Schreibschmiede Wer professioneller Schriftsteller werden will, darf keine Angst vor den falschen Fragen haben: Ein Bericht vom Leipziger Literaturinstitut
Mein Nachbar ist Pilot. Allerdings ist er meistens nicht da, denn er muss ja fliegen. Von Leipzig/Halle nach Korfu, Helsinki, Lanzarote, und deshalb haben wir uns erst neulich kennengelernt, obwohl wir schon seit Monaten eine tragende Wand gemeinsam haben.
Es waren die ersten warmen Tage des Jahres, unsere Balkone sind nur durch ein Geländer getrennt und er hatte frei bzw. war, wie er seinen Arbeitsmodus korrekt bezeichnete, „auf Standby“. Ich dagegen hatte Semesterferien und beschäftigte mich in diesem Zusammenhang mit dem Abschluss einer Seminararbeit, genauer: mit dem Zusammenstreichen meiner Erzählung auf einen Drittel ihrer ursprünglichen Länge. Das Seminar, für das die Abgabefrist in Reichweite rückte, trägt den gebrauchspoetischen N
etischen Namen „Vertiefungsmodul Prosa“ und wird regelmäßig angeboten am Deutschen Literaturinstitut Leipzig (kurz DLL), einer „universitären Ausbildungsstätte für Schriftsteller im deutschen Sprachraum“, wie es Wikipedia zu formulieren weiß.Mein Nachbar ist zwei Jahre jünger als ich, raucht Marlboro Gold und man weiß genau, dass er Sätze wie: „Für mich gab es immer nur den Weg ins Cockpit“, schon sehr oft gesagt hat. Er erzählte rückhaltlos von Duty-Free, Stewardessen („Die müssen mehr können als man meint“) und dem Gefühl, morgens um vier mit dem Taxi zur Arbeit gebracht zu werden. – Dann seine Frage: „Und du?“Natürlich findet sich jeder Studierende, der außerhalb von den geistes- oder naturwissenschaftlichen Kernbereichen seinen Schatten wirft, hier und da in Situationen wieder, wo man sich unterschwellig in der Defensive wähnt. Aber während des Studium am Leipziger Literaturinstitut kommt mir das Miss-, um nicht zu sagen Unverständnis, besonders hartnäckig vor. „Ah, meine Tochter studiert auch Germanistik“, meinte mal die Dame von gegenüber, die in meiner Abwesenheit den Briefkasten leert. Ihr Mann nickte stumm; nach meinem vorsichtigen Versuch der Klarstellung taten das beide. Bei einem Familienessen unterbrach die Oma meine Schilderungen, indem sie das Besteck sinken ließ, die Brauen zusammen zog und ungeduldig fragte: „Du willst jetzt also Bücher schreiben, oder was?“ Auf der Intensivstation Mein Pilot wollte es dagegen genauer wissen. „Nun“, erklärte ich ihm, „alles fängt damit an, überhaupt reinzukommen.“ Man muss eine kleine Jury aus jeweils einem Professor (davon haben wir drei), einem Gastdozenten (je nach Semester vier bis sechs) und einem Studierenden (von derzeit circa 50) mit 20 Seiten eigener Texte davon überzeugen, dass man nicht zu den 97 Prozent gehört, die von den rund 600 Bewerbern jährlich als ungeeignet abgelehnt werden. Einmal geschafft, sollte man versuchen, diese Euphorie in den kommenden Monaten möglichst lange aufrecht zu erhalten, Rückschläge sind unvermeidlich.Was das Alter betrifft, gibt es alles von 18 bis Mitte 40. Manche kommen bereits als fertige Schriftsteller nach Leipzig, manche haben zuvor etwas völlig anderes gemacht, und jeder hat eine eigene Meinung darüber, was gute und schlechte Literatur ist. Bevor ich vor anderthalb Jahren anfing, hatte ich in Berlin ein Studium in Mathematik und Philosophie absolviert. Zwei aus meinem ungewöhnlich kleinen Jahrgang (insgesamt gerade mal zehn Studenten) kommen ebenfalls aus Berlin: Die eine ist Japanologin, die andere vierfache Mutter