Am 7. Oktober 1949 vollzog sich mit der In-Kraft-Setzung der Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik auf dem Gebiet der 1945 eingerichteten Sowjetischen Besatzungszone in Deutschland die Gründung des deutschen Oststaats. Auf dem Boden des von den Alliierten suspendierten deutschen Gesamtstaats vollendete sich jene Staatsverdoppelung, deren erster Akt die Gründung der Bundesrepublik Deutschland auf dem Territorium der drei westlichen Besatzungszonen gewesen war, vier Jahre nach jenem 23. Mai 1945, an dem die Vier Mächte die letzte deutsche Reichsregierung abgesetzt und inhaftiert hatten.
Es fällt nicht schwer, in der doppelten Staatsgründung des Jahres 1949 den Widerschein jener Doppelherrschaft zu erkennen, die nach dem Ende des ersten Weltkriegs entstanden
entstanden war, als ein zeitweiliges Nebeneinander von Rätedemokratie in Gestalt jener Arbeiter- und Soldatenräte, die als Organe der Revolution fungierten, und jener parlamentarisch-konstitutionellen Herrschaft, die in die Wahlen zur Weimarer Nationalversammlung eingemündet war. Dass die so entstandene Republik erfolgreich gewesen sei, konnte niemand behaupten; dieselben reaktionär-militaristischen Kräfte, die damals eine revolutionsscheue SPD-Führung gegen die Rätedemokratie unterstützt hatten, servierten 1932 die sozialdemokratische Preußen-Regierung ab und bahnten der Hitler-Diktatur einen Weg, der 1933 über jenes Ermächtigungsgesetz führte, zu welcher auch die bürgerliche Mitte ihre Hand bot, nicht nur die Deutsch-Nationalen, sondern auch das katholische Zentrum und die Abgeordneten der liberalen Parteien. Nur die beiden tief verfeindeten Arbeiterparteien verweigerten am 23. März 1933 ihre Zustimmung zu dem von Hitler geforderten Verfassungsbruch.16 Jahre später, nach einer nationalen und europäischen Katastrophe, die mit der Abtrennung eines Viertels des deutschen Staatsgebiets geendet hatte, schritten die beiden Lager dieser den Verfassungsstaat beendenden Abstimmung - die bürgerliche Mitte, die dem Druck gewichen war, und die proletarische Linke, die widerstanden hatte - zu je eigenen Staatsgründungen; sie taten es unter der Direktion der jeweiligen Besatzungsmächte, zeitlich versetzt und auf verschiedene Weise. Es waren die West-Alliierten, die auf dem Wege der Spaltung vorangegangen waren, von jener Londoner Konferenz im Februar 1948 an, auf der die USA und fünf westeuropäische Staaten nach Vorentscheidungen im Sommer 1947 die Weichen für die wirtschaftliche Verselbständigung der drei westlichen Besatzungszonen gestellt hatten. Die Sowjets, sich ausgeschaltet und düpiert fühlend, hatten mit einem kommunistischen Umsturz in der Tschechoslowakei und mit dem Auszug aus dem Berliner Kontrollrat reagiert, dem Zentralorgan der Vier-Mächte-Politik in Deutschland.Von da an war kein Halten mehr auf dem Weg der Staatsverdoppelung. Der Währungsreform in den Westzonen, die nicht nur das Vier-Mächte-Deutschland, sondern auch das Vier-Mächte-Berlin wirtschaftlich zerriss, war die östliche Währungsreform und unmittelbar darauf eine Landwegesperrung von und nach den Berliner Westsektoren gefolgt, die Berliner Blockade. Der Verfassungsausarbeitung in den vereinigten Westzonen folgte auf östlicher Seite eine Verfassungsausarbeitung durch den Ausschuss eines Gremiums, das Deutscher Volksrat hiess und auf einer Volkskongressbewegung »für Einheit und gerechten Frieden« beruhte, die sich, Ende 1947 gegründet, im Mai 1949 den Bürgern der sowjetisch besetzten Zone mit einer Einheitsliste zur Wahl gestellt hatte; sie hatte, so die offizielle Lesart, ca. 60 Prozent Ja-Stimmen bekommen. Von der Rätedemokratie des Jahres 1918/19 unterschied diese Volkskongressbewegung sich durch die Einbeziehung bürgerlicher Kräfte, deren Spielraum sich in dem Maß verengte, wie die westdeutsche Staatsgründung und dann die Integration der Bundesrepublik in die westeuropäischen Wirtschafts- und Militärstrukturen voranschritt, die deutsche Teilung dergestalt immer weiter vertiefend. Doch verhinderte die heftig umstrittene bürgerliche Mitwirkung an Volksrat und Volkskongress, dass der deutsche Oststaat einen Weg ging, wie ihn seit dem Februar 1948 die tschechoslowakische Republik einschlug; dort hatte der Auszug aller bürgerlichen Minister aus der Prager Mehrparteienregierung der Kommunistischen Partei freie Bahn für eine Totalverstaatlichung auf allen Gebieten gegeben. Sie konnte in der DDR, bis 1972 auch auf industriellem Gebiet, abgewendet werden; auch die Kirche behielt ihre Unabhängigkeit.Josef Stalin, der Generalissimus, in dessen Namen und unter dessen Führung die Völker der Sowjetunion den Menschheitsfeind Hitler-Imperialismus mit ungeheuren Opfern niedergerungen hatten, zögerte lange mit seiner Zustimmung zu einer Staatsgründung, die dann am Vormittag des 7. Oktober in dem einzigen unzerstörten Saal der Berliner Wilhelmstraße, unmittelbar an der Sektorengrenze, stattfand. Nur zu genau wusste er, dass der kleine, wirtschaftlich schwache, von