In der DDR der siebziger und achtziger Jahre war Jürgen Böttcher der mit Abstand bekannteste Dokumentarfilm-Regisseur. Von oben immer wieder angefeindet, gedemütigt und verboten, war er bei Filmkennern im In- und Ausland und beim Publikum von Filmkunsthäusern wie dem Babylon in Berlin oder dem Casino in Leipzig umso beliebter. Seine Filme waren stilbildend, Orientierungsgröße und heimliches Vorbild für eine ganze Generation ostdeutscher Filmemacher von Volker Koepp bis Helke Misselwitz.
Auf dem Weg zum Klassiker
Nach dem Zusammenbruch der DDR war Böttcher der erste Dokumentarfilmer aus dem Osten, der in den Pantheon der nunmehr gesamtdeutschen Filmgeschichte aufgenommen wurde. 1992 - gleich nach Frank Beyer, dem einzigen Oscar-Preisträger unter de
gen Oscar-Preisträger unter den DEFA-Spielfilm-Regisseuren, dem dasselbe im Jahr davor widerfuhr - erhielt Jürgen Böttcher aus der Hand des Bundesinnenministers das Filmband in Gold für sein Lebenswerk: die höchste Auszeichnung, die dieser Staat an Filmleute zu vergeben hat.Kurz davor hatte er für seinen bislang letzten Film, Die Mauer, auf den Berliner Filmfestspielen den Preis des internationalen Kritikerverbandes FIPRESCI erhalten, etwas später dazu noch den Felix, den Europäischen Filmpreis, für den besten Dokumentarfilm Europas.In diesem Jahr nun widmete man ihm eine Retrospektive im Rahmen des Internationalen Leipziger Dokumentarfilm-Festivals. Zu DDR-Zeiten war dies das größte Dokumentarfilm-Festival der Welt, für die SED-Führung ein außen- und kulturpolitisches Ereignis ersten Ranges. Damals wurden hier die meisten Böttcher-Filme eher stiefmütterlich behandelt, wenn sie überhaupt gezeigt werden durften. Die jetzige Retrospektive in Leipzig war denn auch nicht nur ein Akt der Würdigung des größten Dokumentaristen, den die DDR hervorgebracht hat: Sie war auch ein Akt der Wiedergutmachung. Gleich zum Auftakt überreichte ihm Fred Gehler, der heutige Festival-Direktor, den Hauptpreis dieses Festivals, eine Goldene Taube aus Meißner Porzellan - ehrenhalber, fürs gesamte Lebenswerk.Was will einer mehr? Könnte Jürgen Böttcher, der im nächsten Sommer 70 Jahre alt wird, nicht zufrieden sein mit soviel Anerkennung? Doch in Leipzig reagierte er in den Gesprächen mit dem Publikum auf jeden Anflug von Kritik gereizt und heftig. Freunden gegenüber, die ihn beschwichtigen wollten, ihm zu Gelassenheit, Souveränität und Coolness rieten, zeigte er sich ungehalten. Warum ist dieser Mann so unglücklich?Nouvelle Vague in der DDRJürgen Böttcher wollte gar kein Dokumentarist werden. Er hatte, von 1955 bis 1960 in Potsdam-Babelsberg, ein Regiestudium absolviert, um Spielfilme zu drehen: allerdings keine bloß ausgedachten, künstlichen Geschichten, sondern authentische, möglichst mit Laien an Originalschauplätzen entwickelte wie die seiner Vorbilder aus Italien, die großen Neorealisten von de Sica bis zum frühen Fellini. Seine frühen Arbeiten ab 1961 im DEFA-Studio für Dokumentarfilme betrachtete er als Vorbereitung auf dieses Ziel.Gleich sein erster Film dort, Drei von vielen, das dokumentarische Portrait dreier Künstlerfreunde in Dresden, enthält denn auch eine inszenierte Sequenz, die aus einem neorealistischen Spielfilm stammen könnte: Grabbe, der noch unverheiratete unter den dreien, geht auf Brautschau, mit offenem Hemd, auf einen Rummel. Er liebäugelt mit einer Zirkusreiterin - gespielt von Böttchers Lebensgefährtin Dobsi -, spricht sie an, nimmt sie mit zu sich nach Hause, zeigt ihr seine Skizzen: Der Zauber wirkt, eine zarte Liebesgeschichte