Seit zwanzig Minuten zeichnen die Finger Satz für Satz nach, wandern die Augen konzentriert von links nach rechts über den Text. Heute sollen die Schüler Wörter nach der Anzahl ihrer Silben in eine Tabelle ordnen. Lydia beginnt als erste mit den Eintragungen. Sie spricht leise vor sich hin: An-er-kenn-ung. Dann greift ihre Hand zum Stift, und sie schreibt das Wort in die für vier Silben vorgesehene Spalte. Keine Kinderhand. Lydia ist 41 Jahre alt, verheiratet und Mutter dreier Kinder. Jeden Morgen um acht Uhr beginnt für sie der Unterricht im Herrnhuter Weg im Berliner Stadtteil Neukölln. Hier lernt Lydia seit September vergangenen Jahres Lesen und Schreiben. Das Haus in der kleinen unscheinbaren Seitenstraße war für Lydia der letzte Ausweg aus
weg aus einer scheinbar aussichtslosen Situation. Lydia hatte sich schon abgeschrieben. An einem Nachmittag im August beschließt sie, ihr jahrzehntelanges Versteckspiel zu beenden: Die Kinder sind nicht im Haus, ihr Mann, ein Polizist, ist im Einsatz, und im Fernsehen talkt "Vera am Mittag". Ihr Thema "Analphabetismus in Deutschland" lässt Lydia aufhorchen. Endlich gesellt sich zu ihrem Willen, aus der Schriftlosigkeit auszubrechen, auch der Mut zum ersten Schritt. Für wenige Sekunden ist ihr Mut größer als die Angst. Sie ruft unter einer eingeblendeten Telefonnummer an, um zum ersten Mal über ihr Problem zu reden und erfährt vom Berliner Verein Lesen Schreiben e. V., bei dem sie heute lernt, was für die Mehrheit eine Selbstverständlichkeit und im Grundgesetz unter Artikel 5 verankert ist, dass nämlich jeder das Recht hat, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern. Erst als sie den Brief bekommt, der ihr die finanzielle Unterstützung vom Arbeitsamt in der Zeit ihres Schulbesuches zusichert, bricht Lydia ihr Schweigen ihrem Mann gegenüber, mit dem sie seit zwanzig Jahren verheiratet ist. Die anstehenden Schulbesuche zu verheimlichen, wäre ohnehin nicht möglich gewesen. Sie kann sich noch gut an diesen Tag erinnern. "Ich war aufgeregt und hatte Angst, ihm zu sagen, dass ich nicht schreiben kann. Wie er reagieren würde, war mir völlig unklar." Die Kinder waren längst im Bett als er am Abend von der Arbeit kam. Was Lydia ihm dann im Wohnzimmer sagte, daran kann sie sich nicht mehr genau erinnern. Sie weiß nur, dass sie angespannt war und sich vor diesem Moment fürchtete, dass sie sich vorkam wie vor einer Prüfung, von der ihr weiteres Leben abhängt. Aber, obwohl Lydia ihren Mann zwanzig Jahre auf buchstäblich ungewöhnliche Art und Weise betrogen hat, zeigte er Verständnis und stellte keine Fragen. Darüber ist sie auch heute noch sehr erleichtert. "Er sagte nur, dass es doch nicht so schlimm sei. Und dass er auch manchmal Fehler in der Rechtschreibung mache." Seine Äußerung gab ihr erst später zu denken. In ihre Erleichterung über seine Akzeptanz mischte sich eine Ahnung, wie sehr ihr Mann das Problem doch unterschätzt. "Wenn ich es recht bedenke, haben wir seit diesem Abend auch nie wieder darüber gesprochen. Gefragt hat er mich nie, wie es dazu kommen konnte und wie ich damit fertig geworden bin." Nun ist Lydia eine von etwa 20.000 Erwachsenen in der Bundesrepublik, die jährlich die Schulbank drücken, um Lesen und Schreiben zu lernen. Die UNESCO schätzt die Zahl der Analphabeten in Deutschland auf vier Millionen. Genaue Statistiken gibt es nicht. Jeder Zwanzigste wäre demnach betroffen; auf Berlin umgerechnet bedeutet das 175.000 Menschen, die nicht richtig lesen und schreiben können. Der Verein Lesen Schreiben, in dem Lydia lernt, besteht seit 1981. Gegründet hat ihn die Diplompädagogin Marie-Luise Oswald damals nach dem Selbstmord einer Bekanntin, die nicht lesen und schreiben konnte. Diese Erfahrung, so sagt Oswald, begleite sie bis zum heutigen Tag und berühre sie immer wieder. Zur Zeit werden hier 60 Schüler in unterschiedlichen Niveaugruppen von 0 bis 6 in den Fächern Schreiben, Lesen, Rechnen, und Allgemeinkunde unterrichtet. Wer die Gruppe 0 besucht, bei dem waren nach dem Einstufungstest im Schreiben meist nur Striche anstatt Buchstaben zu sehen. Noten werden nicht erteilt. So soll das