Villas Otoch ist einer jener gesichtslosen Vororte an den Rändern Cancúns, das selbst gar kein richtiges Zentrum besitzt. Soweit das Auge reicht stehen kleine, einstöckige Reihenhäuser, angestrichen in hellem Gelb. In einem der Häuser verarbeitet eine Maschine ratternd Maisstärke zu Backteig, der dann – zu dünnen Fladen gepresst – auf heißen Platten ausgebacken wird. Die so hergestellten Maistortillas sind das Grundnahrungsmittel eines jeden mexikanischen Haushalts. Vor den Häusern warten die Nachbarn, stehen zusammen, unterhalten sich. Wer die Szene beobachtet, könnte denken, alles sei so weit in Ordnung hier.
Wenn da nicht dieser Geruch wäre, der einem immer wieder in die Nase weht. Mal kaum wahrnehmbar, dann wieder penetr
der penetranter, fast beißend. Es riecht faul, nach verschimmelten Abfällen. Wenn es regnet, erzählen die Bewohner, werde der unentrinnbare Gestank so stark, dass er manchen um den Verstand bringe. Wer auf der Suche nach seinem Ursprung geht, entdeckt direkt hinter der Häuserreihe dichtes Gestrüpp, dass den Blick auf eine Mülldeponie verdeckt. Am Himmel über der Halde kreisen Geier: 20, 30, vielleicht mehr.Die Deponie in Villas Otoch ist die einzige in Cancún, jenem mexikanischen Touristenort, in dem sich vom 29. November an die Teilnehmer der 16. Welt-Klimakonferenz der Vereinten Nationen treffen. Der Müll, der hier am Rand der Stadt abgeladen wird, stammt zu einem großen Teil aus der „Zona Hotelera“, der Hotelzone der Stadt. Auch der Müll, den die Umwelt-Delegationen während der Konferenz produzieren, wird also hierher kommen. Bis zu 800 Tonnen sind es an einem normalen Tag. Wenn nächste Woche der Klimagipfel beginnt, werden es nach Schätzungen noch einmal 400 Tonnen mehr pro Tag sein.Bis in die frühen 1950er Jahre hinein war Cancún eine weitgehend unberührte Halbinsel der Karibikküste mit einigen wenigen Fischerdörfern. Bis sich die mexikanische Regierung 1969 gemeinsam mit Privatinvestoren entschloss, einen Urlaubsort in der Gegend zu errichten, um den Tourismus im Südosten des Landes anzukurbeln. Wo zuvor Mangrovenwälder standen, wurde ein Hotel nach dem anderen gebaut. Cancún begann fast ungebremst zu wachsen. Genügend Platz war ja vorhanden.Heute ist Cancún eine Großstadt mit 900.000 Einwohnern, die sich über die Halbinsel hinaus auf das Festland ausgebreitet hat, wo inzwischen die Masse der Einwohner lebt. Anders als in anderen mexikanischen Städten findet man in Cancún weder einen zentralen Platz noch eine Kathedrale oder sonstige historische Bauwerke. Stattdessen bestimmen breite Avenidas, Einkaufszentren und eingezäunte Residenzen das Stadtbild. Cancún lebt vom Tourismus – mit allen Problemen die das mit sich bringt: zerstörte Mangrovenwälder, eine chaotische Müllentsorgung, Unmengen von Hotelbetten, erodierende Strände, verpestete Luft. Die Stadt ist Mexikos Reisedestination Nummer Eins, sechs Millionen Touristen haben Cancún dieses Jahr besucht und dort vier Milliarden US-Dollar ausgegeben. Ein Ende der Entwicklung scheint nicht in Sicht.Die Kehrichtseite der StadtDie Stadt wächst unaufhörlich weiter, vor allem an den Rändern, der Kehrseite der heilen Hotelwelt mit ihren mehrstöckigen Bettenburgen an weißen Sandstränden und türkisblauem Meer. Die meisten Bewohner Cancúns sind Zuwanderer aus allen Teilen des Landes, angezogen durch die relativ guten Verdienstmöglichkeiten im Tourismus und den angegliederten Dienstleistungsbetrieben.Einer von ihnen ist Sinar Martínez, der vor fünf Jahren aus Tapachula im Bundesstaat Chiapas hergezogen ist und nun in Villas Otoch lebt. In Riechweite der Mülldeponie. Er arbeitet für den mittlerweile privatisierten Wasserversorger AguaCan und beliefert die städtischen Haushalte mit Trinkwasser. Damit sei er hier jedoch die Ausnahme. „Die meisten hier arbeiten in der nahegelegenen Coca-Cola-Fabrik“, sagt er.In wenigen Tagen werden in seiner Stadt Delegationen aus aller Welt wieder einmal versuchen, sich zu einigen, wie der Kohlendioxidausstoß begrenzt und die Erderwärmung gestoppt werden kann. „Ach, das ist weit weg“, wischt Martínez das Thema vom Tisch. „In der Zeitung schreiben sie, das wäre gut für die Stadt, das würde den Tourismus ankurbeln.