Fast unbemerkt ins Theatertreffen eingebettet fand am vergangenen Wochenende ein Symposium statt, das sich die Auseinandersetzung mit der »Inszenierung von Wirklichkeit in Theater, Politik und Medien« vorgenommen hatte. Bei dieser erstmaligen Kooperation zwischen dem Theatertreffen und dem Festival »Politik im Freien Theater« (das von der Bundeszentrale für politische Bildung ausgerichtet wird) stand eine Frage unübersehbar im Mittelpunkt: Wie kann und soll das Theater auf stark medienvermittelte Realitäten reagieren, die »auf eine neue Weise unangreifbar sind« (Joachim Fiebach)? Vorneweg gesagt, bot das Symposium weniger eine avancierten Versuch der Theoriebildung oder gar der Herausarbeitung neuer Horizonte, als eine zuverlässige Standort
ortbestimmung, was den gegenwärtigen Stand der Diskussion anbetrifft. Diese Bestimmung gelang auch deshalb, weil eine Reihe von unterschiedlichen Perspektiven gewählt worden war. Journalisten, Medien- und Theaterwissenschaftler, Dramaturgen, Theater- und Filmregisseure warfen unterschiedliche Schlaglichter und brachten meist den selben Wunsch hervor: Das Theater soll eine Gegenwelt sein, ein utopischer und widerständiger, aber zumindest einmaliger und ungewöhnlicher Ort.Die Wirklichkeit, in der sich dieser Ort behaupten muß, ist angeblich geprägt von zersplitterten und verlorenen Existenzen, die sich inmitten einer unüberschaubaren und Begehren weckenden Medienwelt vergeblich zu orientieren und positionieren versuchen. Das Szenario von der inhaltslosen, oberflächlichen und orientierungslosen Gesellschaft ist schon so schrecklich vertraut, daß es gut tut, an die Errungenschaften der Medienkultur zu erinnern. Die Explosion vor allem der Fernseh- aber auch anderer Medienkanäle brachte schließlich einen mündigen und individuellen Mediengebrauch hervor. Das Zappen mit der Fernbedienung zerstört zwar ein Filmkunstwerk, kreiert aber auch einen neuen Film, den sich der Zuschauer assoziativ selbst montiert. Vermutlich war der Vielfach-Medienbenutzer noch nie so aufgeklärt wie heute. Schon vor einigen Jahren wiesen Untersuchungen darauf hin, daß die gestiegene Dauer des Fernsehkonsums nichts über dessen Verführungsgewalt verrät, da über 50 Prozent der Zuschauer das TV nur noch als elektronisches Lagerfeuer einsetzen.So eindrücklich in den ersten Tagen des Krieges die Fernsehnachrichten den Beweis ihrer politischen und ästhetischen Gleichgeschaltetheit lieferten, so schnell sickerte auch durch, daß diese Bilder höchstens die halbe Wahrheit sind. Wo immer sich Medien-Aufklärer in den letzten Wochen zu Wort meldeten, ereiferten sie sich über die einseitige mediale Konstruktion der Wirklichkeit, dabei wußten sie es doch selbst schon besser. Wer immer noch glaubt, daß die Tagesschau-Bilder von 1979 wahrer waren als es die von 1999 sind, der lebt tatsächlich in einer unwirklichen medialen Realität. Daß dem Fernsehen nicht mehr zu trauen ist, dafür hat das Fernsehen selbst gesorgt. Dieses veränderte und aufgeklärte Rezeptionsverhalten führt jedoch weniger zu einer allgemeinen Bildersattheit (dafür ist der Mensch zu schau-lustig), als zu dem Wunsch nach immer raffinierteren Bildkonstruktionen, nach Bildern, die ein eigenes Erleben stimulieren, bis hin zu raumhaften Erlebnis-Bilderwelten.Theater bietet selbst schon ein multi-mediales Erlebnis. Die Einheit von Raumgestaltung, Schauspielkunst und Text soll die Perspektive auf die Gegenwart verändern, am liebsten in einem emanzipatorischen Sinn, das heißt so, daß durch das Theatererlebnis das Bild einer veränderten Gesellschaft zumindest als Möglichkeit aufscheint. Als zentraler politischer Aspekt von Theater wurde in den letzten Jahren die Möglichkeit