Leben als Gartenbau Bevor Martha starb, sagte sie: Denk an die Schneckenfallen. Schade um das gute Bier, hatte Hans gesagt. Waren das wirklich ihre letzten Worte?
Wie war das? frage ich, weil ich nach Monaten den Mut gefunden habe, das Haus zu betreten, das für mich noch immer das Haus von Hans und Martha ist.
Wie war das, als er sie fand, in dieser unmöglichen Position, der Kopf so dicht vor dem knisternden Fernsehschirm, seit Jahren hat er gesagt: wie hältst du das aus, Martha, dieses Geplapper, aber Martha hatte gesagt, sieh dir diese Mädchen an, und da hat er zum Bildschirm hingesehen, hat diese Fummel gesehen, dieses Fast-Nichts, diese mageren Arme, die dünnen Träger der Kleidchen, ja die rührten ihn, diese dünnen Träger rührten sein altes Herz.
Er sei, sagt Hans, dann gleich in den Garten gelaufen. Da stand er zwischen den Rabatten, ging in die Knie, spürte, wie sich die krümelige Erde
#252;melige Erde in seine Haut bohrte, sank mit dem Kopf in die Meerrettichblätter, die dem Himmel entgegenloderten. „Unsere Kinder“, hatten sie gesagt, wenn sie mich im Sommer durch ihren Garten führten. Ihre Kinder: die Zwiebeln und Kartoffeln, die gezwirbelten Salatköpfe, diese Zuckerhutsalate. Ihre Kinder, denn die wahren Kinder hatten es eilig gehabt, das Haus zu verlassen, ohne viel Getöse, wie das wahrscheinlich immer geht. Sie standen auf dem Bahnsteig, mit dem letzten Kind, das ging – wie sie dagestanden hatte, ihre letzte Tochter, mit glänzenden Augen, in der Tasche das eingemachte Gemüse, die Äpfel und Mirabellen. Die Augen der letzten Tochter glänzten, als spiegelten sich schon damals die falschen Versprechen der Stadt darin.Sie probierten immer etwas Neues, sie kosten die prallen Körper der Buschbohnen; unter ihren Händen, die ihr Handwerk verstanden, quietschten die Blätter vor Vergnügen, die Früchte quietschten vor Sinnlichkeit ... nun ja, die Sinnlichkeit, das sei schon seit Jahren ein heikles Thema zwischen ihnen gewesen, sagt Hans.Martha hatte von den Regenwürmern angefangen, als er davon anfing, sieh mal, hatte sie gesagt und ihn vor den Komposthaufen gezerrt. Und er sah, wie die Erde vibrierte von den ekstatischen Tänzen der Würmer.Ich werd’ jetzt reingehen, sagt er, morgen ist der Kirschbaum dran, was soll er mit einem Baum, der auch in diesem Sommer keine Früchte tragen wird. Lass ihn doch, haben Martha und ich im Chor gerufen, wenn Hans wieder einmal drohend vor dem Kirschbaum stand ... Wir werden jetzt reingehen, es wird schon dunkel, wir werden uns die Hände waschen, ich werde mich in den Sessel setzen, der Marthas Sessel ist, aber so wie die Dinge jetzt liegen ...Später, als der Sirenengesang der frühlingsverrückten Vögel verstummt, sieht Hans eine Spielshow, versteht das Spiel nicht, versteht nur, dass hier Leute für ein wenig Klamauk unverschämt viel Geld kassieren. Die Moderatorin ist blond und hat einen dicken Busen, ist dir schon aufgefallen, sagt er, alle Frauen im Fernsehen sind blond – und haben dicke Busen, aber das behält er für sich.Er führt das Bierglas an den Mund, riecht den Meerrettich, der Geruch krallt sich an seine Nasenwände wie ein böses Tier. Er setzt das Glas auf dem Tisch ab, schnüffelt an seiner rechten Hand, den ganzen Nachmittag hat er gekämpft, ich sah ihn von Marthas Sessel aus durch das Panoramafenster, wenn ich mich um 90 Grad um meine Achse drehte, vermutlich hat er die Renitenz des in tieferen Lagen noch immer gefrorenen Bodens unterschätzt. Zum Schluss sah ich, wie er den Spaten zur Seite schleuderte, die Ärmel hochkrempelte, mit bloßen Händen immer mehr von der schweren Erde aus dem tiefen Loch schaufelte ...Aber jetzt fühlt er sich gut, ich sehe es ihm an und reiche ihm das Glas mit dem kellerkalten Bier. Er sieht wie ein Sieger aus.Worüber habt ihr geredet an diesem einen Spätsommernachmittag? Martha hatte gesagt: Denk an die Schneckenfallen, eigentlich schade, das gute Bier, hatte er gesagt, waren das wirklich die letzten Worte?In den letzten Jahren hatte er vermieden, sie anzusehen, wusste doch, wie sie aussah, wie das Licht der Nachttischlampe Marthas schwere Figur