Der Wasserdampf in der Luft hatte seine höchste Spannkraft, und die Feuchtigkeit der Luft war gering. Mit einem Wort, das das Tatsächliche recht gut bezeichnet, wenn es auch etwas altmodisch ist: Es war ein schöner Augusttag des Jahres 1913." So heisst es im ersten Absatz von Musils Mann ohne Eigenschaften. Wasserdampf in der Luft fasziniert die Erzählerin von Tanja Dückers´ Roman Himmelskörper auch zu Beginn des 21. Jahrhunderts, jedoch erst unter der Bedingung, dass er die sichtbare Form von Wolken annimmt. Einer bestimmten Wolke jagt die als junge Berliner Metereologin beschriebene Ich-Erzählerin nach, dem "cirrus perludicus", der allerdings schwer zu beobachten ist, weil er sich hoch oben in der Stratosphäre bildet. Erst am Ende des Romans d
Ende des Romans darf die Digitalkamera der Wolkenforscherin das Bild des gesuchten Cirrus erhaschen. Bis dahin sieht sich die Erzählerin unten auf der Erde jedoch in Ermittlungen ganz anderer Art verwickelt.Mit der Vergangenheit der mittelständischen Arztfamilie, der sie entstammt, ist, stellt sich allmählich heraus, keineswegs alles so wunderbar in naziferner Ordnung, wie es den Kindern, der Erzählerin Freia und ihrem Zwillingsbruder Paul, angedeutet worden war. Dass die Großeltern aus Königsberg stammende Ostflüchtlinge waren, hieß ja weiter noch nichts; der Großvater hatte in Russland ein Bein verloren, das war für sich nichts Verdachterregendes. Unter dem in der Familie oft erwähnten "Krieg" konnten sich die Enkelkinder nicht viel vorstellen: bezeichnete er "eher einen Ort oder ein Ereignis?", fragen sie sich. In Warschau gab es zudem einen Onkel Kazimierz, der zum polnischen Zweig der Familie gehörte und - von der Mutter der Erzählerin häufig und heimlich besucht - dem deutschen Teil eine Art Absolution zu erteilen schien. Doch an ein bestimmtes Familiengeheimnis, das mit dem Kürzel "Schiff" bezeichnet wurde, durfte nicht gerührt werden.Auf einem Schiff, erfährt die Erzählerin nach und nach, waren die Großeltern mit ihrem damals fünfjährigen Kind, der späteren Mutter der Erzählerin, von Gdingen aus in den Westen entkommen, und zwar an jenem 30. Januar 1945, um den sich in Grass´ Im Krebsgang die gesamte nationale Geschichte dreht. Doch während Grass die Ereignisse an diesem Datum einschließlich Versenkung der "Gustloff" in ideologischer Absicht zur deutschen Passionsgeschichte verrührt, wirft Tanja Dückers einen ebenso nüchternen wie durch Recherchen geschärften Blick auf die Umstände der Flucht aus dem Osten. Die bei Grass zum schwimmenden klassenlosen KdF-Paradies veredelte "Gustloff" verwandelt sich bei Tanja Dückers in das zurück, was sie während der Kriegsjahre gewesen ist, nämlich ein Kriegsschiff, auf dem Marinesoldaten zu U-Boot-Besatzungen ausgebildet wurden.Das große Schiff, berichtet die Erzählerin, war manchen Fluchtwilligen als Fluchtfahrzeug unheimlich, auch weil sein Kurs das U-Boot-verdächtige Tiefwasser der Ostsee ansteuerte. Begehrt waren deshalb Plätze auf kleineren, küstenwassertauglichen Fahrzeugen. Die konnte jedoch nicht jeder bekommen; mit der Nazipartei musste man schon auf gutem Fuß gestanden haben. Wie schafften es nun die angeblich nazifeindlichen Großeltern, an Bord des Torpedoboots Theodor zu gelangen, das dann auch sicher die westliche Ostsee erreichte?Es war die fünfjährige Renate, die spätere gut linksliberale Arztfrau und Mutter, erfährt die Tochter aus dem Mund der sich zögernd äußernden Großmutter, die der Familie