Die Franzosen erfüllen ihrem rechten Präsidenten einen Herzenswunsch. Wie inbrünstig hatte Jacques Chirac noch vier Tage vor der Wahl via Staatsfernsehen seine Bürger angefleht, sie mögen den Seinen doch zu einer Mehrheit im Parlament verhelfen, damit er nun endlich ohne störende zweite Kraft all seine guten Projekte verwirklichen könne. Ganz so, als wäre er selbst die erste Wahl seines Volkes gewesen und nicht das kleinere Übel, um einen Rechtsextremen auf dem Präsidentenstuhl zu verhindern. Aber Politiker vergessen bekanntlich schnell und erhoffen sich das auch von ihren Wählern. Zumindest geniert sich Chirac als geschickter Taktierer nicht im geringsten, die Argumente des politischen Gegners zu verwenden, wenn es eigenen Zielen dien
ient. Die Cohabitation als Wurzel aller Stillstandsübel zu verdammen - die Idee stammt vom Lionel Jospin. Der hatte außerdem den Wahlkalender in der Hoffnung verändert, erst zum Präsidenten gewählt zu werden und dann ... - so wie es Chirac nun erfolgreich praktiziert hat. Auch die rechte Einheitspartei l´Union pour la Majorité Présidentielle (UMP) erwies sich als geschickter Schachzug. Im ersten Wahlgang konnten bereits fünf Minister aus dem Übergangskabinett mit einem Ergebnis von mehr als 50 Prozent in ihren Wahlkreisen triumphieren - auf der Gegenseite hat nur ein einziger Sozialist sein Mandat sicher, keiner von den prominenten, sondern einer fern auf der Insel Réunion. Zwar hört man Dominique Strauss-Kahn, den Ex-Wirtschaftsminister, der schon als linker Premier gehandelt wurde, laut im dunklen Verliererwalde pfeifen - ein Sieg sei noch möglich. Aber das klingt gar zu sehr nach dem Mut der Verzweiflung. Am 9. Juni kamen so wenig Wähler wie nie zuvor zu einer Parlamentswahl der V. Republik. All die guten Vorsätze der vielen lauten Demonstranten zwischen den beiden Wahlgängen zur Präsidentschaftswahl sind offenbar vergessen. Böse Spielchen mit der extremen Rechten scheinen die Franzosen diesmal aber nicht spielen zu wollen. Nur in 25 der 433 Wahlbezirke geht der Kandidat des Front National (FN) in den zweiten Wahlgang. Auch der Bürgermeister der südfranzösischen Stadt Orange, den seine Stadt mit gut 60 Prozent der Stimmen in dieses Amt wiedergewählt hatte, muss in die Stichwahl. Von einer FN-Fraktion ist schon keine Rede mehr. Dazu braucht eine Partei mindestens 20 Abgeordnete. So werden erstmals nach dem Zweiten Weltkrieg auch die französischen Kommunisten wohl keine eigene Fraktion mehr zusammenbekommen. Waren ihre 9,9 Prozent 1997 schon schlimm - die aktuellen knapp fünf darf man getrost eine Katastrophe nennen. Der Parti Communiste liegt jetzt etwa auf dem Niveau der Grünen - die haben mit 4,2 Prozent ungefähr ihr 97er Ergebnis gehalten. Alles in allem ein "Kollateralschaden" der pluralistischen Linken, die eben so pluralistisch geworden ist, dass man auch gleich die klassische Rechte wählen kann. Zumal aus dieser Richtung mehrere, geschickt gesetzte Signale zur richtigen Zeit kamen. An die Spitze seiner Übergangsregierung hat Chirac keinen der Pariser Polit-Stars gesetzt, die - egal ob rechts oder links - im Volk ihrer elitären Entrücktheit wegen immer unbeliebter werden. Als Beispiel wird immer mal wieder die Geschichte von Edouard Balladur erzählt, Premier nach dem Absturz der Linken 1993, der aus Repräsentationsgründen zum ersten Mal in seinem Leben mit der Pariser Metro fuhr und entsetzt fragte, ob hier häufiger die Klimaanlage ausfalle. Ganz bewusst hat Chirac auch den jungen, brillanten Bürgermeister des Pariser Nobelvorortes Neuilly-sur-Seine nicht zum Premier befördert. Nicolas Sarkozy wartet als Innenminister vorerst in der zweiten Reihe auf seine Stunde. Statt dessen sammelt der bodenständig-umgängliche Jean-Pierre Raffarin - zuvor in der nationalen Politik kaum bekannt - gute Noten. Chirac scheint nach dem schockierenden zweiten Platz von Le Pen in Runde eins der Präsidentschaftswahl begriffen zu haben, dass er einer tief gespaltenen Gesellschaft Versöhnungsangebote unterbreiten muss, gibt es doch heute einen erkennbar tiefen Riss zwischen den abgesicherten Beamten (les functionaires) und den in eine immer bedrückendere Unsicherheit driftenden Beschäftigten der Privatwirtschaft. Dass bisher alle Regierungen - die letzte linke war keine Ausnahme - stets vor den mit Streikgewalt ihre Gruppeninteressen durchsetzenden functionaires zurückgewichen sind, erhebt diese Gruppe zur inzwischen verlässlichsten Wählerklientel der Linken. Aber viele der immer wieder bei den häufigen Arbeitskämpfen, etwa der Nahverkehrsbetriebe, grollend vor sich hin stapfenden und teures Geld für ein Taxi hinblätternden privat Beschäftigten hat das Linkskabinett mit dieser Nachgiebigkeit am falschen Ort verprellt. Da die öffentlich Bediensteten anders als die "privaten" bei ihren Streiks nichts riskieren, Arbeitsplatz und Pension sichert ja der Staat, wird aus dem Groll schnell eine Protestwahl. Oder eben Wahlverweigerung. Und noch ein Signal hat Chirac geschickt zu setzen gewusst. Mit dem ersten Regierungsmitglied algerischer Herkunft hat er den Linken bei den Einwanderern den Wind aus den Segeln genommen. Umfragen zeigen, dass die Nominierung von Tokia Saifi viele Algerien-Franzosen motiviert hat, nun in der UMP den besseren Sachwalter der Integration zu sehen. Denn das Hauptwahlkampfthema Sicherheit hat in Frankreich zuallererst mit Unsicherheit zu tun oder der sich in Gewalt austobendem Wut der hoffnungslosen Einwandererkinder in den Sozialhilfesiedlungen. Die 47-jährige Tokia Saifi ist mit neun Geschwistern in einer solchen "Cité" in Lille aufgewachsen. "Man kann es schaffen, da heraus zu kommen!", lautet nun die Botschaft ihres Regierungsamtes, die sich wirkungsvoll in Wählerstimmen ummünzen lässt, wenn auf den linken Kandidatenlisten wie bei allen Parteien die weißen Gesichter dominieren. Obwohl deutlich über zehn Prozent der 60 Millionen Franzosen ihre Wurzeln außerhalb haben.