“ Von den Gipfelteilnehmern oder Touristen wird sich ohnehin niemand nach Villas Otoch verirren; selbst viele Menschen im Zentrum kennen die Gegend nur vom Hörensagen oder aus der Zeitung: wegen der Müllkippe.„Die Siedlung hier wurde vor fünf Jahren gebaut“, sagt Martínez etwas melancholisch. Die wenigen befestigten Straßen des Viertels sind in schlechtem Zustand. Abflüsse beispielsweise gibt es kaum. Selbst wenn es nur kurz schauert stehen viele sofort unter Wasser. „Man hätte es ja wissen können; die Müllkippe gab es schon vorher. Trotzdem hatten wir wohl gehofft, dass es eine Lösung geben könnte“, sagt Martínez. Doch die gibt es bis heute nicht: „Politiker waren einige hier, Leute von der Umweltbehörde. Alle haben sie Versprechungen gemacht, vor allem wenn Wahlen anstanden. Passiert ist nie etwas.“ Aus Martínez Stimme klingt mehr Enttäuschung als Ärger.„Es gab Zusagen, die Mülldeponie zu verlegen.“ An der Schnellstraße nach Mérida sollte eine neue Deponie gebaut werden. „Auch Greg Sánchez war ein paar Mal da und hat versprochen etwas zu tun“, sagt Martínez. „Er hätte vielleicht etwas bewirken können – mit seinem Einfluss und seinen Beziehungen.“Gregorio „Greg“ Sánchez von der sozialdemokratischen „Partei der Demokratischen Revolution“ (PRD) war auf gutem Wege Gouverneur des Bundesstaates Quintana Roo zu werden. In seiner Eigenschaft als Presidente Municipal, einer Art Oberbürgermeister von Cancún und der Region, hatte er sich einige Male die Klagen der Anwohner angehört. Die Verlegung der Mülldeponie hätte ihm hier eine Menge Stimmen eingebracht. Doch am 25. Mai, anderthalb Monate vor den Regionalwahlen, bei denen ihm gute Chancen auf den Sieg vorausgesagt wurden, wurde er verhaftet und sitzt seitdem im Knast. Der Vorwurf: Verbindungen zu einem Drogenkartell und Betrug in Millionenhöhe. Die PRD warf dem politischen Gegner unsaubere Methoden vor, doch Sánchez war bereits zuvor ins Visier der Justiz geraten. So soll er illegalerweise versucht haben, die Uferpromenade von Cancún zu verkaufen und wurde verdächtigt, in das Schleusergeschäft mit kubanischen Flüchtlingen verwickelt zu sein.Die Verlegung der Mülldeponie jedenfalls verhinderten schließlich die Nationale Wasserbehörde Conagua und die Umweltbehörde Seduma. Sie befürchteten, dass am geplanten Standort der Müll Trinkwasserlager verschmutzen würde – auch wenn sie das nicht mit Studien untermauern konnten.„Es gab Demonstrationen, Petitionen, sogar eine Blockade der Müllhalde, die aber von der Polizei aufgelöst wurde“, sagt Sinar Martínez und schaut etwas ratlos umher. „Ein anderes Problem sind die überall herumliegenden Müllsäcke“, sagt er plötzlich und deutet auf einige verschnürte Plastiksäcke am Straßenrand. Vor fast jedem Haus stehen einer oder zwei. „Die Leute stellen sie schon nicht mehr raus, da sonst streunende Hunde auf der Suche nach Nahrung alles durchwühlen.“Jeder spendet, was er kannDem Müllentsorger Domos ist dieser Tage gerade erst von der Stadtverwaltung die Konzession entzogen worden, da er seine Vertragszusagen nicht erfüllt hat und sich überall in der Stadt Müll stapelt. Seit Aufnahme des Betriebes im Januar 2009 hat Domos offenbar nie über die ausreichende Anzahl von Müllautos verfügt und war nicht zuletzt deshalb nie in der Lage, die Routen plangemäß zu decken.Sinar Martinéz’ Nachbarin Eugenia Zavara schaltet sich in das Gespräch ein. „Die Müllhalde und der Gestank sind das bestimmende Thema hier in der Gegend. Jeder in der Nachbarschaft wird das bestätigen.