Kehrseite I Und nur, weil wir zu lange in der Hofeinfahrt Fußball gespielt haben, statt Kisten zu tragen wie zwei brave Helfer, weil wir zu lange in der Einfahrt ...
Und nur, weil wir zu lange in der Hofeinfahrt Fußball gespielt haben, statt Kisten zu tragen wie zwei brave Helfer, weil wir zu lange in der Einfahrt herumjohlen mussten, gibt es keinen Platz mehr vorne im Umzugsauto, wo schon mein Freund sitzt und noch sein bester Freund und der Fahrer. Und so muss ich wohl bei Ronny mitfahren, der immer noch den Ball gegen die scheppernde Hoftür tritt. "Kann sie noch bei dir mit ins Auto?", ruft der zweitbeste Freund und heute anscheinend Oberlogistikleiter Ronny zu, und Ronny vergisst den Ball, schnürt durch die schattige Einfahrt auf uns zu und sagt: "Sie sowieso." "Brennt mir nicht mit meinen Möbeln durch!", ruft mein Süßer noch aus dem Fenster des kleinen Kastenwagens, etwas zu zuversichtlich, bevor der Logistikleiter ih
ihn zur Seite drückt und die Tür zuschlägt, weg sind sie, und Ronny und ich sind noch da."Das Auto gehört unserem Schlagzeuger", sagt Ronny, als wir einsteigen, "keine Ahnung, wie weit wir damit kommen. Wo ist denn eure neue Wohnung?" "Hier raus und links", sage ich.Ronny fährt das ächzende kleine Auto vorsichtig aus der Einfahrt und biegt nach rechts ab. Im Kofferraum stehen zu viele Bücherkisten, Kleidersäcke und der pockenhässliche Spiegelschrank, der unbedingt mit musste."Da zieht ihr also zusammen", sagt Ronny. "Wie lange kennt ihr euch denn schon?" "Zwei Jahre bald." "Wie meine Freundin und ich", sagt Ronny, er findet eine Kassette, "das sind Finnen, krass, oder?" "Mhm", sag ich, und Ronny biegt wieder falsch ab, diesmal ist es garantiert kein Versehen. Ich sage dazu nichts. "Wir ziehen auch nächste Woche zusammen", sagt Ronny. "Finnen sind das auf der Kassette?", frage ich, nur zur Sicherheit. "Ja. Wir haben sogar mal was von denen gecovert", sagt Ronny. "Was spielst du denn für ein Instrument?", frage ich, dämlich wie ein Teenager, aber ab jetzt wird es besser, denn Ronny erzählt, während er irgendeinen Weg durch die Stadt fährt, freundliche kleine Geschichten, über die Band, über die Band davor, über sich, ruhig, aber so zügig, dass ich schnell noch verstehe, wer Ronny ist - warum mein Freund mir nie die besten Leute vorstellt, die er kennt? - wer dieser Ronny ist, der plötzlich aus dem Boden gewachsen ist und mir auf der Treppe jede Kiste mit heimlichem Bedauern abgenommen hat - wir haben nicht mehr so viel Zeit, nur noch eine Autofahrt, um uns allein zu sehen und dahinterzukommen, wer der letzte Mensch ist, mit dem wir Zeit verbringen, bevor wir jeder in eine gemeinsame Wohnung ziehen, und ob wir uns retten können.Hinter uns hupen eiligere Fahrer, die sich wahrscheinlich an diesem entscheidenden Morgen ihres Lebens keine Zeit gelassen haben und jetzt zu viele Termine einhalten müssen. Uns ist das egal. Manche Kekspackungen, die im Fußraum herumfahren, sind noch nicht ganz leer, wir kauen die Zähnchen von prähistorischen Butterkeksen ab und fahren in die falsche Richtung, um ein wenig Zeit zu gewinnen.Ronny kommt aus Thüringen, ein bisschen kann man das noch daran hören, wie seine Sätze leicht und gemütlich vor sich hinschaukeln, im Gegentakt zum Auto, nie hektisch und nie ohne Witz. Ronny hat braune Haare, lange Finger, ein Gesicht wie ein Mädchen mit hohen Wangenknochen, warme braune Augen, was ich schon gar nicht leiden kann, Ronny ist ganz eindeutig nicht mein Typ. Ronny zieht nächste Woche