Sechziger Jahre, mitten im Kalten Krieg. Ein ehemaliger SS-Offizier verhandelt mit einem SS-Opfer, der das KZ beinahe nicht überlebt hätte. "Sie waren beide durch Gottes Zorn oder durch menschliches Schicksal gezwungen, miteinander auszukommen und Kompromisse zu schließen", sagt Franz Steinkühler. Der eine vertritt das Unternehmerlager, der andere Arbeiter der Metallindustrie. Der eine heißt Hanns Martin Schleyer, der andere Willi Bleicher. Den Namen Schleyer kennt inzwischen auch die junge Generation. Der am 27. Oktober 1907 geborene Widerstandskämpfer und Arbeiterführer Willi Bleicher dagegen ist nahezu vergessen.
Im Jahr 1963 steht die Metallindustrie im Südwesten vor dem bis dahin heftigsten Arbeitskampf der jungen Bundesrepublik. Willi Bleicher,
Willi Bleicher, inzwischen Leiter der IG Metall Baden-Württemberg, zögert, denn für ihn sind Streiks das letzte Mittel im Arbeitskampf: "Ich wusste, was Streik bedeutet", erzählt er später. "Streik bedeutet zuweilen Verlust des Arbeitsplatzes, Streik bedeutet Bangigkeit und das unentwegte Fragen. Was wird am Ende des Streiks stehen? Bevor ich dieses Wort aussprach, habe ich mich deshalb immer in Hunderten von Versammlungen und Zusammenkünften vergewissert, ob wir es wagen können."Bleicher erinnert sich an den Daimler-Streik von 1920. Als der Konzern die Arbeiter aussperrt, wissen seine Eltern nicht, wie sie ihre Kinder ernähren sollen. Die Mutter geht ins Pfandhaus, der 13-jährige Willi klaut Obst für die Familie und Klee für die Stallhasen. Diese Erfahrungen haben mit zu Bleichers Politisierung beigetragen. Er träumt von einer Welt ohne Hunger, Arbeitslosigkeit und Willkür, schließt sich der kommunistischen Jugend und der Gewerkschaft an. Zunächst übrigens der Gewerkschaft der Nahrungs- und Genussmittelarbeiter, denn Bleicher war gelernter Bäcker, auch wenn bis heute die Legende verbreitet wird, er habe bei Daimler eine Schlosser-Lehre gemacht.Im Clinch mit SchleyerAls Bleicher 1963 dem Verband der Metallindustrie schließlich mit einem Streik droht, wird er öffentlich wegen seiner kommunistischen Vergangenheit angegriffen. Kein Wort darüber, dass ihn die SS im Lager fürchterlich behandelt hatte, dass er Folter und auch den Todesmarsch im April 1945 beinahe nicht überlebt hätte.Es herrscht Kalter Krieg in Deutschland. Wer Kommunist war oder ist, kann überwacht werden - auch für Bleicher interessiert sich der Verfassungsschutz. Er kann seinen Arbeitsplatz verlieren oder wegen Verstoßes gegen das Verbot der kommunistischen Partei zu einer Gefängnisstrafe verurteilt werden. Über die Taten der Nazis wird dagegen geschwiegen. Viele der alten Parteimitglieder haben wieder Karriere gemacht. Einer davon sitzt Willi Bleicher bei den Tarifverhandlungen gegenüber: Hanns Martin Schleyer.Dabei haben Bleicher und Schleyer auch Gemeinsamkeiten: Beide wollen "ihren Laden" im Griff haben, beide pflegen einen zum Teil extrem autoritären Führungsstil, und beide zeigen sich nach außen als harte Kämpfer, was Schleyer zum Inbegriff des "bösen Kapitalisten" macht. Doch die beiden Raucher können auch warmherzig sein und Nettigkeiten austauschen. Wenn Schleyer zu Bleicher zum Vieraugengespräch kommt, lässt das ehemalige SS-Opfer dem ehemaligen SS-Offizier eine Schachtel "Simon Arzt Orient" bereitstellen, Schleyers Zigarrenmarke. Und obwohl der Gewerkschafter