und seit 15 Jahren Krankenschwester auf der Intensivstation. Wieder andere kommen direkt vom Gymnasium, haben aber eine Publikationsliste, die doppelt so lang ist wie ihr tabellarischer Lebenslauf. Der nächste hat unlängst für seine Lyrik den open mike gewonnen. Und alle sitzen dienstags gemeinsam bei Hans-Ulrich Treichel, um im „Pflichtmodul Kenntnis exemplarischer Werke“ unsere Bildungslücken zu füllen.Gemeint sind damit einerseits die einschlägigen Romane, angefangen bei Goethe und Kleist bis hin zu W.G. Sebald und Herta Müller. Anderseits lesen wir aber auch Die Geburt der Tragödie von Nietzsche oder Das Unbehagen in der Kultur von Freud. Dennoch wird unser Studium häufig in die Nähe von Creative-Writing-Kursen oder der entsprechenden Ratgeberliteratur gebracht. In praktisch jeder öffentlichen Lesung werden dieselben kritischen Fragen gestellt. Fragen, die nie jemand gegenüber Fotographie-, Architektur- oder Ballettstudenten äußern würde. Nach einer Institutslesung vor ein paar Monaten meinte ein Zuhörer, nachdem er sich ausführlich als emeritierter Geschichtsprofessor vorgestellt hatte, dass ihm für ein ernsthaftes Studium einfach die Wissenschaftlichkeit fehle. Als wir erklärten, es handele sich um einen dezidiert künstlerischen Studiengang, fragte er, worin sich das dann von „literarischen Kaffeekränzchen an Volkshochschulen“ unterscheide. Es gibt Unterschiede, mindestens drei: 1) Jeder schreibt (von konzeptionellen Ausnahmen abgesehen) für sich alleine und (von ungewöhnlichen Vorlieben abgesehen) zu Hause. 2) Die Texte der Teilnehmer stehen im Zentrum der so genannten Werkstattseminare. Sie werden allen anderen eine Woche vorher zur Verfügung gestellt, um von diesen bearbeitet zu werden. 3) Es gibt keine verbindliche Lehre.Letzteres hat mehrere Gründe: Mindestens alle zwei Semester wechseln unsere Gastdozenten, die allesamt Schriftsteller sind und ihre eigenen Vorstellungen von Literatur mitbringen. Jedes Seminar steht und fällt mit den Teilnehmern und der Dynamik zwischen den Stühlen, die so unterschiedlich ist wie die Zusammensetzung der Frisuren. Vor allem aber lernt man, für seine Kritik nicht von sich, seinem Geschmack oder irgendwelchen Vorschriften auszugehen, sondern allein vom Text. Grundlage einer produktiven Kritik kann immer nur der Anspruch und die Logik des vorgelegten Textes sein – so könnte es über dem Eingang zum Institut stehen.In der Realität, angesichts von 50 mehr oder weniger exzentrischen Jung-Autoren kommt es manchmal natürlich auch zu weniger konstruktiven Sitzungen. Doch wer Heulkrämpfe, Drogenexzesse und Faustkämpfe erwartet, wird enttäuscht: Falls es diese Zeiten tatsächlich mal gegeben hat, sind sie, von einzelnen Selbstdarstellungen abgesehen, vorerst vorbei. Einige Absolventen, die sich zu den regelmäßigen Partys einfinden, beschweren sich denn auch hin und wieder über die „neue Harmlosigkeit“, aber schließlich kommen sie noch zu den Partys und das aus gutem Grund.Natürlich sind die Texte nicht durchweg auf hohem Niveau, und selbstverständlich gibt es Seminare und Seminarleiter, die einem nicht weiterhelfen. Auch glaube ich nicht, dass unser literarische Erfolg automatisch wahrscheinlicher ist als der von anderen. Man darf sich das DLL nicht als kaderschmiedenden Exzellenzcluster vorstellen, eher ist es eine Art semi-öffentliches Erfahrungslabor, worin Fremdes und Privates, zum Teil empfindlich Privates, aufeinandertreffen. Was der einzelne daraus macht, ist