am Kai von Gdingen Zutritt zum rettenden Torpedoboot verschaffte: auf den Schultern der Mutter hockend, riss das Kind im rechten Moment das Ärmchen zum Hitlergruss hoch, und die Passage war frei. Von ungefähr kam die Geste nicht, denn das Mädchen war schon zuhause, kommt heraus, angehalten worden, über widerborstige Nachbarn und Spielkameraden Strichlisten zu führen. Beim Ausräumen der großmütterlichen Wohnung bringen dann Funde von Glückwunschkarten an Göring und ähnliche Devotionalien ans Licht, wie innig die Großeltern mit den Nazis verbandelt waren.Gegen den jüngst wieder aufgewärmten, national-masochistisch eingefärbten Mythos vom verleugneten Leiden unschuldiger deutscher Ostflüchtlinge setzt die junge, 1968 geborene Berliner Autorin Tanja Dückers dieses bemerkenswerte Buch, das sehr viel mehr ist als ein Anti-Grass-Manifest: literarisch klug aufgebaut, kratzt es behutsam am Hochglanz einer Familienlegende, bis es am Ende deren Kern freilegt, der in nuce deutsche Lebenslügen enthält. Völlig anders als Grass steuert die Autorin jedoch nicht geradewegs und stur auf ihr Thema zu. Eingebettet wird die Fluchtgeschichte in die Erzählung von der "éducation sentimentale" eines am Rand Westberlins aufwachsenden Mädchens, das sich schon früh weigert, die Mädchenrolle anzunehmen. Soll ich kochen lernen, nur weil ich Blut in der Unterhose habe?, fragt sich die Pubertierende. Sie zieht die Gesellschaft von Jungen jener von Mädchen vor, lässt sich die Haare abschneiden, spielt Fußball und teilt mit ihrem malenden Zwillingsbruder die Leidenschaft für Himmelserscheinungen. Nach der Schule wählt die junge Studentin das Fach Meteorologie. Wenig in dieser Entwicklungserzählung deutet darauf hin, dass sie gegen Ende politisch wird.Der Autorin ist es allerdings nicht immer gelungen, für die verschiedenen Etappen der Geschichte ihrer Erzählerin überzeugende Erzählformen zu finden. Eine Reise nach Warschau, die Freia, die Erzählerin, mit ihrem Freund Wieland unternimmt, wird etwa in der spannungsarmen Gestalt eines kulturhistorisch angereicherten Erlebnisberichts wiedergegeben. Der Anlass zu der Warschaureise, der rätselhafte Suizid des Onkels Kazimierz, den die Erzählerin aufzuhellen hofft, bleibt als Motiv dabei in der Luft hängen. Psychologisch merkwürdig unvorbereitet ereignet sich danach das schwule Coming-out des Freundes Wieland, der sich ausgerechnet mit Freias geliebtem Bruder zusammentut; mit Worten, die einem Beratungsbuch für irritierte Partner oder Eltern entnommen sein könnten, lässt die Autorin den Gewendeten der Verlassenen formelhaft erklären: "Freia...du bist ein...modernes Mädchen...und du wirst verstehen..."Literarisch festeren Tritt fasst Tanja Dückers paradoxerweise dann, wenn sie sich, nach Aufhellung der politischen Familienverstrickungen, zu den Wolken erhebt, denen die Leidenschaft ihrer Erzählerin gilt. Zweihundert Jahre nach dem Briten Luke Howard hat diese sich in den Kopf gesetzt, die Sprache der Wolken noch vollständiger zu entziffern und ihre Grammatik zu schreiben. "Der Himmel war mir lieber", sagt die Erzählerin beim Gedanken an die trüben Meerestiefen, in denen zur Erzählzeit die Estonia versunken ist. Die Himmelskörper vermag die Autorin tatsächlich mit mehr Leben zu erfüllen als menschliche Körper und die Seelenregungen, die sie umtreiben.Tanja Dückers: Himmelskörper, Roman. Aufbau Verlag, Berlin 2003, 319 S., 16,90 EUR
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