Schein

Entzauberung In Marie NDiayes Band: "Alle meine Freunde" ist alles nur Theater

Der Titel dieser Sammlung mit Erzählungen führt in die Irre. Alle meine Freunde klingt schön und warmherzig, entpuppt sich aber als Illusion. Denn es sind keine Freunde, von denen die Geschichten der französischen Autorin Marie NDiaye handeln. Zumindest keine wirklichen Freunde. Die erste, titelgebende Geschichte erzählt ein Lehrer aus der französischen Provinz. Er hat eine ehemalige Schülerin, Séverine, als Haushaltshilfe eingestellt, obwohl er sie nicht wirklich braucht. Er beobachtet sie während der Arbeit, aber er hat auch nicht, wie man vielleicht denken könnte, ein sexuelles Interesse an ihr.

Trotzdem ist Séverine davon genervt, und als er sie auch noch fragt, ob sie ihren Mann liebt, verlässt sie sein Haus. Man wundert sich, dass dieser so unsympathisch wirkende Mensch, den Frau und Kinder verlassen haben, an der Schule beliebt ist. Jemand, der meint, in Werner, seinem begabtesten Schüler einen Freund zu haben. Werner, der in Paris studiert hat und nun in die Provinz zurückgekehrt ist. Aber diese Freundschaft ist nur Wunschdenken. Denn Werner liebt seine Klassenkameradin Séverine und nutzt seinen ehemaligen Lehrer nur dazu aus, um an sie heranzukommen. Marie NDiaye beschreibt subtil das Geflecht aus Wünschen, Missverständnissen, Emotionen und Abhängigkeiten, die diese schon lange zurückliegende Zeit hinterlassen hat.

Vieles wird klar, was einmal verborgen war: So spricht der Lehrer jetzt nur noch von "dem Magrebiner", wenn von Séverines Mann die Rede ist. Das schien früher ganz anders, denn in der Schulzeit der drei sah es so aus, als gelte sein Interesse den Schwachen und Benachteiligten. Einen ganz ähnlichen Titel wie Marie NDiayes Buch hat Emmanuel Boves Erstling von 1924: Meine Freunde. Eine Ähnlichkeit, die nicht zufällig ist. Denn in Boves Buch wünscht sich der Kriegsinvalide Victor Bâton nichts sehnlicher als Freunde. Aber auch er scheitert und bleibt letztlich allein. Marie NDiaye hat mit ihren Erzählungen diese französische Tradition der Entzauberung menschlicher Beziehungen fortgesetzt.

Die längste Erzählung ihres neuen Bandes, Ein Tag in Brulards Leben, handelt von der ins Alter gekommenen Schauspielerin Eve Brulard. Sie hat sich gerade von ihrem Mann Jimmy getrennt, der das Ende der Beziehung aber nicht so recht wahrhaben will. Die beiden treffen sich noch einmal und landen bei Freunden von Jimmy, zumindest nennt er sie so. Es ist ein reiches Ehepaar, das eine Villa mit Garten bewohnt. Jimmy, der ewig Erfolglose, verspricht sich von diesen "Freunden" einen neuen Job. Hier ist alles Theater: Die Ehe, die Freundschaft, das kindische Ostereiersuchen im Garten des Ehepaars. Die Ehe, weil Jimmy behauptet, Eve Brulard sei noch seine Frau, um mit der Schauspielerin bei dem Ehepaar Eindruck zu erwecken. Die Freundschaft, weil sie nur als Wunsch existiert. Und das Ostereiersuchen, weil es unter Erwachsenen verlogen ist. Der Schein frisst sich soweit in das Leben hinein, dass Eve Brulard zeitweise nicht mehr weiß, ob sie die Figur aus dem Film ist, in dem sie mitgespielt hat, oder Eve Brulard.

Die Rollen, der Schein, sie führen zu einer Art notwendig falschem Bewusstsein. Authentische Gefühle, die sich nur noch in gespielten Gesten äußern können, lassen sich erst mit diesem Bewusstsein entziffern. Wenn unter der Oberfläche, die harmonisch und "normal" erscheint, auch die Konflikte brodeln, so wird der Schein oft wirklicher als die Wirklichkeit. Marie NDiaye schildert ihre Figuren lebendig, mit allen ihren Widersprüchen, die sie dem Leser erst sympathisch, im nächsten Moment dann wieder unsympathisch machen. Trotzdem erzählt sie ihre Gesichten konventionell, was gerade in dem von ihr nahe gelegten Vergleich mit Emmanuel Bove auffällt. Dessen große Kunst bestand darin, das Innere seiner Figuren durch die Schilderung von kleinen Gesten oder scheinbar nebensächlichen Reaktionen deutlich werden zu lassen. Der Abgrund hinter dem Schein taucht deshalb bei ihm ganz plötzlich und unerwartet auf. Marie NDiaye greift da zu weniger überraschenden Mitteln.

Marie NDiaye: Alle meine Freunde. Aus dem Französischen von Claudia Kalscheuer, Suhrkamp, Frankfurt am Main 2007, 143 S., 17,80 EUR


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