seine Tarifkontrahenten schrecklich attackieren kann, lehnt er es immer ab, Schleyers Vergangenheit im Arbeitskampf auszuschlachten.Hanns Martin Schleyer war ein "in der Wolle gefärbter Nazi" (Ex-Daimler-Chef Edzard Reuter) und überzeugter Antisemit. In der NS-Zeit arbeitete er zuletzt als Leiter des Präsidialbüros des Zentralverbandes der Industrie im besetzten Prag. Der Verband war unter anderem für die "Arisierung" der tschechischen Wirtschaft und die Beschaffung von Arbeitskräften für Nazi-Deutschland zuständig. Nach dem Krieg ist Schleyer zwar mehrere Jahre interniert, doch seine Vergangenheit interessiert in der Zeit des "Wirtschaftswunders" nur wenige. Er selbst fühlt sich als Opfer der "Siegerjustiz" und schweigt.Härtester Funktionär der IG MetallWeil sich die alten Machtstrukturen nicht geändert haben, will sich Willi Bleicher mit dem Nachkriegsdeutschland unter Adenauer nie anfreunden. Er traut der jungen Republik nicht, denn in den Betrieben haben meist wieder die alten Eigentümer das Sagen. Sie und ihre Manager macht Bleicher für das Erstarken des Hitler-Faschismus mit verantwortlich. Er kritisiert die alten NS-Seilschaften, die wieder an wichtigen Positionen sitzen. Hanns Martin Schleyer ist mit der Nachkriegsrepublik aus anderen Gründen nicht einverstanden. Er beklagt die mangelnde unternehmerische Freiheit und sieht noch in den siebziger Jahren in der Mitbestimmung ein kommunistisches Machwerk. "Unternehmen heißt Führen", das ist seine Maxime. Schleyer selbst zählt sich zur Führungselite. Dies will er Anfang der sechziger Jahre endlich unter Beweis stellen.Nach der Lohnrunde 1962 bereitet Schleyer den Verband der Metallindustrie systematisch auf eine Aussperrung vor. Das ist damals keine Selbstverständlichkeit. Viele Unternehmer zögern. Sie wollen das Betriebsklima nicht vergiften oder fürchten, Arbeitskräfte zu verlieren, die bei der herrschenden Vollbeschäftigung nicht leicht ersetzt werden können. Schon zwei Tage nach Streikbeginn werden alle Arbeiter in Betrieben mit über hundert Beschäftigten ausgesperrt. Bleicher ist empört: "Der Dr. Schleyer hat recht, wenn er von einer Totalaussperrung spricht. Es ist ein totaler Krieg gegen die Metaller dieses Landes. Er ist so erbarmungslos wie jener, den diese Herren verloren haben."Im Ergebnis habe der "General-Hinauswurf", so der Spiegel damals, "das Nachkriegskapitel leichter Gewerkschaftssiege" beendet. Schleyer, den die Presse zu den "zornigen jungen Männern in den Arbeitgeberverbänden" zählt, wird bundesweit zum Hoffnungsträger im Unternehmerlager. Die Hauptaktionäre von Daimler belohnen ihn, indem sie aus dem stellvertretenden ein ordentliches Vorstandsmitglied machen. Und Willi Bleicher steigt zum "wohl härtesten und radikalsten Funktionär der IG Metall" auf. Dazu adelt ihn die Frankfurter Allgemeine Zeitung. Doch weder in der Öffentlichkeit, noch in der Gewerkschaft selbst sind Bleichers KZ-Jahre bekannt. Nach seinen schlechten Erfahrungen in der Nachkriegszeit lehnt er es ab, über diese Zeit zu sprechen. Damals habe man ihm nicht geglaubt, als er über den Terror im Lager berichtet hat, einige hätten sogar gelacht. Zudem will sich Bleicher nicht mit den alten Erinnerungen quälen. Die nächtlichen Albträume sind schlimm genug.Und es gibt noch ein politisches Kalkül. Bleicher wurde ins KZ gesteckt, weil er