Und das war nur der erste Engel von sieben, die alles Leben heimsuchten, dass dem Rest der Erdbevölkerung der Arsch ging ...
Was weiß der gemeine Deutsche heute noch vom Engel? Dunkel wahrscheinlich, dass der Herr den ersten Heimatvertriebenen an der Rückkehr in sein Paradies derart hinderte: "und lagerte vor dem Garten Eden die Cherubim mit dem bloßen, hauenden Schwert, zu bewahren den Weg zu dem Baum des Lebens." Dann erinnert er sich an die Verkündigung der unbefleckten Empfängnis und vielleicht noch der Geistflügler, die nach Ostern den verblieb
ht noch der Geistflügler, die nach Ostern den verbliebenen Jesusfans die Grabplatte zur Seite schupften, damit sie zu glauben vermochten, dass er sich zum Vater gerollt hatte. Aber völlig vergessen ist, dass jeder Engelsauftritt mit einem Schrecken für die Sterblichen einherging, der sie in den Staub zwang und an den Rand des Todes. Und sonst und heute?Lassen wir die Praktikerin sprechen. Frau Schuster von "Ave Maria", einem schönen, wohlriechenden Laden in der Berliner Potsdamer Straße, wo der Gläubige seinen Bedarf an Devotionalien, Literatur, Duftstoffen und wohltuenden Lichtern decken kann, und deren Partner, Herr Funk, Hand anlegt, wenn es darum geht, einem Kunden einen kleinen Hausaltar, eine stilvolle Gebetsnische in die Wohnung zu drechseln. Ein Laden des durchaus gehobenen Geschmacks, wenngleich auch das Kitschbedürfnis trauriger oder vertrockneter Seelen gestillt werden muss, denen die atheistischen Hordenführer des Ostens mit der völlig sinnentleerten "Jahresendzeit-Flügelfigur" nichts zu bieten hatten. Und auch aus jenen Bevölkerungskreisen, deren Religionen mit unmenschlichen Bildverboten Leben und Glauben über Gebühr schwer machen, huschen verschämte Gläubige durch die bunte Fülle, um ihrem Gemüte aufzuhelfen.Schuster Funk sind katholisch, bekennend und praktizierend. Sie führen keinen Trendladen, bedienen keinen Yuppie-Zynismus, fieseln keine kurzfristige Mode in einer temporären Nische ab: die Jungfrau Maria als Kondomschrein, der Jesusbub als Abzugsgriff im Gästeklo. Sie sind katholisch und mit Engeln groß geworden und dennoch sagt jetzt (endlich) Frau Schuster: "Ich kann´s nicht mehr hören. Wenn ich das Wort Engel noch oft höre wird mir schlecht." Frau Schuster ist Opfer der "Engelkonjunktur", des "Engelbooms" der letzten Jahre. Vor wenigen Monaten sprach sie noch mit leichter Ironie nachsichtig vom zeitgeistlichen gebrauchten Engel als "Teddybär mit Flügeln". Was geschieht da?Vielleicht möchte der Leser zuerst die Frage diskutieren, ob es Engel tatsächlich gibt? Ich fordere zu einem kleinen Experiment in praktischer Phantasie auf: Stellen Sie sich einmal in Berlin-Lichtenberg an die Frankfurter Allee ( Sie können das an jeder beliebigen Durchfahrtsstraße in Ihrer Heimatstadt verifizieren - außer in Magdeburg ), versuchen Sie, die mit Hilfe der Ampelschaltungen zu überqueren. Na? Da bricht es wie Schuppen von den Augen: Gäbe es keine Engel - hier Schutzengel -, müsste die Stadtreinigung mehrmals am Tag die Alten, Mühseligen Beladenen von der Straße schaufeln. Nicht wenige Engelkundige sind deshalb der Auffassung, dass jeder Mensch, gläubig oder ungläubig, seinen Schutzengel hat. Müssten also zur Zeit allein von jener Spezies sechs Milliarden herumflattern - falls sie Flügel haben, was wiederum umstritten ist. Engelhistoriker behaupten, dass ihnen die Flügel erst im vierten Jahrhundert n. Chr. gewachsen wären. Ernsthafte