“ Der Gestank mache die Leute krank – Kopfschmerzen, Grippe, Hautkrankheiten. Sie selbst sei wegen Ausschlags in Behandlung gewesen. Und sie sehe, wie die Situation ihre Familie angreife: „Es kann nicht sein, dass meine Kinder ständig Hautkrankheiten haben, dass ihre Sachen stinken, dass sie Magenschmerzen kriegen.“ Auch Martinéz erzählt, dass ihn nun öfters Kopfschmerzen plagen. „Betroffen sind aber vor allem Kinder und ältere Leute“, pflichtet er Eugenia Zavara bei.Die hat sich in Rage geredet: „Und dann gibt es die Probleme mit dem Abwasser.“ Selbst die Explosion in einem Hotelkomplex vergangene Woche hatte mit Abwasser zu tun. Durch ein Leck in der Abwasserleitung war wahrscheinlich Methangas in ein Gewölbe unter der Hotellobby entwichen, hatte sich dort gesammelt und war schließlich explodiert. Sieben Menschen starben, 18 weitere wurden verletzt. Zunächst war vermutet worden, das Gas stamme aus der Zersetzung von Mangroven. Untersuchungen hatten nämlich ergeben, dass beim Bau des Hotels gegen Umweltauflagen verstoßen worden war: Etwa 54 Hektar Mangrovenwald seien illegal abgeholzt worden, um auf dem Grund die Hotelanlage zu errichten.Die Mangroventheorie wird zwar mittlerweile ausgeschlossen, doch die Untersuchung des Vorfalls erinnert an ein offenes Geheimnis, das den Gastgebern des Klimagipfels gerade jetzt kaum recht sein dürfte. Mangrovenwälder bedecken in der Region noch eine Fläche von 65.000 Hektar – wobei in jedem Jahr davon fünf Prozent verloren gehen. Hinter dem Verschwinden der Mangrovenwälder steht die Hotelindustrie. Die Staatsanwaltschaft für Umweltschutz schätzt die Anzahl der Hotelbetten in der Region auf 36.852; das sind 5.862 mehr als offiziell genehmigt. Schuld sind meist illegale Ausbauten auf Kosten der Umwelt.Und das, obwohl die Mangrovenwälder auch für die Tourismusindustrie nützlich sind. Nicht nur, dass sie eine Vielzahl von Tierarten beherbergen und Kohlenmonoxid binden, sie schützen die Küsten auch vor Hurrikanen, Sturmfluten und Erosion. Der Raubbau an den Wäldern wirkt sich schon heute aus: Nach den Hurrikans Wilma 2005 und Ida 2009 waren nach Angaben des Tourismusministeriums von ursprünglich neun Millionen Kubikmetern Sand an den Stränden gerade mal noch 700.000 Kubikmeter übrig.Ob ausgerechnet von Cancún ein Umdenken in der Umweltpolitik zu erwarten ist? Kürzlich wurde jedenfalls der Ausbau der Müllhalde in Villas Otoch beschlossen. Es soll Unregelmäßigkeiten bei der Vergabe gegeben haben. Der Auftrag in Höhe von 23 Millionen Pesos, rund 1,5 Millionen Euro, sei ohne Ausschreibung an das Unternehmen Construnova gegangen, sagen Kritiker. Demnach soll Aldo Reséndiz, Ex-Direktor für Stadtentwicklung und Cousin des nationalen PRD-Vorsitzenden Jesús Ortega, das Unternehmen engagiert und dafür fünf Millionen Pesos Provision kassiert haben.Die Stadtverwaltung weist die Vorwürfe zurück, doch die Bewohner von Villas Otoch haben 36.000 Flyer gedruckt, „gesponsort von den kleinen Geschäftsleuten der Gegend, die ihre Geschäfte wegen des Gestanks bedroht sehen“, sagt Martínez. „Von den Nachbarn hat jeder gegeben was er hatte oder geben wollte – 1000, 500 oder 10 Pesos.“ Die Flugblätter rufen dazu auf, in diesem Jahr die Grundsteuer nicht zu bezahlen. Ein erneuter Versuch, die Verlegung der Deponie doch noch zu erreichen. Martínez sagt: „Uns bleibt doch nichts anderes übrig als weiter zu kämpfen.“
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