ein kommunistischer Widerstandskämpfer war. In der jungen Bundesrepublik gilt er deshalb allenfalls als Nazi-Gegner dritter Klasse. Selbst in der IG Metall führt seine kommunistische Gesinnung dazu, dass er 1950 aus dem Vorstand hinausgedrängt wird, obwohl er schon Monate vor dem Gewerkschaftstag aus der KPD ausgetreten ist. Er macht diesen Schritt nicht nur, um den wichtigen Vorstandsposten behalten zu können, sondern auch weil er der Kurs der Parteiführung und ihrer Instruktoren in Ost-Berlin nicht mehr mittragen konnte und wollte. Bleicher ging nach dem Rauswurf aus vom Vorstand zurück an die Basis ins schwäbische Göppingen, um neun Jahre später die Leitung der IG Metall in Baden-Württemberg zu übernehmen.Retter des "Kindes von Buchenwald"Kurz nach dem Streik 1963 rückt die KZ-Vergangenheit des Metallers erstmals ins Licht der Öffentlichkeit. Er wird als Retter des "Kindes von Buchenwald" bekannt. Der DDR-Autor Bruno Apitz, selbst langjähriger Häftling, hat die Geschichte in dem Roman Nackt unter Wölfen verarbeitet. Eine fiktive Handlung, wie man damals meint, in der Häftlinge ein dreijähriges Kind vor der SS verstecken und so vor dem Tode bewahren. Der Regisseur Frank Beyer verfilmt den Stoff 1963 für die Defa. Armin Müller-Stahl spielt den Kapo der Effektenkammer, jene Funktion, die Willi Bleicher in Buchenwald innehatte. Ohne Bleicher wäre das Kind jüdischer Eltern aus Krakau im KZ "nackt unter Wölfen" geblieben und hätte kaum überlebt. Das ist der wahre Kern des Romans. Als Bleicher erfährt, dass man Stefan Jerzy Zweigs Adresse gefunden hat, lädt er das inzwischen 22-jährige "Kind von Buchenwald" ein. Über die Begegnung in Stuttgart und die Geschichte der Rettung berichten die Medien im In- und Ausland. Bleichers kommunistische Vergangenheit wird von nun an in der öffentlichen Diskussion keine große Rolle mehr spielen.Schleyer kommt Bleichers Vergangenheit nun sogar gelegen. In den sechziger Jahren, vor seinem ersten Prag-Besuch nach 1945, erklärt er, wenn ihm dort wegen seiner einstigen Arbeit im besetzten Prag, etwas zustoße, möge man "den Bleicher" anrufen. Der würde ihn rausholen über seine Kontakte zu früheren KZ-Häftlingen in inzwischen wichtigen Staatsfunktionen. Das klingt nach verkehrter Welt, doch sowohl Schleyers Sohn Hanns-Eberhard, der seinen Vater in die damalige Tschechoslowakei begleitet hat, als auch Heinz Dürr, Schleyers Nachfolger als Verhandlungsführer der Metallarbeitgeber im Tarifbezirk, bestätigen dies.Ein frommer KommunistWilli Bleicher fährt Anfang 1964 mit Zweig nach Buchenwald. Keine Selbstverständlichkeit zweieinhalb Jahre nach dem Bau der Mauer in Berlin. Der Stuttgarter Bezirksleiter ist (noch) vorsichtig; Er will die Reise vom IG-Metall-Vorstand absegnen lassen. Denn zu gut weiß er, dass man sie gegen ihn verwenden könnte. Doch der Vorsitzende Otto Brenner hält einen Beschluss nicht für erforderlich und erklärt seine ausdrückliche Zustimmung.Bleicher nutzt die Reise zu Gesprächen mit ehemaligen Häftlingen aus Buchenwald und mit Funktionären der DDR-Gewerkschaften. Mindestens ein Gesprächsprotokoll landet auf dem Schreibtisch von Staatschef Walter Ulbricht. Die Machthaber in der DDR trauen dem widerspenstigen Marxisten nicht. Auf einer bisher unbekannten Karteikarte der Stasi wird vermerkt, dass Bleicher eine "trotzkistische