Lernen aus eigenem Antrieb gefördert werden. Bevor jemand in den Verein kommt, lässt sich Marie-Luise Oswald Zeugnisse aus den unteren Klassen zeigen. "Mittlerweile erkenne ich sehr schnell, um welche Problemfälle es sich handelt. Die Beurteilung bestätigt dann meine Vermutungen." Über die Lernkarriere entscheiden hauptsächlich die ersten beiden Schuljahre und obwohl Analphabetismus nicht ausnahmslos ein Problem der unteren sozialen Schichten ist, haben doch gerade Kinder, die in schwierigen familiären Verhältnissen leben, schlechte Startbedingungen. Das Schulsystem unterstützt sie wenig: Wie die Pisa-Studie belegt, trifft kein Land zu einem so frühen Zeitpunkt eine Entscheidung über die Schullaufbahn eines Kindes wie Deutschland. Später sind diese Einstufungen nur noch in den seltensten Fällen korrigierbar. "Ich bin das vierte von acht Kindern", sagt Lydia. "Dass sich meine Eltern nie um meine schulischen Leistungen gekümmert haben, werde ich nie verstehen." Ihr Vater war Optikermeister, ihre Mutter ist gelernte Technische Zeichnerin. Bereits in der ersten Klasse hatte Lydia schulische Probleme und benötigte Hilfe, um Lesen und Schreiben zu lernen. Aber ihre Mutter hatte keine Zeit, die Hausaufgaben mit ihr zu erledigen, und ihren Vater, der erst abends von der Arbeit kam, sah sie nur selten. Lydia wurde zusehends schlechter in der Schule. Auch als sie anfing, die Schule zu schwänzen, unternahmen ihre Eltern nichts. Schreiben war für Lydia eine Herausforderung, die sie erniedrigte. Immer öfter blieb sie zu Hause, und auch als eines Tages die Polizei vor der Tür stand, um sie in die Schule zu bringen, bewirkte das gar nichts. "Meine Mutter schrieb mir sogar Entschuldigungen, wenn eine Klassenarbeit anstand und unterstützte mein Fehlen. Sie wollte sich meine schlechten Noten ersparen und sich nicht wegen mir schämen müssen." Mit neun Jahren kam Lydia auf eine Sonderschule. In ihrer Klasse waren 26 Schüler. Hier fehlte ihr erst recht die Motivation, etwas zu lernen. Ohnehin war es zu spät, denn sie hatte längst den Anschluss verpasst. Wie sollten ihr Lesen und Schreiben Spaß machen, wenn sie es nie richtig konnte? Wie sollte sie aus Buchstaben Wörter machen? "Niemand in unserem Bekanntenkreis durfte erfahren, dass ich eine Sonderschule besuche. Meinen Eltern war das peinlich. Auch meinem Vater wurde nicht gesagt, dass ich die Schule schwänze. Wir lebten in einem furchtbaren Lügengeflecht. Das spürte ich als Kind natürlich, war aber hilflos." Die Sonderschule entpuppte sich für Lydia als Auffangbecken für Kinder, die später ohnehin zum Bodensatz der Gesellschaft gehören würden. Dass die zweite Chance für diese Sonderschüler auch gleichzeitig die letzte ist, schienen nur wenige Lehrer ernst zu nehmen. "Ich habe es oft erlebt, dass jemand den Unterricht störte, um so zu signalisieren, dass er nicht mitkommt oder etwas nicht versteht. Dann kam der Lehrer mit Zetteln und Stiften und sagte: Hier hast du was zu malen. So wurden wir ruhig gestellt und kamen uns noch abgeschobener vor." Als Lydia mit 16 Jahren die Sonderschule verließ und auf eine Hauswirtschaftsschule ging, vermied sie es bereits, schreiben zu müssen. Lesen eignete sie sich so gut es ging selbst an, um irgendwie zurechtzukommen. "Für meine Mutter galt nach wie vor, entweder mein Kind kann etwas oder eben nicht. Sie nahm das alles widerstandslos hin, und nach außen wurde der Schein gewahrt." Mit 18 zog Lydia von zu Hause aus, mit 19 bekam sie ihr erstes Kind. Der Start ins Berufsleben machte ihr ihre Lage zum ersten Mal deutlich. Sie begriff, dass ihr das Fundament fehlte, um weiterzukommen. Lydia schlug sich mit diversen Jobs durch. Sie machte Werbung für Arzneimittel, pries Weine in der Feinkostabteilung des KaDeWe an und leitete in einem Warenhaus einen Schallplattenabteilung. Sie schüttelt mit dem Kopf: "Verrückt ist das. Ich leitete eine Warenabteilung, und niemand hat gemerkt, dass ich nicht schreiben kann. Aber das waren ja alles Arbeiten, bei denen ich allenfalls etwas ankreuzen musste. Und Lesen konnte ich ja einigermaßen." Für die Jobsuche schlug sie einfach das Branchenbuch auf und