Ansichts-, Geschmacks- und nicht zuletzt Einstellungssache.Klar, der „Gläserne Sarg“ spricht für sich: Die wandfüllende Vitrine gleich am Eingang unserer schmucken, kleinen Jugendstilvilla, präsentiert die Bücher der Absolventen im Halogenlicht. Sie wird regelmäßig erweitert und birgt Namen wie Martina Hefter, Clemens Meyer, Thomas Pletzinger, Verena Rossbacher, Saša Stanišič oder Juli Zeh. Wie viel Prozent der Studenten es tatsächlich in diesen Kasten schaffen, weiß aber keiner so genau.Selbst-Beschreibung mit TierDennoch, die Oma hatte natürlich Recht: Ich will Bücher schreiben. Was denn auch sonst? Dabei konzentriere ich mich momentan auf die Prosa, nachdem ich im ersten Studienjahr auch ein wenig auf die Lyrik geschielt hatte. Neben diesen beiden Disziplinen hätte ich noch die Möglichkeit, mich mit Drama zu beschäftigen, oder, gleiche Ecke, mit Hörspiel und Drehbuch. Aber im Gegensatz zu den meisten meiner Kommilitonen scheint bei mir das Studium eher als eine Beschränkung zu wirken, was die Gattungen betrifft.Mit Blick auf das Seminarangebot des SoSe 2010 heißt das konkret: Neben dem erwähnten, für das zweite Jahr verpflichtenden Bildungslückenmodul, sind für mich primär die Prosawerkstätten von Interesse, besonders die der neuen Gastdozenten. Terézia Mora bietet ein Vertiefungsmodul zu „Extreme“ an; neben Inhalt und Mittel sind auch extreme Schreibweisen gemeint. Von ihr weiß ich nur, dass sie eine recht rätselhafte Erzählung geschrieben hat, aus Ungarn kommt und dauernd Preise gewinnt. „Ich dachte, wenn ich etwas kann, dann über Gewalt zu erzählen; dann musste ich es tun und wäre beinahe daran krepiert“, lautet das Motto zu ihrem Kurs. So weit wird es hoffentlich nicht kommen. Ich verspreche mir aber neue Antworten auf die Frage, wie sich Sex und Gewalt am besten literarisch umsetzten lassen, und vor allem: welche Gefahren es dabei gibt, denn die gibt es reichlich.Ebenfalls liebäugle ich mit Jan Peter Bremers Seminar „Selbst-Beschreibung mit Tier“, das sich neben der Lektüre faunalastiger Prosa von Goethe bis Poschmann, vor allem der Produktion solcher Texte widmen will. Gewöhnlich beschränken sich die formalen Eingrenzungen solcher Seminare, neben einer groben Seitenangabe, auf die Vorgabe, es müsse etwas „Extremes bzw. Tierisches“ vorkommen.Bisher gibt es bei mir keine Tiere. Weder im Leben noch in der Kunst. Tiere im Allgemeinen und Haustiere im Besonderen sind mir auf eine harmlose Art unheimlich. Aber manchmal ist gerade eine solche Leerstelle die beste Ausgangslage für das Schreiben. Was die festen Professoren betrifft, werde ich ein Seminar bei Hans-Ulrich Treichel besuchen, das sich „sowohl praktisch als auch theoretisch dem Essay zuwenden“ wird. Geplant ist zumindest gastweise die Teilnahme am Abschlussmodul „Größere Projekte“ bei Michael Lentz.Der Reporter und Romanautor Alexander Osang hatte letztes Semester bei uns unter anderem ein Reportage-Seminar geleitet. Angeblich lautete eine dort diskutierte Regel: Wenn man einen journalistischen Text mittels einer Figur oder einem Motiv beginnt, sollte man gegen Ende wieder darauf zurückkommen. Leider fällt mir jetzt partout kein Weg ein, der zu meinem Nachbarn, dem Piloten, zurückführen würde. Da wären wir dann bei einem echten Vorteil des Studiums am Deutschen Literaturinstitut. Gegenüber Kritikern der eigenen Texte kann man immer sagen: „Wissen Sie, in dem Seminar habe ich gefehlt.“
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