Sterbehilfe

IM PRIVATEN WOHNZIMMER Ein Theaterabend über Krankheit und Tod

Ständig sterben irgendwo Menschen. Man sieht schreckliche Bilder im Fernsehen und in den Zeitungen. Aber mit diesen Bildern hat es eine besondere Bewandtnis: Sie vermitteln dem Betrachter die Gewissheit, dass er oder sie von den Katastrophen, die auf den Bildern ihre Spuren hinterlassen haben, garantiert nicht in Mitleidenschaft gezogen wird. Das Bild bannt die eigene Todesangst.

Etwas anderes ist es, mit unheilbaren Krankheiten konfrontiert zu werden. Sie wecken Vorstellungen vom Tod, der praktisch überall lauert, im Prinzip jeden treffen könnte und deshalb ein unentrinnbares Schicksal darstellt. Solche Krankheiten werden, wie Susan Sonntag in Krankheit als Metapher gezeigt hat, auf eine Weise mystifiziert, die in Ermangelung eines äußeren Feindes dazu dient, die Kriegführung in den modernen Industriegesellschaften ins Körperinnere zu verlagern. Symptomatisch für den Umgang mit "modernen Krankheiten" wie Krebs und Aids ist eine eigenartige Ambivalenz von Vergesellschaftlichung und Individualisierung: Während einerseits die tendenziösen, staatlichen Kampagnen gegen Krebs oder Aids dazu dienen, die Angst vor dem Tod zu vergesellschaftlichen und die Illusion vom gesunden "Volkskörper" zu nähren, werden die Kranken selbst individualisiert und isoliert. Die Schuld an der Krankheit wird immer auch bis zu einem gewissen Grad den Patienten selbst zugeschrieben.

Ein Theaterstück, das diese Problematik erfahrbar macht, hat die niederländische Dramatikerin Suzanne von Lohuizen geschrieben. In Dossier: Ronald Akkerman (1995) begegnet die Krankenpflegerin Judith "ihrem" gerade verstorbenen Patienten Ronald Akkerman, den sie bis kurz vor seinem Tod betreut hat. Diese dramaturgische Konstruktion vermeidet jegliches Pathos. Der Schauspieler, der den verstorbenen Aids-Patienten spielt, muss nicht den Vorgang des Sterbens darstellen, sondern spricht als quicklebendiger Widergänger darüber, wie es ist, wenn die körperlichen Kräfte stetig nachlassen und man zum Pflegefall wird. Anfangs hasst er die "Nachtigall", wie er spöttisch seine Pflegerin in Anspielung auf Florence Nightingale nennt, für ihre professionell geleisteten Dienste. Die Professionalität zeichnet sich ja gerade dadurch aus, dass die Pflegerin versucht, die Distanz zu wahren, nichts persönliches von sich zu zeigen, während sie gleichzeitig mit den intimsten Dingen ihres Patienten zu tun hat. In der imaginären Begegnung kehrt sich diese Hierarchie um: Ronald Akkerman spaziert durch das Wohnzimmer seiner Pflegerin, blättert schamlos in ihrem Fotoalbum und erfährt, wie sehr der Pflegedienst das Leben von Judith bestimmt hat. Die ganz besondere Qualität dieser Beziehung, in die der oben skizzierte Konflikt zwischen gesellschaftlichem Umgang mit Krankheit und Tod und individueller Biografie eingeschrieben ist, wird so begreifbar: Er hätte im fortgeschrittenen Stadium seiner Krankheit ohne ihre Hilfestellung nicht mehr existieren können, und sie wurde durch ihre Arbeit an die Grenzen der Selbstverleugnung geführt. Schließlich setzt er durch die Inanspruchnahme von Sterbehilfe dieser merkwürdigen Symbiose ein Ende.

Lutz Gajewski, der für dieses Projekt das "Living Room Theater" gegründet hat, und Nomena Struß spielen dieses Stück als szenische Lesung, eingerichtet von der Regisseurin Sybille Linke, in Berliner Privatwohnungen. Zwanzig bis dreißig Zuschauer, je nach Größe der jeweiligen räumlichen Gegebenheiten, versammeln sich zu dieser ungewöhnlichen Form eines intimen Zimmertheaters.

Da vermutlich fast jeder heutzutage schon einmal mit einer vergleichbaren Krankengeschichte in seinem privaten Umfeld konfrontiert war, ist die Atmosphäre angenehm entspannt, fast familiär - genau auf der Grenze von öffentlich und privat, die dieses Theaterstück verlangt. Unprätentiös, distanziert, in einem Gestus des Erinnerns rekapitulieren die beiden Figuren Stationen ihrer ungewöhnlichen Begegnung und streiten noch einmal in den Rollen des wehleidig-tyrannischen Patienten und der disziplinierten Krankenschwester miteinander. Trotz unversöhnlicher Differenzen steht am Schluss immerhin so etwas wie gegenseitiger Respekt.

Der Abend dauert gut eine Stunde. Immer wieder verstummt der Text. Nicht zuletzt dieses Schweigen macht die Aufführung zu einem ungewöhnlich intensiven Erlebnis.

Weitere Aufführungstermine und -orte im Mai und Juni vermittelt Lutz Gajewski unter Tel: (030) 6948754.

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