Es ist jenes seltene, wohlige Zusammenzucken, das man verspürt, wenn man zum ersten Mal die Stimmen von Kate Valk und Ari Fliakos hört, die simultan die Videostimmen einer Akropolis-Aufführung von Jerzy Grotowski replizieren. Mühelos begeben sie sich in die exaltierten Höhen des Polnischen und erklingen, als kämen sie mit fünfunddreißigjähriger Verzögerung aus einer fremden Zeit. Der von der Wooster Group inszenierte Hörsturz in die Tiefen der Stimmarchive, der derzeit im Berliner Hebbel am Ufer unter dem Titel Poor Theatre. A Series of Simulacra zu sehen ist, macht dabei jenen strategischen Coup der verfremdeten Kopie, den man bisher aus der bildenden Kunst kannte. Original, Geschichte und Präsenz scheinen für einen Augenbli
;r einen Augenblick Objekte einer anderen, einer melancholischen Ordnung zu werden.Seit drei Jahrzehnten gehört die New Yorker Performancegruppe, die ihre theatrale Arbeit konsequent mit Elementen aus der Gegenwartskunst verbindet, zur kosmopolitischen Vorhut der Theateravantgarde. Poor Theatre wäre ein gelungener Schlusspunkt dieses Schaffens. Wiederholt hat die Regisseurin Elizabeth LeCompte in den letzten Monaten angekündigt, dass es sich dabei um ihre letzte Arbeit handele, und wenn man Poor Theatre sieht, könnte man meinen, dass sie es dieses Mal ernst meint.Das Theater der Wooster Group ist vor allem durch die technologische Invasion des Bühnenraums bekannt geworden. Lange bevor sich Frank Castorf mit Videokameras und Leinwänden beschäftigte, kreierte die New Yorker Performancegruppe Wahrnehmungslabyrinthe aus Bildschirmen, Kameras und elaborierten Soundanlagen. Verschiedenste klassische Theatertexte wurden zu Objekten dieser technologischen Infiltrationen. Mit eigenwilligen und kunstvollen Klassikerversionen wie der Tschechow-Inszenierung Brace Up! (1990), Eugen O´Neills The Hairy Ape (1997) oder der Racine-Bearbeitung To you, the Birdie! (Phèdre) (2001) machte sich die Performancegruppe auch in Deutschland einen Namen. Immer wurde dabei Theatertradition mit Alltagstexten collagiert und in ein minutiös abgestimmtes, von Zitaten durchsetztes Schauspiel übersetzt.Der spezifische Glamour der Gruppe um Elizabeth LeCompte scheint auch in ihrer stilistischen Selbstinszenierung begründet. Die Wooster Group stellt den letzten vitalen Rest der Galerien- und Performance-Szene des New Yorker Stadtteils SoHo der siebziger Jahren dar. Sie ist schillerndes Zeichen einer innovativen Epoche und reminiszente Ikone zugleich. Notabene ist sie eine singuläre Erscheinung in der unsubventionierten amerikanischen Theaterwelt. Nicht nur die ästhetische Qualität der Arbeiten, sondern auch deren Kontinuität und Kompromisslosigkeit sind selten. LeCompte probt manchmal drei Jahre, bis sie eine Inszenierung öffentlich macht; häufig bricht sie eine Produktion noch nach einjährigen Proben ab, wenn das Ergebnis ihren eigenen Ansprüchen nicht genügt. Zudem gelang es der Künstlergruppe, einige gezielte Schockwellen in den amerikanischen Mainstream zu entsenden. Allein die zwischen Theaterexperiment und Hollywoodkultur changierenden Karrieren der Wooster-Group-Schauspieler Willem Dafoe und Frances McDormand wären angemessene Objekte für die Reflexion der condition postmoderne.Die Produktionen der Wooster Group verlässt man oft mit dem Gefühl, gerade Zeuge einer revolutionären Bühnenentwicklung geworden zu sein. Wenige Theaterarbeiten verbinden auf so glanzvolle Weise rigorose intellektuelle Überlegungen mit bühnenästhetischer Sinnlichkeit. Die Arbeiten sind mehrschichtige und spannende Ereignisse, die im virtuos kalkulierten Spiel organische Körper mit High-Tech-Systemen konfrontieren. Das überraschende Ergebnis vieler Aufführungen ist die Ahnung, dass unsere kulturellen Differenzen zwischen Körper und Technologie fließender geworden sind, und die sie trennenden Grenzen sich mehr denn je verwischen. Als in To you, the Birdie! ein Schauspieler die Stimme von Kate Valks Phèdre im hinteren Teil der Bühne monoton durchs Mikrofon sprach, war das nicht nur als postfeministischer Kunstgriff zu verstehen, sondern bewirkte auch jenen kuriosen Erfahrungsschock, den man erlebt, wenn eigentlich disparate Körper und Techniken ästhetisch miteinander verschmelzen.Dass Poor Theatre nach Deutschland kommt, ist ein Glücksfall. Die Produktion hätte nach ihren ersten New Yorker Aufführungen im März dieses Jahres ebenso für immer in den Videoarchiven der "Performing Garage" in der Wooster Street versinken können. Die zweiteilige Arbeit ist nicht nur eine Hommage an das Theater Jerzy Grotowskis und ein parodistisches Simulakrum von William Forsythes Choreographien. Sie ist auch eine Reflexion über die Geschichtlichkeit der Wooster Group selbst und die Sinnfrage des Theatermachens. Die erste Theaterbegegnung der Regisseurin LeCompte - Grotowskis Akropolis, jene Geschichte über die größte aller Städte und über Kassandra, die davor warnt, dass die Männer nicht aus dem Krieg zurückkehren werden - findet ebenso Eingang in die Inszenierung wie die Videodokumentation von körpertechnischen Arbeiten der Schauspieler. Über dem dichten ersten Kapitel schwebt dabei eine manchmal ironisch gebrochene Melancholie. Die lässt sich leicht mit der unter den Zeichen von Terrorwarnung und Bush-Ära veränderten Stimmung New Yorks assoziieren. Wenn das Kapitel der Simulakrenserie mit den Bildern des winterlichen SoHo endet, hört man die gedämpften Stimmen der Passanten, blickt auf die Werbebildschirme der U-Bahnstationen und sieht die immer schmutzige Straßen des New Yorker Stadtviertels. Im Hintergrund fragt die Stimme einer skeptischen Theaterkritikerin wieder und wieder, warum man ein solches Theater produzieren wolle. Der leere Bühnenraum dehnt die Antwort darauf zu einem langen Moment der Resignation.