Wir stehen in der Unterführung am Bahnhof Friedrichstraße. Willkommen in der Hauptstadt der DDR, begrüßt er mich. Wir freuen uns, dass Sie es den vielen Tausenden gleich machen, die alljährlich unsere nun bald 750-jährige Stadt zu Fuß entdecken. Wir, das sind er, der Stadtführer in meiner Hand, Jahrgang 1984, und ich. Wandern ist wieder modern geworden!, freut er sich. "Neue Ziele erreicht man nicht auf alten Wegen" warnt dagegen die Werbung eines Schuhladens. Der Stadtführer lächelt verlegen, sind es doch gerade die alten Wege, von denen zu erzählen er nicht müde wird.
Bomben und Granaten haben die hier einst konzentrierten Vergnügungsstätten in Schutt und Asche gelegt, kaum ein Rest der ehemaligen schillernden Welt ist
r ehemaligen schillernden Welt ist erhalten geblieben. In den Mundwinkeln zuckt es degoutant. Heute beginnt die Friedrichstraße ein neues freundliches Gesicht zu bekommen. Ich schiele unter der Bahnunterführung durch auf einen der in den Bauzaun eingelassenen Bildschirme, die das dort entstehende "Friedrich Carree" als schönste aller Welten preisen. Männer mit Handys und Weitblick und Frauen in cremefarbenen Zweiteilern, die ihnen als wohnwertsteigernde Maßnahme auf den Schreibtisch gesetzt werden. Ob er das meint? Er echauffiert sich: Bis zum letzten Schuss wütete hier der Vernichtungswahn faschistischer Fanatiker. Eine Gedenktafel erinnert an den sinnlosen Tod zweier kriegsmüder Soldaten, die hier von SS-Banditen ermordet wurden. Hier, das ist unter der Bahnunterführung, also hier. Auf der Suche nach der Gedenktafel laufen wir zunächst die zahlreichen auf Kniehöhe angebrachten Messingtafeln ab, die den Gebückten darüber unterrichten, wer an den Keramikarbeiten am Bahnhof Friedrichstraße beteiligt war. Erst als wir wieder am Ausgangspunkt stehen, entdecken wir schließlich auch die Gedenktafel. Versteckt hinter der Reklame, die nun zum zweiten Mal schelmisch behauptet: "Neue Ziele erreicht man nicht auf alten Wegen."Hat man vor 15 Jahren eine Wanderung durch die Hauptstadt der DDR unternommen, so wies Durch Berlin zu Fuß den Weg durch eine Stadt, in der die Spuren der Geschichte auf die richtige Art gelesen werden wollen. Planloses Durchstreifen der Stadt, das zufällige Auffinden eines Platzes oder wahlloses Queren der Straßen führt kaum zum Ziel, Berlin und seine Eigenheiten ohne Irrwege kennenzulernen, warnt mein Führer konservativ und leitet mich auf die andere Straßenseite. Der alte Admiralspalast, in dem sich das Haus der Presse befindet. Stimmt, der steht noch da, rundverpackt derzeit und demnächst runderneuert. Das Haus der Presse wird sich jedoch kaum mehr darin befinden. Nichts wird sich darin befinden. Oder doch? Hier hat auch das Kabarett "Die Distel" eine ständig ausverkaufte Spielstätte. Richtig, "Die Distel" war da drin, und das "Metropol"-Theater. Nun steht im Hof ein kreisförmiger Bauzaun und warnt vor herabfallenden Fassadenteilen. Auf dem Boden hat ein Kunstrasenteppich schon so lange gelegen, dass er zu leben angefangen hat: bizarre Flechten, kuschelige Mooskissen und junge Buchentriebe tun so, als sei das Imitat echt. Drei Spatzen balgen sich um eine halbe Schrippe.Der Admiralspalast wurde 1910 mit einer prachtvollen Fassade aus Jannowitzer Granit und istrischem Kalkstein als Varieté, Eispalast und luxuriös ausgestattetes Bad eröffnet. Er sollte eine Vergnügungsstätte für die Begüterten der aufstrebenden Großstadt sein. Es wurde eine große Pleite, registriert mein Begleiter trocken-ätsch. Auch als man die Eisbahn im Hofgebäude zum Theater umfunktionierte, wollte