Nachhaltigkeitsprinzipien basiert, sich aber erst durch die "wirkliche Bewegung" der gesellschaftlichen Aktivitäten ergibt. Und ich vermute, dass bei einer Annäherung an diesen Typus gesellschaftlicher Entwicklung das erreicht werden würde, was Marx die wirkliche Geschichte des Menschen genannt hat, also eine weitgehend reflektierte und ganzheitliche Gestaltung des sozialen Lebens und des Zivilisationsprozesses im Rahmen einer endlichen Natur und eines einzigen Planeten.
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