Tanja gehört zu jener raren Spezies promovierter Juristinnen, die freitags aus der Robe, respektive dem Amtsgericht steigen - direkt hinein in die Jeans und in die Kneipe, die Disco oder eben ins Fußballstadion. Christoph, Tanjas Freund, ist Landschaftsarchitekt, Instinktmensch, mehr Künstler denn Ingenieur und somit - wie es sich gehört - auch an Fußballkultur interessiert. Ich, ich bin uninteressant, lese aber auf der Homepage von Rot-Weiß Essen (sinngemäß): "Wie vor jedem Derby gegen Wattenscheid treffen wir uns auch dieses Jahr wieder um 17 Uhr auf dem Essen-Krayer Markt, von wo wir uns dann gemeinsam auf einen Fußweg ins Lohrheide-Stadion begeben."
Ich sach also zu Tanja und Christoph, die noch nicht lange im Ruhrgebiet weilen: "Datt is doch
tt is doch ma watt. Zu Fuß nach Watte, durch das fantastische Kray, ein Rucksack voller Bier mit und bestimmt ´ne nette Atmosphäre, nette Gespräche mit netten Fans." Sie willigen ein und so treffen wir uns am Essener Hauptbahnhof und fahren per S-Bahn und Bus dort hin, wo sich die herrschenden Klischees über das Ruhrgebiet mit der Wirklichkeit verbrüdern: Essen-Kray - graue Häuserfassaden, verwaiste Geschäfte, nicht ein oder zwei, sondern Dutzende und hinter wirklich jedem Fenster, weiße, zugezogene, erbärmlich akkurate Gardinen.Es sind keine Gesänge, eher ein dumpfes Grölen, das uns den Weg zum Krayer Markt weist. Dort sind nicht so viele Menschen versammelt, wie wir erwartet hatten. Dort empfängt uns kein Meer in Rot und Weiß. Die Menschen sind vielmehr grau, schwarz und dunkelgrün gekleidet. "Londsdale" steht auf etlichen Jacken. Die meisten Menschen haben kurze oder gar keine Haare. Wir sind ernüchtert. "Err-Wee-Eee" brüllt eine Horde Menschen vom gegenüberliegenden Straßenrand zu uns auf den Markt herüber. "Err-Wee-Eee", geben Christoph, ich und die anderen Männer zur Antwort. Tanja schweigt und wir versuchen, sie durch ein paar Fußball-Witze aufzuheitern. Plötzlich gerät der Haufen um uns in Wallung: Mangels gegnerischer Fans provozieren sich die Anwesenden allmählich gegenseitig. Man schubst sich. "Fußball ist kein Kindergeburtstag", denken wir uns und stapfen in gebührendem Abstand der wogenden Menge hinterher. Bald ist das krude Kray durchwankt. Zwischen Essen und Wattenscheid liegt nur mehr Grün. Der Zug passiert eine Kleingartenanlage. Da wir noch immer hinten an laufen und es stetig bergan geht, haben wir einen freien Blick auf die Karawane. Einige aus unserer Horde liefern sich eifrig Scharmützel mit der immer größer werdenden Zahl grüner Männchen und Weibchen. Es regnet faustdicke Feuerwerkskörper. Schließlich stehen wir vor den Toren des Lohrheide-Stadions. Uns reicht es. Das Zusammengehörigkeitsgefühl hat ein Ende. Christoph entledigt sich seines rot-weißen Schals. Und nachdem wir jetzt alle Drei wie neutrale Beobachter aussehen, gelangen wir in den für die Einheimischen vorgesehenen Block. Endlich beruhigt sich die Szenerie.Wie viele Wattenscheider waren eigentlich in der heimeligen Lohrheide? 17, vielleicht 18. Ein paar Jungens vom Wattenscheider Knabengymnasium, die es zweimal im Monat mal so richtig krachen lassen und die andere Hälfte aus der Pepita-Hut-Fraktion. Links von uns steht die Horde, mit der wir ins Stadion gezogen sind. Gegenüber, auf einer mit butterfarbenen Sitzschalen ausgestatteten, vollüberdachten Tribüne, sitzen noch einmal ungefähr 5.000 Essener. Sie machen aus der Entfernung einen halbwegs vernünftigen Eindruck. Die Atmosphäre ist friedlich und das Spiel schnell erzählt: RWE ist zu ungefähr 107 Prozent in Ballbesitz, schafft es aber unglaublicher Weise nicht, auch nur eine halbwegs klare Torchance herauszuarbeiten. So bleibt es einem Wattenscheider Akteur vorbehalten, die einzige Torchance des Spiels in derart clownesker Manier zu versieben, dass es einem vor Lachen die Tränen ins Auge treibt. Bjarne Goldbaeck spielt eine äußerst unglückliche Kugel, was zwei ältere Männer aus der Pepita-Hut-Fraktion hinter uns dazu veranlasst, Goldbaeck über die komplette zweite Halbzeit lauthals mit "Gummibärchen" zu verspotten."Junge, Junge, Weizenjunge", prangt auf den beiden Trainerbänken. "Junge, Junge", denken wir alle im Stadion, als endlich der erlösende Schlusspfiff ertönt. "Nee, zu Rot-Weiß gehe ich nie mehr; das is mir zu assig, einfach zu rechts!", sagt Tanja. "Überall", entgegne ich ihr, "überall laufen diese Ewiggestrigen herum. Macht es denn einen Unterschied, ob rechtes Gedankengut nach außen gekehrt wird, oder nur verborgen im Gehirnstübchen köchelt? - Und überhaupt: Man wechselt einen Verein nicht eben so wie Unterhosen." Christoph pflichtet mir bei, indem er auf die unter Fußballfans berühmten Ausführungen Nick Hornbys verweist. Und während Tanja heftig den Kopf schüttelt, lächeln Christoph und ich einander an, so wie zwei, die einer Meinung sind, doch insgeheim wissen wir, dass Tanja nicht ganz unrecht hat.