Die Autorin traf es nicht so gut wie ihre Übersetzerin: Susan Neimans Ideengeschichte der modernen philosophischen Auseinandersetzung mit dem Bösen erschien vor zwei Jahren im Original unter dem Titel Evil in Modern Thought. Christiana Goldmann gibt in ihrer glänzenden Übertragung des Buches ins Deutsche den Titel mit Das Böse denken wieder. Man kann sich das Buch wie das ins Reine geschriebene Protokoll eines Gesprächs vorstellen, zu dem Neiman einige Philosophen in ein Landhaus einlud. Dieses Bild wird unwillkürlich von Neimans Art hervorgerufen, sich in die Großen der Philosophiegeschichte hineinzuversetzen, um mit ihnen zu denken.
Ihre Gäste tragen klangvolle Namen. Versammelt sind Empiristen wie Bayle und Hume, Rationalisten wie Leibniz und
alisten wie Leibniz und Hegel. Zu Beginn diskutierte man heftig das natürliche Böse, von dem alle Anwesenden eine lebendige Anschauung hatten. Die ältesten Gäste waren Zeitzeugen des Erdbebens von Lissabon, dessen Kunde damals auf sie gewirkt hatte, als ob Gott wie schon einmal in grauer Vorzeit, zu Lasten Hiobs, ein Spiel mit dem unschuldigen Leben trieb. Aber sprachen nicht Ordnung und Harmonie aus der Natur, wenn sie nicht gerade bebte und Feuer spie?, warf Leibniz in den Raum. War es da nicht möglich, dass es Gründe für ihre plötzliche Grausamkeit gab, die wir nur noch nicht einsehen, aber irgendwann begreifen werden, denn sie sind vernünftig? Aber nehmen wir an, gab Bayle zu bedenken, Gott strafe durch das Erdbeben oder die schier endlosen anderen Ursachen unseres Leidens das moralisch Böse, das auf unser eigenes Konto geht. Warum lässt er dann das moralisch Böse überhaupt zu? Rousseau sekundierte Kant: durch den Irrweg unserer Zivilisation seien wir böse geworden, und wir hätten jederzeit eine andere Richtung einschlagen können, ja, wir könnten es immer noch, das sei vor allem eine Frage der Jugenderziehung! Neiman war sich nicht sicher, ob man Menschen durch Erziehung einfach herstellen könne, als kämen sie aus der Meißner Porzellanmanufaktur. Kant nickte, auch ihm ging Rousseau zu weit, der war - bei allen Vorzügen - leider ein Schwärmer, bei jeder unpassenden Gelegenheit wurde es wieder deutlich. Der Königsberger Professor räusperte sich und bemerkte, dass wir niemals sicher sein könnten, das Gute zu erreichen. Müssten wir uns nicht vielmehr auf unseren Willen beschränken, die Welt besser zu machen als sie offenkundig sei, und zwar im Gottvertrauen, dass unsere Mühe dereinst belohnt werde? Es wäre doch sogar geradezu verheerend für unsere Moral, könnten wir berechnen, so Kant, dass der gute Wille belohnt werde. Denn dieses Wissen würde uns unweigerlich korrumpieren und wir täten das Gute nicht mehr um seiner selbst willen, sondern wie die Lausebengel in der Gasse um der Belohnung willen.Hegel hatte einen schlechten Tag. Seine ehernen Sätze, etwa der, alles Wirkliche sei vernünftig, verstanden die Jüngeren nicht oder wollten es nicht tun. Zu später Stunde machte erstmals das Wort Auschwitz die Runde, und nun wurden die Alten still, auch Rousseau redete nicht mehr von der Erziehung, selbst Marx schwieg. Noch später brachte die Gastgeberin den 11. September auf den Tisch, und nun sagten die Alten gar nichts mehr, denn sie hatten weniger als vage Vorstellungen von Flugzeugen, die in Hochhäuser fliegen. Der Diskurs wich der Artikulation einer Betroffenheit, auf die, wenn sie echt ist, man nur mit Takt, aber nicht mit Philosophie reagieren kann. So wurde der Abend zur tiefen Nacht hin immer unphilosophischer. Immerhin, so Neiman schon in der Morgendämmerung, bleibe uns der Wille, das Böse zu verstehen, aber nicht viel mehr. Jede Theodizee, auch ihre modernen Versionen von Hegel und Marx, seien obsolet.Das ist ebenso richtig wie falsch. Denn mit der Möglichkeit der Theodizee schwindet auch das Böse als objektive Kategorie. Deshalb ist es unzeitgemäß, heute noch menschliches Handeln unter der Kategorie