Diesen Spätsommer wollte ich wissen, wie einfache Ukrainer in Zeiten des Kriegs denken. In meiner einstigen Traumstadt Kiew hielt es mich nicht lange. Ausgehend von den 100 Kreuzen auf dem Unabhängigkeitsplatz Maidan lag eine bleierne Schwere über der Stadt. Die wenigen, die abends ausgingen, taten dies oft mit unnatürlicher Ausgelassenheit. Auf der Freizeitinsel Hidropark fehlte wenig, und sie hätten am Tresen kopuliert.
Ansonsten bereiste ich Regionen, die bei Wahlen stets für eine geopolitische Ausrichtung nach Russland gestimmt hatten – den Osten und Süden, von Moskau neuerdings wieder „Neurussland“ genannt. Die Leute schienen unterschiedlich auf den Krieg zu reagieren: In Überlandbussen des Saporischschjaer Gebiets ungewohnte He
ewohnte Herzlichkeit unter Wildfremden. Im Schlafwagen Saporischschja–Odessa hingegen nervlich Zerrüttete: Die schlaflose Dame unter mir, Smartphone-Stöpsel im Ohr, wickelte über Stunden an einem Garnknäuel herum; am Morgen warf sie Kiew einen „völligen Mangel an Konstruktivität“ vor, „immer ist an allem Russland schuld“. Die Schaffnerin verkaufte als einzige Zeitung ein Moskauer Blatt. In Odessa, das auch bei 70 Prozent Belegung seiner Hotels den Eindruck einer pulsierenden Sommerdestination abgab, schimpfte ein Bahnhofstaxler: „Es sind überhaupt keine Touristen da. Ukrainer zählen nicht, die sind zweite Wahl. Russen und Weißrussen, die haben immer gut gezahlt!“Ich fuhr zu den Ukrainern nach Otaci, einer moldawischen Vorstadt der zentralukrainischen Grenzstadt Mogiljow-Podolskij. Ukrainer stellen mit acht Prozent die größte Minderheit Moldawiens, in Otaci die Mehrheit. Die Ukrainer von Otaci nutzen den Markt drüben, viele Kinder gehen dort in die ukrainische Schule. Der Grenzposten an der Dnjestr-Brücke ist das eigentliche Zentrum von Otaci. Männer sitzen auf Paletten und spielen Karten. Bei Nacht gehen die Türen eng geparkter Kastenwagen auf, bis oben gefüllt mit Kartons reifer Pfirsiche. Die Gegend lebt vom Obstexport nach Russland, aber dessen Regierung hat wegen Moldawiens EU-Assoziierung die Obsteinfuhr gestoppt. Es gab ein paar Verhandlungen, müde und sinnlos; die Pfirsiche verfaulen. Die Ukrainer von Otaci empfangen russisches und ukrainisches Fernsehen, ich höre aber kein Wort der Solidarisierung mit der Ukraine. „Die Ukrainer lügen“, „sie kämpfen gegen das eigene Volk“, „ich gehe mit dem Sturmgewehr ins moldawische Parlament“. Oft bezeichnen sich diese Ukrainer als russisch.Suizidversuch im ArrestDann besuche ich eine vertraute Ecke in der Südukraine. In der Atomstadt Enerhodar, jeweils 200 Kilometer vom Donbass und von der Krim entfernt, lehnen die allermeisten die Maidan-Regierung ab, viele haben aber auch das Vertrauen in Russland verloren. Mancher hasst Wladimir Putin für den Raub der Krim, fährt aber seelenruhig auf Urlaub dorthin. Einige Enerhodarrer kämpfen im Donbass aufseiten der Aufständischen. Zwei sind im Sarg heimgekehrt, über solche Gefallene kein Wort in ukrainischen Medien. Ich stelle fest, dass ich einen der Rebellen aus der Gegend kenne. Angeklagt wegen Hochverrats, soll er sich inzwischen auf die Krim abgesetzt haben. Im Sommer 2010 trank ich Wodka mit ihm. Er war einst Polizist und hatte wegen Totschlags gesessen. Seiner Freundin hatte er erzählt, dass er sich anstelle seines Bruders habe einbuchten lassen. In jener Sommernacht berief er sich auf Dostojewski: „Allein Russland rettet die Welt.“ Ich war einverstanden, fügte aber hinzu: „Zuerst muss sich Russland selber retten.“ Er schlug sich als Laufbursche der Partei von Wiktor Janukowytsch durch, des im Februar geflohenen Präsidenten. Ich mochte ihn nicht sonderlich, mit seinem fahlen Teint strahlte er etwas Morbides aus. Ich sah ihn danach nie wieder.Bei Freunden von Freunden wohnen Verwandte, Flüchtlinge aus den zerbombten Einfamilienhäusern beim Donezker Flughafen. Der schmächtige Sohn der Familie, 26, brach dort die Ausgangssperre, wurde von der ukrainischen Nationalgarde festgenommen und über Tage in einem Keller geschlagen. Gemeinsam mit anderen Gefangenen schnitt er sich die Pulsadern auf. Man brachte sie ins Spital, von dort floh der Junge. Blau von Blutergüssen kam er in Enerhodar an. Er schlief die ersten Tage nur unter dem Fenster, zitterte ununterbrochen. Die Familie seines Bruders ist weniger traumatisiert. Sie erzählen, dass die Nationalgarde ihren Flüchtlingsbus anhielt, zwei junge Männer herausholte und zwangsrekrutierte. „Die Ukraine kommt auch in zehn Jahren nicht wieder auf die Beine“, sagen diese Flüchtlinge, „wir wandern wohl nach Russland aus.“ Dass die Mehrheit der Flüchtlinge aus dem Donbass von vornherein nach Russland geht, ist auch ein Statement.Die größte HoffnungUkrainer seien kein kriegerischer Menschenschlag, höre ich oft sagen. Laut ihrem Oberkommandierenden Igor Strelkow hätten die Donezker Separatisten 10.000 Kämpfer, auf ukrainischer Seite kämpften gemäß Premier Arsenij Jazenjuk etwa 50.000. Etwa 200-mal so viele Männer seien als wehrfähig einzustufen, beide Seiten haben aber enorme Schwierigkeiten bei der Rekrutierung. Dass nur ganz wenige kämpfen wollten, war diesen Sommer meine größte Hoffnung. Seit 2011 lernte ich auf drei Dutzend Ukraine-Reisen viele Ukrainer kennen, die bei lässiger Anhänglichkeit an eine unabhängige Ukraine die russische Sprache hochhielten, für enge Beziehungen mit Russland waren, nichts gegen Europa hatten und ansonsten nicht so recht wussten, was sie wollten. Mir war das sympathisch, nun ist das nicht mehr drin. Auch wenn der Krieg endet, werden künftig 10 oder 20 Prozent der ukrainischen Staatsbürger als Verräter angesehen.