Anschauung" vertrete. Ebenfalls vermerkt ist Bleichers Mitgliedschaft in der KPO - wie die Trotzkisten galt die KP-Opposition als verräterische Gruppierung. Der junge Bleicher hatte sich zusammen mit anderen Stuttgarter Kommunisten Ende der zwanziger Jahre der KPO angeschlossen, die die von Moskau diktierte Politik nicht mitmachen wollte.Nach seinem Austritt aus der KPD beschimpft ihn die Partei als Verräter. Dennoch bekennt sich Bleicher weiterhin zum Marxismus. Vier Jahr später wird er, um seinen Aufstieg in der Gewerkschaft nicht zu gefährden, SPD-Mitglied und hofft, die DDR werde sich eines Tages vielleicht doch als das bessere Deutschland erweisen. Bei seinen Besuchen im "Arbeiter- und Bauernstaat" kritisiert er mit markigen Worten den Schlendrian in den Betrieben. Parolen wie "Gemeinsam für den Sozialismus" oder "Wir machen eine Sonderschicht" lehnt er ab, da er sich nicht vorstellen kann, dass die Arbeiter "diesen Quatsch" glaubten. Er fordert echte "Arbeiterdemokratie", wie es in dem Protokoll heißt, das Ulbricht vorgelegt wird.Franz Steinkühler, der 1972 Bleichers Nachfolger in der IG-Metall-Bezirksleitung wird, hat mit seinem Förderer mehrmals die DDR bereist. Sein Eindruck: "Bleicher hatte immer so einen Funken Hoffnung, dass da doch noch das zu finden sei, was er sein Leben lang gesucht hat, Gerechtigkeit, Sozialismus". Doch irgendwann habe auch Bleicher gespürt, "dass er vergeblich sucht".Sozialismus ist für Bleicher mehr als nur eine Parole. Als pragmatischer Gewerkschafter trägt er zwar dazu bei, den sozialen und demokratischen Charakter der Bundesrepublik zu stärken, doch seine Hoffnung auf eine "andere Welt" versperren ihm zugleich den Blick auf diese Erfolge. Schließlich hilft ihm seine Überzeugung beim Überleben im KZ. In Buchenwald war er sich sicher gewesen, dass nur "der Sozialismus der Ausweg sei aus der Periode der Barbarei", "eine andere Welt, die die Freiheit des Menschen garantiere". Diese "Hoffnung" habe ihn "bestärkt und beseelt". Und dazu sei der Glaube - und er betont immer wieder die Begriffe Glaube und Hoffnung - gekommen, "dass der Faschismus nicht der Sinn dieser Welt sein könne". Das mag übertrieben, ja religiös, klingen, doch ähnliche Schilderungen sind von anderen politischen Häftlingen überliefert. Insofern ist Bleicher ein "frommer Kommunist".Willi Bleicher wollte eine Welt schaffen, die den Rückfall in eine faschistische Barbarei unmöglich machte. Nur der Humanismus könne "für uns alle miteinander Richtschnur sein", erklärt er. Im Sozialismus sei "der Begriff des Humanismus am sichtbarsten umschlossen - oder es ist eben kein Sozialismus". Es komme nicht darauf an, "ob wir in dieser Welt leben, viel wesentlicher ist es, dass wir diese Welt lebenswerter gestalten". Dann hebt er seinen rechten Zeigefinger und wiederholt langsam die Worte "lebenswerter" - "gestalten". Das war 1980, als der 73-Jährige vor überwiegend jungen Leuten über seine Zeit im Konzentrationslager Buchenwald berichtete - ein Jahr vor seinem Tod am 23. Juni 1981.Hermann G. Abmayr hat ein Filmporträt über Willi Bleicher realisiert (Wer nicht kämpft, hat schon verloren), das für den Wettbewerb des baden-württembergischen Filmpreises nominiert wurde. Eine Biographie des Autors über Willi Bleicher ist im Silberburg-Verlag erschienen.
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