Utopie, heimatlos

Vor dem Parteitag in Rostock Bündnis 90/Die Grünen sind bis zur Unkenntlichkeit berechenbar geworden

Sagen wir so: Damals, im Westen, haben wir die Grünen nicht deshalb gewählt, weil wir sie für regierungsfähig hielten. Im Gegenteil. Wir wählten sie, weil sie ein Stück Bewegungskultur in die Politik brachten, weil sie Zeitgeist waren, Protest und kreative Respektlosigkeit. Otto Schily, Ex-Grüner, soll als RAF-Anwalt Babywindeln zur obligatorischen Krawatte gebunden haben. Das waren Zeiten! Die Grünen etablierten eine Kultur, die vorher nicht für politikfähig gehalten wurde, sie setzten "weiche" Themen und Personen jenseits der parteikarrieristischen Nomenklatura und haben nicht zuletzt deswegen bis heute überproportional viele Wählerinnen. Weil sie ein Stück Utopie einfingen, haben wir sie - strategisch sozusagen - als "Alternative" gewählt. Doch wohl kaum jemand hätte sich strickende Abgeordnete, Sonnenblumen und große Friedenstauben ernsthaft als eine Mehrheitsregierung gewünscht. Die Grünen mit 30 bis 40 Prozent? Gott bewahre. Die Öko- und Friedenspartei war die Partei des "als ob" - wir taten so, als wollten wir sie an der Macht, die Partei tat so, als sei sie wirklich so radikal, wie sie sich gab. Erinnern wir uns: Austritt aus der NATO war eine der Forderungen. Das alternative Protzgehabe hat einiges bewirkt, und im "als ob" lag immer auch ein Quentchen Wahrheit - vagabundierend zwar, mal hier, mal dort, doch spürbar ernst gemeint.

Nun kann man nicht so tun, "als ob" man in Regierungsverantwortung wäre, wenn man es wirklich ist. Das Erziehungsprogramm, das die Grünen seit drei Jahren verschärft durchlaufen, ist jämmerlich mit anzusehen. Und jämmerlich ist anzusehen, wie der Druck in eine Richtung geht: nach unten. Von einem imaginierten George W. Bush an Gerhard Schröder, von Schröder an die eigene Partei und den Bündnispartner, von der grünen Parteiführung an die bunte Basis und letztlich an die Wählerinnen und Wähler. Unterm Systemzwang gibt´s keine Utopie mehr, nirgends.

Beeindruckend ist mit anzusehen, wie ungerührt der Kanzler Autorität durchsetzt und dies als seine Pflicht versteht. Sein historisches Projekt, das militärisch rehabilitierte Gesamtdeutschland, war nur um den ultimativen Kotau der Grünen zu haben. Die Spontis so an die Kandarre genommen zu haben, wird dem Kanzler Ruhm einbringen - wer weiß, vielleicht sind manche Grüne auch ganz froh darum, dass der starke Mann ihnen den letzten Milchzahn zieht. Die Grünen sind bis zur Unkenntlichkeit berechenbar geworden. Und weil wir ahnen, dass es uns nicht anders ginge, nehmen wir es ihnen besonders übel.

War es nicht immer so: Macht korrumpiert? Sind die Grünen erpresst worden? Müssen wir Mitleid haben? Nicht wirklich, denn zum Erpressen gehören immer zwei. Eine Zwickmühle - entweder Rückgrat zeigen oder Regieren dürfen - tut weh und ist nicht zu gewinnen. Man könnte aber aus dem Spiel ausscheiden. Oder mal so tun als ob. Für die Landespolitik in Berlin, wäre das eine Chance. Auch hier hat ein Machtwort des Kanzlers den Wowereit ganz schnell auf Linie gebracht und die Grünen hätten durch Verweigerung der Ampelkoalitionsverhandlungen, wer weiß, sogar politisch wirken können. Auf Bundesebene sieht es anders aus. Denn ob die neuen Grünen sich von der Macht noch einmal erholen werden, ist fraglich. Sie taugen, so steht zu befürchten, nicht mehr zur Opposition. "Wenigstens", jubiliert Claudia Roth, "diskutieren wir". Fein, sie zappeln noch. Als ob sie sich wehrten. Und wir wählen sie - wenn überhaupt - aus alter Gewohnheit so, als ob wir sie wählen wollten. Genau hinschauen darf man nicht. Das werden wir uns selbst und ihnen auf Dauer nicht verzeihen. Ein "als ob" in der Minderheit hat utopischen Gehalt, ein "als ob" in der Mehrheit ist schnöde Ziererei. Sparen wir uns die Debatten. Grüne, die bellen, beißen nicht.

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