mit dem Admiralspalast keiner so recht warm werden. Nach 1945 allerdings ...Wir haben dem traurigen Innenhof schon den Rücken gekehrt, da geht ein Mann an uns vorbei und öffnet eine der Türen, die ich für immer verschlossen glaubte. So wird der Blick frei auf die Vorverkaufskasse der "Distel". Es sitzt dort jemand hinter Glas, man kann tatsächlich Karten kaufen.Auf dem Weg nach Norden über die Weidendammer Brücke schiele ich hinüber zum "Tränenpalast", dem Schauplatz traurigen deutsch-deutschen Grenzverkehrs. Mein Begleiter schaut schweigend in die Spree. Wenn es nach der Gastronomie ginge, müsste die Spree hier eigentlich Rhein heißen, witzel ich. Hier ist die Wacht vom Rhein, "De Kölsche Römer" und die "Ständige Vertretung". Während dort die Parlamentarier, wie man annehmen darf, über ihrem Kölsch sitzen, zitiert die Fassade des Berliner Ensembles Matthias Claudius: "´S ist Krieg, ´s ist Krieg. O Gottes Engel wehre und rede du darein. ´S ist leider Krieg - und ich begehre, nicht Schuld daran zu sein." Rechts neben dem Brecht-Theater erhebt sich derzeit noch das ehemalige Gebäude des Friedrichstadtpalastes. "Derzeit" ist vorbei und "rechts" ist ein weites Feld. Eine als Parkplatz fungierende Brache könnte ebenso gemeint sein, wie die Großbaustelle dort, wo einige Jahre lang das "Adria-Hotel" auf seine Abwicklung wartete. 1918 begann in dem Riesenbau die Ära des Theaters. Den großen Zauberer der Bühne Max Reinhardt reizte die Aufgabe, einem Massenpublikum glanzvolle Aufführungen zu bieten. 1945 war das Haus eine Ruine, aus der jedoch schon bald neues Leben sprießen sollte. Noch im gleichen Jahr etablierte sich hier das Varieté "Haus der 3000", aus dem dann 1947 der "Friedrichstadtpalast" entstand, der sich als Varieté der Weltklasse weithin guten Ruf erwarb. 1980 musste das Gebäude aus bautechnischen Gründen geschlossen werden. Ein neuer Friedrichstadtpalast entstand an der Friedrichstraße, wohin der Weg durch die Straße "Am Zirkus" führt. "Am Zirkus" also, wo keiner mehr ist und schon lange keiner mehr war. Und auch ursprünglich keiner sein sollte, denn was 1873 die Spielwiese von Renz und seinen Tieren wurde, war einmal als Markthalle geplant und auch eröffnet worden. Heute macht der Straßenname stutzig und man wirft zirkussuchende Blicke erst auf das Berliner Ensemble, dann auf den Friedrichstadtpalast, die sich jedoch indigniert abwenden: keiner will gemeint sein.Im weiteren Verlauf der Friedrichstraße wird die Orientierung mühselig. Für das Haus Nr. 122 verspricht der Stadtführer die "Urberliner City-Klause". Aber anstelle der "City-Klause" behauptet McDonalds achselzuckend, eben ein etwas anderes Restaurant zu sein. Neu orientieren: auf der rechten Seite sollte all das sein, das Nebenhaus der 122 sei die 113. Die 122 ist aber auf der linken Seite, das Nebenhaus der 113 ist die 112, natürlich. Ein harmloser Versprecher nur, und gleich so kopflos. Mein Begleiter zieht mich ungeduldig am Ärmel. Im Nebenhaus, in der Friedrichstraße 113, gibt es eine besuchenswerte Buchhandlung, die "Deutsche Bücherstube", und eine Verkaufsstelle für gediegene kunsthandwerkliche Erzeugnisse. Ich denke an Christa Wolf und Rauschgoldengel aus dem Erzgebirge und wundere mich über die Eile. Aber weder die 112, noch die 113 halten, was der Stadtführer verspricht. Wo Bücherstube und Rauschgoldengel waren, gibt es jetzt Firmen mit Namen wie "Psion Teklogix" und "Regionomica". Und was die "City-Klause" einst alles auf einmal war, teilen sich eine Irish-Pub, eine Trattoria und eine Champagner-Bar, die den Namen "Babalu" trägt