zur Schulung einer differenzierten Wahrnehmung diskutiert. Genau dieser politische Aspekt steht unter den veränderten medialen Bedingungen zur Disposition. Noch weitgehend unerforscht ist in diesem Zusammenhang die Wirkung des Internets, das die Möglichkeiten zu einer weiteren Differenzierung und Demokratisierung von Wahrnehmungsperspektiven in sich birgt. Das Theater hatte in den 90er Jahren mit unterschiedlicher Konsequenz reagiert. Die Schöpfungen eines höchst musikalischen und sehr fein gearbeiteteten Theaters der Langsamkeit durch Christoph Marthaler oder die überwältigende, archaische Körperlichkeit von Einar Schleefs chorischem Theater sind zwei der gelungensten Reaktionen. Nicht zufällig trafen diese beiden Regisseure in der Volksbühne auf einen dritten wichtigen Erneuerer von Theaterformen, den Intendanten derselben, Frank Castorf. Im Castorf-Theater läßt sich die umstrittenste und komplizierteste Reaktionsform studieren: Es produziert einen assoziativ wirkenden, aber politisch durchdachten Überschuß an theatralischen und populären Zeichen, die sich zu ungewohnten, komplexen Kombinationen vereinigen. Die Effekte diese Theaters lassen sich nicht auf einer vordergründigen Bedeutungsebene studieren, sondern sie fließen durch die individuellen Zuschauerreaktionen auf untergründige Art in die Gesellschaft zurück und entfalten an anderen Orten, zu anderen Zeiten ihre politische Wirksamkeit.So war es kein Zufall, daß sich im Verlauf des Symposiums, egal, ob es um politische oder ästhetische Aspekte des Theaters im Medienzeitalter ging, der Verweis auf die Volksbühne sich wiederholte. Der Theaterwissenschaftler Jörg Wiesel stärkte deren exemplarische Stellung mit seiner Behauptung, daß das westdeutsche Regietheater der 60er, 70er und 80er Jahre, geprägt von Leuten wie Claus Peymann, Peter Stein, Dieter Dorn, nur scheinbar eine politische Auseinandersetzung zum Thema machte, während es tatsächlich um das narzißtische Begehren von selbsterkenntnisverliebten männlichen Subjekten ging. Den genannten Volksbühnenregisseuren gesteht er hingegen die Produktion von gleichermaßen subjektiven und gesellschaftlichen Situationen zu, »in denen sich ein konkretes Subjekt einer (auch politischen) Vergemeinschaftung durch eine Gruppe der Mehrheit ausgesetzt sieht.« Gerade in einer von Bildern durchspülten Welt sei eine vielfältige Sprache notwendige Voraussetzung für erkenntnisfähige (Selbst-)Reflexion.Das scheinbar einfachste und von vielen als naheliegend empfundene Oppositionsmodell gegen eine mediatisierte Wirklichkeit, das Modell der einfachen, naturalistisch aufgeführten, runden Geschichte, die, weil sie sich im echten Leben nicht mehr ereigne, einen phantastischen und sinnstiftenden Raum erschließe, tauchte - zum Glück, mag man sagen - nur am Rande auf. Das Theater als Insel der Intimität, als geschützte Zone romantischer Behaglichkeit, hat, zumindest der Erörterung nach, ausgedient. Nichtsdestotrotz bleibt die einmalige Kommunikationssituation im Theater der zentrale Bezugspunkt. Wo sonst soll der Geist in den Körper fahren (Werner Fritsch)? Es ist auch nicht das Ende von Geschichten angezeigt. Es kommt darauf an, wie sie erzählt werden. Die junge Regisseurin Sandra Strunz schlägt ein neues Verhältnis von Erzählen und Spielen vor, eine Art »polyphone Komposition«. Diese Kompositionen sollen den Zuschauer dazu herausfordern, sich aus einer Vielzahl von Spiel- und Erzählebenen sein eigenes Bild zu formen: »Es gälte den Versuch zu machen, auf der Bühne einen positiven Satz auszusprechen, ohne daß man sich als Zuschauer schämen muß, weil man diese Lügerei nicht erträgt.« (Strunz)
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