rief in der jeweiligen Filiale an, um zu fragen, ob sie jemanden bräuchten. "Bewerbungen schreiben konnte ich ja nicht. Und dann hatte ich immer ein bisschen Glück." Wohlgefühlt hat Lydia sich in diesem Leben nie. Sie hat sich immer als Außenseiterin gefühlt; nicht dazugehörig, vor allem, wenn sie und ihr Mann sich mit Freunden trafen. Manchmal erschlug die Angst vor der Entdeckung jedes andere Gefühl. Besuche auf Ämtern versuchte Lydia zu umgehen. Wenn es hieß, sie solle etwas ausfüllen, sagte sie, dass sie später noch einmal wiederkäme, weil sie etwas vergessen hatte. Natürlich kam sie nicht wieder. "Ich sehe mich manchmal noch, wie ich im Personalausweis heimlich nachschaue, wo denn nun das "t" im Wort "Deutsch" hingehört, wenn ich meine Nationalität irgendwo eintragen sollte." Für die Führerscheinprüfung lernte sie ganze Sätze auswendig, um sie dann schreiben zu können. Sie bestand die Fahrprüfung beim ersten Mal. Der Erfolg erstaunte sie nicht sehr. Schließlich waren Buchstaben und Verkehrsschilder irgendwie dasselbe. Ihr Gedächtnis hatte tausend Tricks parat, um sich die Eselsbrücken zu bauen, damit sie nicht ins kalte Wasser der Bloßstellung fällt. Wichtige Formulare füllte ihre jüngere Schwester für sie aus. Manchmal saß Lydia allein zu Haus, den Duden aufgeschlagen vor sich. Dann schrieb sie Wort für Wort ab, nicht viele Worte, aber schöne Worte. Dann schrieb sie ihrem Mann einen Liebesbrief. Lydia hatte sich in dieser Welt eingerichtet. Sie hatte sich mit ihren Notlügen und Ausflüchten arrangiert. Und sie war auf ihre Art und Weise erfolgreich, denn niemand hat etwas gemerkt. Ein tückischer Erfolg, beweist er doch, wie exotisch das Thema Analphabetismus ist. Nur eines tat Lydia immer wieder aufs neue weh: ihren Kindern etwas vorzumachen. "Wenn sie um Hilfe bei den Hausaufgaben baten, war das für mich jedes Mal die größte Erniedrigung. Ich habe dann immer gesagt, sie sollen warten, bis Papa kommt." Wenn ihr Mann spät von der Arbeit kam, und dann noch bei den Schulaufgaben helfen sollte, gab es natürlich Vorwürfe. Aber er wäre nie auf die Idee gekommen, dass seine Frau nicht schreiben kann. "Ich wusste, dass es Streit geben würde. Aber alles war mir lieber, alles konnte ich tragen, wenn ich nur nicht die Wahrheit sagen musste." Wenn Entschuldigungen für die Kinder geschrieben werden mussten, täuschte Lydia vor, dass sie gerade keine Zeit hätte oder wahnsinnige Kopfschmerzen. "Kannst du das schnell machen?" war wohl eine der am häufigsten von ihr gebrauchten Fragen. Aber ihr Mann hat nichts gemerkt, ihre Kinder haben nichts gemerkt, die Freunde auch nicht. Bereits 1996 führte die OECD einen internationalen Vergleich zur Lese- und Schreibfähigkeit der Bevölkerung in den Industrieländern durch. Schon damals wurde bekannt, dass 14,4 Prozent der deutschsprachigen Bevölkerung die unterste Fähigkeitsstufe in Lesen und Schreiben nicht erreichen. Marie-Luise Oswald beklagt, dass die Verantwortlichen darauf nicht reagiert haben. "Es hatte schon seinen Sinn, dass es früher einmal Unterricht im Schönschreiben gab und Zensuren von der ersten Klasse an vergeben wurden", sagt sie. So antiquiert ein Fach Schönschreiben auch sein mag, zu leugnen ist es nicht, dass sich Buchstaben so besser einprägen und das ästhetische Empfinden für die Sprache geweckt wird. Krankenschwester wollte Lydia einmal werden. Das war ihr Traum. "Ich hoffe, dass mir das Arbeitsamt den Unterricht im Verein noch bis zum September kommenden Jahres finanziert. Dann möchte ich gern wieder als Altenpflegerin arbeiten. Das habe ich vorher auch gemacht, bis ich an der Schrift gescheitert bin." Ob sie ihren Kindern einmal sagen wird, dass sie erst mit 41 Jahren lesen und schreiben lernte, weiß sie nicht. Später, sehr viel später vielleicht; wenn es auch für sie eine Selbstverständlichkeit geworden ist. Bisher hat sie ihnen nur gesagt, sie mache eine Umschulung in Charlottenburg. Und sie hofft, dass ihre Tochter nicht auf die Idee kommt, sie eines Tages dort abholen zu wollen. Kleine Lügen gehören immer noch zu den Requisiten ihres Lebens.
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