mit seiner Freundin zusammen, die jünger ist als ich und die bald ein Kind bekommt. "Möchtest du auch eins?", fragt er, ganz frech, ganz nett, während er schaltet und immer falscher abbiegt. "Kann ich vielleicht bei eurer zweiten Runde einsteigen?", frage ich und missverstehe. "Dann ist es zu spät", sagt er und grinst.Im Innenspiegel sieht man staubige Haarbüschel von unseren Köpfen abstehen wie kleine Vogelnester, man könnte uns mit unseren Arbeitskleidern für Geschwister halten. Ronny ist wirklich nicht mein Typ.Wir haben noch gar keinen Hunger auf das Umzugs-Chili. Wie viel Uhr es ist, weiß Ronny nicht, er hat sein Handy ausgeschaltet. "Die brauchen doch mit dem Laster noch Ewigkeiten", sagt er, "wohin fahren wir?" Draußen in Brandenburg gibt es wunderschöne Seen, mitten im sandigen Nadelwald, doch Ronny weiß sogar einen in Polen, einen ganz tollen, nicht so nah an der Grenze. Noch viel bessere Seen gibt es in Ungarn, aber ob das Schlagzeugerauto so weit durchhält und ob das weit genug wäre, ist ungewiss. Wenigstens können wir so fahren, dass wir fürs Erste immer weitere Kreise um Kreuzberg ziehen und um eine bestimmte, frisch gestrichene Wohnung. Eine Umzugswasserflasche rollt in jeder Kurve vorwurfsvoll gegen die Tür. Ronny erzählt weiter, immer noch in seinem gemütlichen Singsang, aber schneller als vorhin, damit wir alles gesagt haben, bevor wir uns zwischen den Autobahnausfahrten und dem Weg nach Hause entscheiden müssen, damit wir uns überhaupt entscheiden können. Zwischen einem nutzlosen Schulterblick in den Spiegelschrank, bei dem er vielleicht nur überprüft, ob seine warmen Augen noch sitzen, und dem Blick nach vorn auf die Straße hält er mir netterweise jedes Mal kurz sein schönes Mädchengesicht hin, für die nächste Zeit wohl der Letzte, der sich mit offenem Ergebnis ins Gesicht schauen lässt, bevor alles jenseits von Anschauen große Probleme bereiten wird, erst einmal eine Menge logistischer Schwierigkeiten, die abschreckender sind als alle moralischen Verzwickungen, die irgendwann danach kämen.Ich bin mir sicher, dass wir schon eine Stunde lang so durch die Stadt fahren. Bestimmt steht der Umzugswagen schon vor der Tür, und sie tragen die erste unwiderrufliche Kiste in die Wohnung. Wir fahren in die richtige Richtung über die Brücke, die Finnen singen immer noch. Wir sagen nichts mehr. Wenn wir wie aus Versehen einen Blick erwischen, lächeln wir uns an, um die letzten Minuten nicht zu verderben.Zwei Querstraßen von der Wohnung entfernt sagt Ronny doch noch einmal etwas. "Ich hab gerade ein tolles Buch zuende gelesen, über das Begehren." Mit der beiläufigsten Stimme der Welt, an jedem anderen Morgen wäre er der sanfteste Thüringer Vollprofi, aber heute morgen wissen wir beide, dass es uns nicht darum geht. Ich sage nicht "fahr mal nach links" sondern: "Gut?" "Richtig gut. Ich krieg´s gar nicht mehr aus dem Kopf." "Darf ich mir das mal ausleihen?" Jetzt sind wir lahm geworden. Er sagt: "Geht leider nicht, gehört nicht mir", und wir biegen in meine oder unsere neue Straße ein, links wäre es nach Polen gegangen, und rechts geht es zum halbleeren Umzugswagen, vor dem sie alle schon stehen und ob unserer Verspätung schreien und mit den Händen fuchteln, noch bevor wir ausgestiegen sind.Anna Czypionka ist 25 Jahre alt, sie wohnt seit sieben Jahren in Berlin und ist Biochemikerin. Hin und wieder liest sie bei der "Lautmalerei" etwas vor: www.dielautmalerei.de.
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