des Bösen zu denken. Sprechen wir vom Bösen, drücken wir unser subjektives Erleben eines Sachverhaltes expressiv aus, keineswegs bestimmen wir dessen objektive Struktur oder Bedeutung, die er aber wie alles den Menschen Betreffende gleichwohl hat. Natürlich kann man heute - auf der Grundlage der modernen Geschichtswissenschaften, der Soziologie und Psychologie, der Wirtschafts- und Rechtswissenschaften - Auschwitz prinzipiell verstehen, nur ist das Verständnis ohne den metaphysischen Deutungsrahmen der Theodizee nicht mehr, wie noch bei Hegel und Marx, dem teleologisch motivierten Einverständnis verschwistert, sondern von innerer Auflehnung und - vor allem bei uns Deutschen - unüberwindlicher Scham begleitet. Das moderne Problem, das wir ausdrücken, wenn wir vom Bösen sprechen, hat Neiman nicht einmal erwähnt: dass wir alles prinzipiell verstehen oder erklären können, und dass uns das doch nicht hilft. Aber das ist unser individuelles Problem, mit dem wir wohl am besten so umgehen, wie Kant es uns empfiehlt: im Wissen um den Verlust jeglicher Garantien das Gute zu verwirklichen; sich nicht aus enttäuschtem Narzissmus auf seine subjektive Befindlichkeit, Mutlosigkeit, Verzagtheit, Betroffenheit zu versteifen. Was aber die Tatsachen betrifft, so enthalten wir uns besser des Geredes vom Bösen. Wollen wir sie verstehen, treffen wir Heutigen es besser, statt uns mit den Alten in ein Landhaus zurückzuziehen, in der Stadt zu bleiben, in den Archiven und auf den Homepages der Agenturen und Zeitungen zu forschen. Das Böse zu verstehen, versucht auch Karl-Heinz Bohrer in einer neuen Sammlung alter Aufsätze namens Imaginationen des Bösen. Von Bohrer kann Neiman lernen, wo das Böse in der Moderne seinen Platz hat, nicht in der Philosophie nämlich, sondern in der Dichtung. Wenn die Deutung des Schrecklichen zwar möglich ist, die traumatische Erfahrung dadurch aber nicht widerrufen werden kann, muss diese ein subjektives Ausdrucksmedium finden, in dem auch sie sich subjektiv verarbeiten lässt und sich Geltung verschaffen kann. Bohrer findet das Schreckliche in den Literaturen Kleists, E.TA. Hoffmanns, Poes, Baudelaires, Batailles. Sie alle folgen dem Bösen als ästhetischer Kategorie, sind "böse Kunstwerke". Das Böse als Modus künstlerischer Phantasie bei den genannten Autoren unterscheidet Bohrer wohlweislich von einer Rhetorik des Bösen als des Schönen, die der alten Inhaltsästhetik des Wahren, Schönen, Guten ex negativo verhaftet bleibt. Zum Modus der Imagination wird es erst dort, wo diese zu einem Ausdruck subjektiver Erfahrung gelangt, der an immanenten Kriterien ästhetischer Gestaltrichtigkeit und nicht je schon im Horizont des sittlich Angemessenen orientiert ist. Dass Bohrer dem Bösen ontologische Realität zumisst, folgt freilich nicht aus seiner Argumentation. Das böse Kunstwerk ist eben nur so lange böse, wie die ästhetische Befreiung der künstlerischen Avantgarde auf die Erwartung von Gesellschaft und Literaturbetrieb stößt, der Geltungsbereich des Ethischen erstrecke sich auch auf das künstlerische Handeln. Diese Erwartung war und ist in der Tat eine Spezialität der Deutschen seit der idealistischen Denunzierung des Hässlichen bei Hegel, Ruge und selbst Rosenkranz, der die Autoren bis heute - mit Ausnahme eines Kleist oder Hoffmann - zumeist mit eifriger Selbstzensur ihrer Imagination entgegenkamen. Auschwitz bedeutet auch hier eine Zäsur. Behauptete Adorno, nach den Konzentrationslagern sei Dichtung unmöglich, so hatte er Recht, aber anders, als er es meinte: die fraglose ethische Verschuldung wurde von den deutschen Autoren auch ästhetisch dermaßen verinnerlicht, dass sie es mehrheitlich verlernt haben, wie man gute Bücher schreibt.Susan Neiman: Das Böse denken. Suhrkamp, Frankfurt am Main 2004, 492 S., 32,90 EURKarlheinz Bohrer: Imagination des Bösen. Hanser, München 2004, 269 S., 19,90 EUR
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