und zu solch früher Stunde nicht mehr auf hat.Ich schlage das "Café Zapata" um die Ecke vor, das zwar nicht als Ur-Berliner Kneipe durchgeht, aber von heutigen Reiseführern zumindest als "berlinesk" empfohlen wird. Mein Begleiter wirft nur einen verwirrten Blick auf das gastronomische Ballungsgebiet in der Oranienburger Straße. Er zeigt auf den Fernsehturm und macht ein Foto.Am Oranienburger Tor, wo die Friedrichstraße endet und in die Chausseestraße übergeht, steht kein Tor mehr. Der Reiseführer empfiehlt mir, die Straßenseite zu wechseln, um mir die in Pastell auf eine Hauswand gemalte Abstraktion des einstigen Oranienburger Tores anzusehen. Mit viel eigener Fantasie erfährt man, wie es einmal ausgesehen hat. Die Fantasie verhaspelt sich im Stop and Go des Berufsverkehrs. Die Torstraße folgt ein Stück weit dem Verlauf der früheren Stadtmauer. Sie ist immer noch eine Art natürliche Grenze, fast wie ein Wassergraben, gefahrlos überquerbar nur an den Ampelfurten. Zwischen zwei Grünphasen habe ich meinen Begleiter aus den Augen verloren, sehe ihn dann aber auf der Verkehrsinsel vor dem "Schlecker" im Gespräch mit einem anderen älteren Herrn. Ich geselle mich dazu. Sie reden von der Torstraße, die nach dem ersten Staatschef der DDR einmal Wilhelm-Pieck-Straße hieß. "Dit passte den Wessis natürlich nich", meint der andere und nickt mir zu. "Zum zweeten Mal." Ich schau ihn fragend an. Als sich der Berliner Magistrat 1948 in den Westen der Stadt verlegte, wurde im Zuge des allgemeinen Reinemachens auch das Ehrenbürgerbuch Korrektur gelesen. Unter den Nummern 59 bis 64 standen dort die Namen Hitler, Göring, Goebbels, Frick, Lincke und Pieck. Den Nummern 59 bis 64 wurde die Ehrenbürgerwürde wieder entzogen. Ausgenommen nur Paul Lincke, nach dem ja immer noch ein allseits beliebtes Ufer in Kreuzberg benannt ist. Die beiden Männer zuckeln rechthaberisch mit den Köpfen und summen was von "Schlössern, die im Monde liegen". "Lincke", klären sie mich auf, "war Komponist".Geht man am Brecht-Haus vorbei die Chausseestraße weiter, gelangt man zu der Stelle, wo vor seiner Zerstörung im Kriege das Haus Nr. 121 stand, in dessen zweitem Geschoss Karl Liebknecht seine letzte Anwaltskanzlei hatte. Heute erhebt sich hier auf einer Freifläche der Gedenkstein für den Spartakusbund. Die Freifläche ist immer noch frei, eine Tafel verspricht jedoch baldige Baulückenschließung. Nebenan wird schon gebaut. Wo einmal die Kanzlei von Karl Liebknecht war, haben die Arbeiter ihre Autos abgestellt. Auf der Brandmauer, die das Gelände abschließt, steht: "Buchstaben-Fabrik". Der dazugemalte Zeigefinger weist nach hinten ins Gelände, wo nicht viel zu sein scheint. Aber tatsächlich steht da hinten noch der Spartakus-Gedenkstein, allerdings erhebt er sich nicht, eher duckt er sich unter die zweistöckige Containerburg, flüstert, wie mir scheint: "Spartakus - das heisst Feuer und Geist, das heisst Seele und Herz, das heisst Wille und Tat der Revolution das Proletariats." Ich lade meinen Begleiter auf einen Kaffee und ein Parmaschinken-Baguette ins "Marcann´s" an der Ecke Invalidenstraße ein. Gegenüber versucht die Humboldt-Universität, das Institut für Physik loszuwerden. Ein paar Meter weiter liest sich dazu das "Gott helf" über dem Eingang zur "Landwirtschaftlich Gärtnerischen Fakultät" wie ein Stoßgebet gegen die Privatisierung. Gegenüber offerieren "Cornelius + Scharnberg" Erd-, Feuer- und Seebestattungen. Mein Begleiter legt die Stirn in Falten. Die Parma-Stulle schmeckt ihm.
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