abtastete. Hat sich immer gleich auf die Seite gedreht, Nacht, Martha, schlaf gut, Martha, ein paar letzte Worte in die Dunkelheit geschickt, wo sie Marthas Murmeln vielleicht berührten.Er hat sie aufgerichtet, an jenem Spätsommernachmittag, schließlich konnte er sie so nicht lassen, in dieser unmöglichen Position, kniend vor dem Fenster, und hinter dem Fenster waren an jenem Nachmittag die Bohnen an ihren Stangen schon wieder höher geklettert.In den Nächten danach lagerte er vor der schützenden Höhle des Schlafs, lag da, hoffte vergeblich auf Einlass, begann zu begreifen: all das Gemüse, all dieses Obst, angepflanzt, ausgesät mit gekrümmtem Rücken, geerntet mit gekrümmtem Rücken – was sollte das jetzt noch ...Martha hatte immer sagte, wenn er murrte: Was hätten wir gegeben für ein paar Blätter Spinat, damals. Also hatte er sich weiter im Brombeerdschungel die Hände rot und blau gestochen, und die schweren Kürbisse hatten wie Könige auf dem Kompost gethront. Martha, hatte er gedacht, all diese ins Maßlose schießende Vegetation.Morgen, sagt Hans, mehr zu der abwesenden Martha als zu mir, ist der Kirschbaum fällig.Aber am nächsten Tag regnet es. Es ist ihm recht, der Sinn steht ihm nach Unternehmungen anderer Art.Er geht ins Schwimmbad, er ist noch immer ein guter Schwimmer, hat noch immer den langen Atem eines jungen Mannes, er taucht, taucht von einem Beckenrand zum andern, die Strömung streicht ihm das dichte, schuhcremeschwarze Haar aus dem Gesicht, zärtlich wie eine Frauenhand.Beine schwimmen an ihm vorbei, Frauenbeine, um diese Zeit sind fast nur Frauen im Schwimmbad, Frauen, die nicht mehr jung sind. Er sieht es an ihren Beinen: müde Venen schlängeln sich wie Laufmaschen die Unterschenkel hinauf, manchmal bis zu den Oberschenkeln. So schweben sie an ihm, dem Taucher mit dem jungen Atem, vorbei. Am Ende des Beckens taucht er auf, und ich sehe sein Herz: eine junge, rebellische Faust.Einmal hätte er auf die Knie sinken mögen und um Vergebung bitten. Martha lag im Krankenhaus, eine Frauengeschichte, wie sie es nannte, er war dankbar, dass sie nicht mehr verriet. Sie saß aufrecht im Bett, sie trug dieses Nachthemd, rosa mit aufgestickten Röschen, und die weiße Häkeljacke, erinnerst du dich, fragt Hans, wochenlang hatte sie an dieser Jacke gearbeitet, jeden Abend hatte sie abwechselnd auf den Klamauk im Fernsehen geguckt, und dann wieder mit einer Miene, die alles Wissen um Frauenleid einschloss, auf diesen weißen Teppich gestarrt, der unter ihren Händen wuchs. Wie er dagesessen hatte, neben ihrem Bett, auf einem ungepolsterten Stuhl, die Lehne boxte ihm ins Kreuz wie eine züchtigende Hand, dagesessen hatte er wie ein Schüler beim Nachsitzen und auf ihre Haut am Hals gestarrt, dieses Stück Haut, das nicht zugewachsen war von all diesen Rosen und Röschen. Was sollte er sagen, also redete er von den Erdbeeren, dieser ewige Regen, sprach er, sie werden uns noch alle verfaulen, und sie, Martha, hatte gleich nach den Schnecken gefragt und dass er ja daran denken solle, das Starennetz über den Baum zu ziehen, die wenigen Kirschen, hatte sie gesagt, die werden wir nicht diesen kleinen Monstern überlassen. Ja, so war Martha, sagt Hans.Das ist jetzt Monate her, ich fühle die glatt polierten Lehnen von Marthas Sessel, fühle die gestaute Wärme unter dem gehäkelten Plaid, das mir Hans auf die Knie gelegt hat.Abends schlüpft er jetzt zufrieden in den Honiggeruch des ungemachten Bettes. Er schnüffelt die Süße, er macht die Betten nicht mehr, er schüttelt nicht die Kissen auf, zieht die Laken nicht glatt.Weißt du, sagt Hans, meine Martha: lag immer da wie eine stumme Dulderin mit Augen, die nichts sehen wollten.Er fand sie in dieser grotesken Pose, kniend, als hätte sie zum Schluss in die Welt des Klamauks und Geschwätzes hineinkriechen wollen. Ihre Augen waren geöffnet, Licht floss ihr über die linke Schulter. Man konnte meinen, dass sie im Moment des Fallens die Augen zum Panoramafenster gerichtet und in den Garten gesehen hatte. Wo die Bohnen schon wieder höher geklettert waren.
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