bahnt sich an. Diese wunderbar beiläufigen Szenen erinnern in ihrer liebevoll genauen Milieu-Zeichnung an Fellinis La Strada; selbst Dobsi sieht ein bissschen so aus wie Giulietta Massini, Fellinis damalige Hauptdarstellerin und Lebensgefährtin.1966 war es endlich so weit: Böttcher konnte Jahrgang '45 realisieren, seinen ersten richtigen Spielfilm: eine kleine, alltägliche Geschichte - junges Paar trennt sich und findet wieder zusammen - besetzt vor allem mit Laien, gedreht auf Straßen und Plätzen Berlins, in den Wohnungen und Hinterhöfen des Prenzlauer Bergs. Doch Böttcher durfte diesen Film nicht fertig stellen: Zusammen mit einem runden Dutzend weiterer DEFA-Spielfilme wird er nach dem 11. Plenum des ZK der SED verboten, bleibt bis nach der Wende im Regal liegen. Seine Hauptfigur sei »indifferent, gedankenlos, unreif, asozial« heißt es, das Milieu »trist und unfreundlich«. Danach durfte Böttcher keinen Spielfilm mehr drehen.Sieht man Jahrgang '45 heute, so verblüfft seine Frische, seine Beiläufigkeit, seine atmosphärische Dichte. In seiner Hauptfigur Al spürt man den Geist des Aufbruchs, der sich Mitte der sechziger Jahre in ganz Europa ausbreitete: einer, der sich den Zumutungen des kleinbürgerlichen Lebensmodells entzieht, der noch nicht weiß, was er will, aber genau spürt, was er nicht will.Rolf Römer spielt diesen jungen Mann mit dem ganzen Körper: Mit dem Mund redet er eher wenig, ausweichend und flapsig - dafür sind seine Gesten umso beredter. Schon wie er eine Straße entlang schlendert, das weiße Hemd immer aufgeknöpft bis zur Mitte der Brust, mit geschmeidigen, tänzerischen Schritten: daraus spricht ein herrlich unbekümmertes Selbstbewusstsein, das sich auch vom Kaderleiter seines Betriebes nicht ducken lässt.Vergleicht man Jahrgang '45 mit Filmen, die zur selben Zeit im Westen entstanden - mit Alexander Kluges Abschied von Gestern, Ulrich Schamonis Es und anderen jungen deutschen Filmen, mit den Arbeiten der Nouvelle Vague in Frankreich, des Free Cinema in Großbritannien -, dann gibt es keinen Zweifel: Mit Jahrgang '45 - hätte man ihn damals nur sehen können - wäre Jürgen Böttcher eine der Leitfiguren dieser filmischen Aufbruchsjahre geworden. Er wollte so groß werden wie Jean-Luc Godard, wie Fellini - und er wäre es geworden.Können wir nachempfinden, wie weh es ihm tut, diesen Film heute zu sehen? Wie es ihn schmerzt, die Lobeshymnen der besten Filmhistoriker von Ralf Schenk bis Enno Patalas zu lesen - und zu wissen: sie nützen nichts mehr, sie kommen zu spät?Peitsche und ZuckerbrotNicht erst Jahrgang '45 - schon sein erster Film Drei von vielen war verboten worden. Dabei hatte sich Böttcher darin alle Mühe gegeben, seine Künstler-Freunde aus Dresden als biedere Kleinbürger auszugeben, die tagsüber ordentlicher Arbeit nachgehen, für den Frieden sind mit ihrer Kunst und nichts Besonderes sein wollen, nur eben »drei von vielen«.Doch das bisschen an authentischem Leben, das seine Bilder transportieren, war schon zuviel. Dass Grabbe barfuß sitzt auf seinem Schaukelstuhl zu Hause, dass die Bilder hinter ihm mit Reißzwecken an der Wand befestigt sind, dass da ein Kind in einer Zinkwanne gebadet wird statt in einem ordentlichen Badezimmer: Schon 1961 waren die DDR-Oberen der Lebenswirklichkeit ihrer Untertanen offenbar so sehr entfremdet, dass sie den Anblick solcher Wirklichkeitspartikel nicht ertragen konnten.Der erste Film - das erste Verbot. Gleich mit dem zweiten demonstrierte Böttcher, dass er die Lektion gelernt hatte. In Ofenbauer zeigt er Arbeiter so, wie man sie damals zeigen sollte: bei der Arbeit, möglichst bei einer Bestleistung, einer Planübererfüllung.Im Eisenhüttenkombinat Ost an der Oder wird ein neuer Hochofen an die Stelle eines ausgebrannten bewegt. 