Engelforscher sprechen eher von "Kraftfeldern". Auch hierzu werden uns weiter unten noch intimere Kenntnisse zuwachsen. Sechs Milliarden, das ist eine Zahl, wo beispielsweise der 1999 verstorbene Engelexperte Egon Wenberg bei seinen Vorträgen stimmlich ins Zweifelnde modulierte. Manche favorisieren eine Lösung, bei der ein Engel eine Gruppe gleichgerichteter Menschen, ohne Berücksichtigung deren locations, betreut. Und was ist mit den Tieren? Wenn die auch noch dazukommen? Jedenfalls herrscht übereinstimmend die Auffassung, dass der Herr die Vielzahl seiner Aufgaben ohne die himmlische Heerschar nicht bewältigen könnte. Wenn wirklich mehr als die Hälfte der Amerikaner glaubt, dass es Engel gibt und jeder seinen personal Angel hat, und beinahe die Hälfte der Deutschen dito, dann können Sie machen und denken was Sie wollen. Dann gibt es sie.Während die Gelehrten in Bangkok darüber in Streit geraten sind, ob Bangkok "Stadt der Engel" bedeutet oder "Wald der Affen", stehen am Flughafen Schönefeld Menschen mit umgeschnallten oder ans Wämslein genähten Flügeln im Terminal und mahnen die Sextouristen; fliegen geachtete Berliner Journalisten als Bruno Ganz-Engel-Klone über die neue Mitte und berichten aus der Geistflüglerperspektive; warten in Lanzhou (China) die Menschen auf die Rückkehr zweier Tiefbauengel, die, um den eisernen Yu Gong unter die Arme zu greifen, einst Berge versetzt hatten, in der Hoffnung, sie könnten ihr Werk heute wiederholen, da sie in ihrem Talkessel sonst an der Industrieluft zu ersticken drohen; während Sie bei Schönhauser-Designmöbel Objekte für 4 Mark 95 einen Park-Engel erstehen können, der, wenn Sie bei der Anfahrt zu Ihrem Heimathafen rechtzeitig die flatterfähigen Flügelchen aufziehen, dafür sorgt, dass Ihr Parkplatz frei ist; während die BZ mit der Zeile aufmacht: "Schumi - Crash. Wir danken deinem Schutzengel".Wir sind von Engeln umgeben, ganz wie die Fachleute behaupten. Es sitzen im Turm der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche zum hinterlistig fragenden Gesprächsabend: "Engel - gibt´s die?" vornehmlich evangelische Christen beisammen. "Hinterlistig", weil da keiner ist, auch keiner unter die Vortragenden geladen, der an ihrer Existenz zweifelte. Der Raum ist voll. Mit allen Altersstufen und Geschlechtern. Obwohl die Evangelen ursprünglich, anders denn die katholische Konkurrenz, eher ein bisserl Distanz zu den Engeln hielten - Luther bat den Herren, wenn er vom Engel was wollte -, steht hier mittlerweile die Wartburg offen. Auch wenn Pfarrerin Sylvia von Kekulé gelegentlich wirkt, als wände sie sich unter geradezu körperlichen Schmerzen, so gibt es doch kein Mahnen, oder Einsprechen, gar Widersprechen gegenüber dem, was unter ihrem Dache sich abspielt:Eine Dr. Alexandra Schmidt, Ärztin und Naturheilerin, flirtend mit dem Publikum bis zum Stammeln, stolpert gefährlich über die Schneide zwischen Spiritualität und Spiritismus, von Glauben und Glitzern, ausbreitend, wie der Herr ihr die heilenden Hände führt oder der Engel, oder sie ihr enteignet und für sie führt, am Bett der Kranken, auf der Couch der Praxis. Und dann steht eine junge Unternehmerin auf aus dem Publikum und legt Zeugnis ab, wie sie dreimal am Tag mit ihrem Engel ihre Chakren bearbeitet, wie ihrer Brust Licht entströmt, und sich in ihrer einfachen Küche zum Christusbild mischt. Liebe sei hinfort ihre Berufung, sagt die Jungunternehmerin und setzt sich unter dem - ja wirklich - enthusiasmierten Beifall der Gläubigen.Das sind dann so Momente, wo es Frau Schuster ziemlich schlecht wird. Da kommt sie schon fast ans Kotzen. "Die Evangelischen laden sich noch den Satan unters Dach", sagt sie dann, "wenn´s der Quote dient." Und das sagt nicht nur sie. Der Engel der Jungunternehmerin heißt übrigens "Samuel". Ich hab´ sie gefragt. Das war eine Falle. In Kolumbien, "dem Land mit den meisten Wundern pro Quadratkilometer", so Laura Restrepo in dem Roman Der Engel an meiner Seite, weiß jede analphabetische Slumbewohnerin: "Misstrauen sie immer Engeln, die ihren Namen nennen."Wer war Gerda Fiedler? Wir wissen es nicht genau. Gerda Fiedler war ein Engel in Menschengestalt. Sagen die Eingeweihten. Mitten in Berlin. Es gibt gelegentlich Paarungen von Engeln mit schönen Frauen, denen den Geistwesen besonders nahe Kinder entspringen. Und es gibt inkarnierte Engel. Mensch gewordene. Mutter Theresa soll so einer gewesen sein. Große Musiker oft. Bach zum Beispiel. Musik ist Engelsspeise. Und dem Herrn stehen immer eine Kapelle, ein Chor zur Verfügung.Gerda Fiedler nun war ein Engel in Menschengestalt der Mutter-Theresa-Klasse. Ursprünglich Ballett-Tänzerin eines himmelsmusikalischen großen Berliner Hauses, hielt sie über zwanzig Jahre täglich Zwiesprache mit ihrem Engel. Und dieser Engel ließ sie hinter den Vorhang sehen. Und Gerda Fiedler hatte heilende Hände. Der Herr, oder der Engel des Herrn, ein Heilengel, ein seltenes, hocherfahrenes Exemplar, führte sie. Die letzten zehn Jahre ihres Lebens lag Gerda Fiedler krank und wurde gepflegt. Von Frau Hannelore Kietzmann, die heute ihr Erbe verwaltet und mit einem auserwählten Kreis, einer Hand voll Anhängerinnen, älteren Damen, das Vermächtnis Gerda Fiedlers abschirmt vor der Welt und in Steglitz bewahrt. Ein bisserl egoistisch fast. Auch Dr. Alexandra Schmidt scheint zumindest zum erweiterten Fiedler-Kreis zu gehören. Versuche, ein erkennendes Gespräch zu führen, wurden von beiden Seiten schnöde abgewürgt. Frau Schmidt stellte sich tot. Frau Kietzmann verzichtete nach Lektüre einer Nummer dieser Zeitung. Aber über Gerda hätte sie sowieso nichts erzählt, tröstet sie.Gerda Fiedler hat eine sieben schmale Bände umfassende Angelosophia verfasst, deren erster Band, Ein Tag im Leben eines Engels (1984, Eigenverlag), der nach einigen Mühen zu bekommen war, neben vielem, was uns unklar bleiben muss, doch ein paar Fakten über das Engelswesen enthüllt. Wir können hier nur vereinfachen:Die Engel stehen um 3 Uhr 30 auf. Dann unterrichten und liebkosen sie zuerst die Nachwuchsengel. Die Ausbildung zum Vollengel kann man sich etwa wie die alte deutsche Meisterlehre vorstellen. Die erfahreneren, älteren unterrichten unter Supervision von noch älteren die unerfahrenen und jüngeren, die Schritt für Schritt in Aufgaben und Verantwortung wachsen. Der Körper der Engel ist fast entgrenzt geistig - feinstofflich: so ist er riesig und kann in seinem Faltenwurf den Nachwuchs dicht bei sich halten. Der Fiedler-Engel, nur behelfsweise Gabriel genannt ("...weil sein eigentlicher Name - eine Folge von zwölf Lichtzeichen - nicht in menschliche Sprache umgesetzt werden kann"), gab beispielsweise "zwölfhundert astralen Seelen Wohnung im eigenen Haushalt". Er kann sich aber auch verdichten bis zur Menschengestalt. Seine Fortbewegung ist einerseits ein zeitloses Beamen, funktioniert andererseits so: "Kelchbereich dehnen - Kraft einziehen - Flanken weiten - Kraft in den Steuerungsarm drücken ... Eins - zwei - drei vier Phasen gezielter Kraftverteilung sind Grundlagen für Gleichgewicht und Vorwärtskommen." Muss von Engeljugend an geübt werden. So um sechs macht er sich auf zur Erde, um nach seinen Schutzbefohlenen zu sehen. Erreicht ihn ein Notruf - vielleicht drohender Herzinfarkt - bereitet er den Eingriff vor und mobilisiert den einschlägigen Heilengel. Im ernstesten Fall heilt der "himmlische Herzschrittmacher ... vielleicht durch Zuführung zellbildender Stoffe" - da ist Gerda Fiedler modern, geradezu visionär. Den ganzen Tag wird Gabriel den Schutzbefohlenen umsorgen. Nebenbei durchmisst er Europa und die angrenzenden Gebiete mehrfach, hilft und tröstet wo er kann. Spät kelcht er zum Auftanken zurück zu seinem Engelvater, unter dessen Aufsicht er sich vervollkommnet oder sein Gewand flickt. Dann noch Kontemplation - und ab in die Heia. Mit einer Stunde Schlaf muss er auskommen.Die Frage für den nur allzu Sterblichen ist ja oft: Zufall oder Schutzengel? Gerade aus dem Engelwirkkreis Straßenverkehr wird immer wieder von wunderbaren Errettungen berichtet. Von Menschen, die bremsen, ohne zu wissen warum, und erst Sekundenbruchteile später erschauern, wenn das nicht gesehene, ja bis zu jenem Zeitpunkt unsichtbare Kind, blöde in den Gameboy glotzend, vor seinem Auto über die Straße läuft. Oft ist es aber so, dass, wie Gerda Fiedler im Büchlein dokumentiert, wir gar nicht wissen, was an uns verrichtet wurde. Nachts. Gerade wenn wir morgens uns so aufgeräumt wie aufgehoben fühlen, vielleicht ein bisschen hungrig, große Lust auf ein Nutella-Frühstück haben, gerade dann könnte es sein, dass wir eigentlich des Nachts kurz vor dem finalen Herzkasper standen oder schon hinüber waren, und die Hilfs- und Heilengel ihr Rettungswerk unbemerkt an uns verrichteten.Es ist hier aber auch an zu Herzen gehende Fälle zu erinnern, wo die Dienstleistungen der Engel den Geschützten in ärgste Zweifel und Bestürzung tunken: Ein Alter trat auf, in der Gedächtniskirche, ein Herr durchaus, mit allen Anzeichen der Verunsicherung. Er berichtete, wie er als Bub, gegen Ende des Weltkriegs am Müggelsee zur Heimatfront gezogen, mit Kameraden, sie waren wohl 16, im Unterstand einen Röhrenempfänger zum Empfang von Auslandswellen manipulierte, plötzlich die Röhren ex- oder implodierten, der Kamerad links von ihm schwer verletzt, der rechte aber tot hinsank, während ihm nichts, aber auch nichts geschehen war. Der tote Knabe noch dazu aus einer Familie, die es schon schwer getroffen hatte, mit dem Soldatentod des Vaters. Bisher, so der sichtlich bestürzte Alte, habe er immer geglaubt, der Herr habe seine Hand über ihn gehalten. Nun erfahre er, dass Engel hierfür zuständig seien. Werden die Engel mit ver.di fusionieren? Alles läuft darauf hinaus. In den sozialdemokratisierten Gesellschaften prinzipienloser Pragmatiker ist der konsensunwillige GOTT undenkbar fern. In der Kluft flattern die Sozialarbeiterengel herum. Das Feilschen kann beginnen. Schließlich braucht der Engel als Dienstmann die Menschen, wie der Mensch die Engel braucht. n
×
Artikel verschenken
Mit einem Digital-Abo des Freitag können Sie pro Monat fünf Artikel verschenken.
Die Texte sind für die Beschenkten kostenlos.
Mehr Infos erhalten Sie
hier.
Aktuell sind Sie nicht eingeloggt.
Wenn Sie diesen Artikel verschenken wollen, müssen Sie sich entweder einloggen oder ein Digital-Abo abschließen.