Reparationen und anderen Kriegsentschädigungen belastete Teil Deutschlands, der unter seiner Herrschaft stand, gegenüber dem dreimal so großen, schwerindustriell fundierten Westzonenverbund den kürzeren ziehen müsse, dies um so mehr, als in der sowjetisch besetzten Zone eine umfassende Entmachtung jener agrarischen und großindustriellen Schichten stattgefunden hatte, die an dem aggressiven Nationalismus des Hitler-Staats maßgeblichen Anteil gehabt hatten.Erst vier Monate nach der Gründung des Weststaats gab der Sowjetdiktator freie Bahn für dessen Berliner Pendant; erst, als die am 15. September in Bonn vollzogene Kanzler-Wahl Konrad Adenauers keinen Zweifel an der einseitigen Westorientierung der rheinbündischen Gründung ließ (Adenauer wurde mit einer Stimme Mehrheit zum Kanzler einer Republik gewählt, die sich, zum ersten Mal in der deutschen Geschichte, den Namen Deutschland als Staatsnamen beilegte), gab der sowjetische Staatschef das im Westen seit langem Erwartete frei: die Gründung einer deutschen Republik auf dem Territorium der sowjetischen Besatzungszone, deren Militär administration am 10. Oktober ihre Verwaltungsfunktionen - noch lange nicht die staatliche Souveränität - auf die Organe eines Staates übertrug, der sich durch seine Verfassung als unmittelbar gesamtdeutscher bestimmte. »Deutschland«, erklärte Artikel 1 dieser Verfassung, »ist eine unteilbare demokratische Republik; sie baut sich auf den deutschen Ländern auf.«Die Verfassung des neuen Staates, deren im Deutschen Volksrat erarbeiteter Entwurf auch öffentlich erörtert worden war, sprach an keiner Stelle von Sozialismus, aber sie verbürgte das Recht auf Arbeit, auf Wohnung und auf gewerkschaftliche Mitbestimmung und enthielt planwirtschaftliche Orientierungen ebenso wie Verstaatlichungsbestimmungen gegenüber Bodenschätzen und Schwerindustrie, nicht aber gegenüber privatwirtschaftlicher Tätigkeit im allgemeinen. Sie war eine radikal-sozialdemokratische Verfassung, in der das Widerspiel von Regierung und Opposition weder ausgeschlossen noch ausdrücklich vorgesehen war; obschon von Parteien nirgendwo die Rede war, zielte sie auf die Bildung von Allparteienkoalitionen. Erst 1968 wurde diese Gründungsverfassung der DDR durch eine ausdrücklich sozialistische Verfassung abgelöst, mit festgeschriebener Führungsrolle der Arbeiterpartei; sie bestimmte den so fixierten Staat zum politischen wie ökonomischen Scheitern.Ein sich als vorläufig definierendes Parlament, der sich zur Volkskammer konstituierende Deutsche Volksrat, hatte am 7. Oktober eine Staatsgründung vollzogen, die zuletzt dieselbe rechtliche Basis besaß wie sein am Rheinufer nach der entgegengesetzten Seite strampelnder siamesischer Zwilling: jene Deklaration vom 5. Juni 1945, mit der sich die Besatzungsmächte zu Staatsgründungen auf deutschem Boden selbst ermächtigt hatten, im Rahmen einer deutschen Staatsexistenz, die sie nicht aufgelöst, aber suspendiert und gleichsam einbehalten hatten. Weder im Osten noch im Westen wurde diese besatzungsrechtliche Basis hervorgehoben, sie verstand sich von selbst; das Grundgesetz im Westen, die Volksratsverfassung im Osten konnten beide nur durch die jeweiligen Besatzungsmächte in Geltung gesetzt werden. General Tschuijkow, der Chef der Sowjetischen Militäradministration, ein russischer Armeeführer jüdischer Herkunft, der bei Stalingrad entscheidenden Anteil an dem Sieg über die deutschen Usurpatoren gehabt hatte, machte bei der Übergabe der Verwaltungsfunktionen an die Repräsentanten des jungen Staates einen spezifischen Aspekt geltend: »Die Schaffung der Bonner Separatregierung«, erklärte er in Berlin-Karlshorst, stelle »eine grobe Verletzung der Potsdamer Beschlüsse« dar, in denen die Alliierten die Verpflichtung übernommen hätten, »Deutschland als ein einheitliches Ganzes zu betrachten«.Was hätte näher gelegen, als dass diese beiden deutschen Teilstaaten, in all ihrer historisch begründeten Verschiedenartigkeit, alsbald in Verbindung getreten wären, um nach Wegen zur Behebung ihrer Doppelexistenz und zur Milderung von deren Folgen zu suchen. Schon im Oktober 1950 erging, ohne jede Vorbedingung, vonseiten der Regierung des deutschen Oststaats ein dringliches Angebot dazu; es blieb ohne Antwort, wie alle ihm folgenden. Es bedurfte schmerzhaft einschneidender Ereignisse, bis die beiden deutschen Teilstaaten des Jahres 1949 in eine politische Beziehung zueinander eintraten, die, nach schwierigen Anfängen, schließlich in einem Bonn-Besuch des DDR-Staatsoberhaupts kulminierte. Zwei Jahre später öffnete sich die Berliner Mauer; das drakonische Element europäischer Blockkonfrontation und Sicherheitspolitik war überflüssig geworden. Weitere zehn Monate später gelang in Moskau jener Friedensvertrag der Vier Mächte mit den beiden deutschen Staaten, der den einheitlichen deutschen Staat wieder in Kraft setzte. Es hatte lange gedauert. Aber es war friedlich abgegangen.
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