2.000 Tonnen müssen 18 Meter weit verschoben werden: dreimal hören wir's im Kommentar. »Das Kommando hat jetzt Meister Klaus. Seinen Befehlen ist unbedingt Folge zu leisten!« Männer bei der Arbeit: angespannte Gesichter, prüfende Hände, das Geräusch kreischender Winden und bis zum Zerreißen gespannter Stahlseile. Alles geht gut, und eine neue Bestleistung ist's auch: die Stillstandszeit der Anlage sei von 80 auf 40 Tage reduziert worden, tönt es im Kommentar. Prompt wird Böttcher dafür ausgezeichnet: 1962, auf dem Dokumentarfilm-Festival in Leipzig, erhält Ofenbauer gemeinsam mit drei weiteren DDR-Filmen die Silberne Taube.Können wir nachempfinden, wie er sich in diesem Augenblick, auf der festlich geschmückten Bühne in Leipzig, gefühlt hat: geehrt und hofiert von denselben Leuten, die ihn ein Jahr zuvor gegen die Wand laufen ließen?Zauber und GegenzauberIn der Broschüre zur Leipziger Böttcher-Retrospektive, die das Bundesarchiv/Filmarchiv ausgerichtet hatte, ist von einer »sehr umfassenden Werkschau« die Rede, später von einem »umfassenden Ausschnitt«. De facto wurden in Leipzig von seinen 45 Filmen gerade mal 15 gezeigt. Und auch die waren keineswegs repräsentativ für das Gesamtwerk.Gezeigt wurden nämlich nur die Filme, zu denen sich Böttcher gerne bekennt, weil er sie mehr oder weniger so machen konnte, wie er wollte. Die meisten übrigen seien »Strafarbeiten« gewesen, die er mit zusammengebissenen Zähnen absolviert habe; deshalb will er sie selbst nicht sehen, und andere sollen sie auch nicht sehen. Das sei so, als wenn man einem Sänger einen Knebel in den Hals steckt und ihn zu singen zwingt; das anzuhören, könne man doch niemandem zumuten.Einer hat sich das zugemutet: Claus Loeser. Er hat sich alle Böttcher-Filme angeschaut und für das erste Jahrbuch der DEFA-Stiftung eine »kritisch kommentierte Filmographie« verfasst. Darin spricht er von der »eklatanten Widersprüchlichkeit« seines Werkes, von »vielen, vielleicht zu vielen Kompromissen«. Loeser relativiert die These Wilhelm Roths, »dass es sich bei seinen Filmen um die eigentliche Avantgarde der DDR« gehandelt habe und behauptet, einige dieser Filme unterschieden sich »in nichts von den in der DDR üblichen Propaganda-Kanonaden«.Es ist das alte Spiel: Erst wird einer auf den Sockel gehievt, weil man aus den Trümmern der DDR wenigstens einen Helden retten will - und dann kommt einer und wackelt am Sockel. Und prompt schimpft der, der da oben stehen soll, ist verletzt und empört, gereizt und unglücklich.Wäre es nicht an der Zeit, das alte Spiel von Heldenverehrung und Vatermord abzubrechen? Reine Helden auf Sockeln: Die brauchen wir doch nicht mehr. »Avantgardist« oder »Opportunist«: Wir müssen uns doch gar nicht entscheiden zwischen Schwarz oder Weiß.Böttcher war kein freier Mann: Er war Angestellter eines staatlichen Filmbetriebs. Hätte er wahrhaftige Filme wie Wäscherinnen, Rangierer und In Georgien denn überhaupt machen können, wenn er nicht auch immer mal wieder die Wünsche und Fantasien seiner Oberen bedient hätte? Und wären seine Arbeiten auch dann immer klarer, reiner, hellsichtiger geworden, wenn er nicht auch in die Fabrikation von Trugbildern und Illusionen verwickelt gewesen wäre? Nur wer selbst schon geschwindelt hat, kann sich zur Wahrheit vorarbeiten.
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