Die Schule des Lebens ist kein Kinderspiel. Überall lauern die Verführungen des Konsums, die Gefahren ideologischer Systeme, der Konkurrenzdruck. Wenn man da das Pech hat, schwarz, klein und neu in der Klasse zu sein, sind die Konflikte vorprogrammiert. So ergeht es Tamino in Achim Freyers jüngster Zauberflöten-Inszenierung am Teatr Wielki, der Warschauer Nationaloper: als Außenseiter ist er Opfer seiner Mitschüler, als Streber wird er im Machtspiel zwischen Direktor Sarastro und der sternenflammenden Lehrerin zerrieben. Da hat es sein Freund Papageno schon leichter. Er bekommt zwar statt Cola vorübergehend nur Wasser. Aber indem er sich gar nicht erst dem Konkurrenzdruck der Klasse und der Suche nach der Weisheit aussetzt, sondern sich lieber auf die Nat
uf die Natur verlässt und sich auf sein stilles Örtchen zurückzieht, erhält er schließlich sein ungebrochenes Papagena-Happy-End.Die Warschauer ist Freyers sechste Interpretation von Mozarts bekanntestem Musiktheaterwerk. Auf der Suche nach dem Kern des Stückes hat er schon vieles probiert: Die Erlösung durch die Kunst in Hamburg, das Welttheater als Zirkus in Salzburg und den Krieg der Welten in Schwetzingen, Mannheim und Moskau. Dabei sind von der vermeintlich kinderfreundlichen Zauberwelt nurmehr Zitate übrig geblieben. Die "Kinder" dieser Inszenierung - der Chor, Tamino, Pamina, Papageno und Papagena - tragen an die Jahrhundertwende angelehnte Schuluniformen und rührende, kugelrunde Masken. Seine Bildnisarie singt Tamino (mit sehr lyrischen Momenten, aber stimmlichen und szenischen Reserven: Dariusz Pietrzykowski) verlegen und verschämt von einem Bein aufs andere tretend. Papageno (mit überragender Spielfreude und flexiblem Bariton zu Recht der Publikumsliebling: Artur Rucinski) küsst seinen neuen Freund verschmitzt auf die Wange. Und Pamina (mit rührenden Momenten: Agnieszka Piass) schleicht sich auf Zehenspitzen zurück auf ihren ursprünglichen Platz in der Mädchenklasse, aus der sie entführt worden war. Eine Idylle ist diese Kinderwelt trotz dieser anrührenden Bilder nicht.Gewalt gehört zum autoritären Alltag der Schule: Der Sportlehrer Monostatos schleppt Pamina auf Sarastros Geheiß zurück zu den Jungs und versucht später, sie zu vergewaltigen, während die Kinder der Klasse eine Masse von Opportunisten bilden, die ihren Herrn Direktor Sarastro preisen, hinter seinem Rücken die Klassenschlacht beginnen, vor den Wutausbrüchen der Lehrerin kuschen, Missgeschicke von Tamino und Papageno mit höhnischem Gelächter kommentieren und unter den Bänken in Deckung gehen, wenn es ihnen zu heiß wird.Freyer findet für nahezu alle Elemente und Figuren eine schlüssige Schul-Lösung: aus dem Glockenspiel wird ein Brummkreisel, die Schlange ist ein Seil aus dem Sportunterricht, über das die Mitschüler Tamino stolpern lassen, und die Tafel entpuppt sich als Videoleinwand, auf der die Lehrerinnen zeitgenössisch didaktisch ihre Botschaften aufbereiten. Und während des Kampfes zwischen den beiden mächtigen Herrschern am Ende der Oper flackern Bilder von kämpfenden Weltkriegssoldaten vorüber.In Momenten wie diesen gerät die Inszenierung in flaches, weil plakatives Fahrwasser. Unterstützt wird dieser Eindruck durch die Tableaus, die Freyer während der Gesangsnummern arrangiert: Weil er die Musik für bewegend und beweglich genug hält, lässt er die Sänger erstarren und sich nur dann bewegen, wenn sie gerade nicht singen. Wenn die stimmlich-musikalische Leistung des Abends überragend gewesen wäre, hätte sich die vom Regisseur intendierte Wirkung vielleicht ergeben können. So aber kommt nur gepflegte Langeweile auf. Denn der 75-jährige, in Polen hochgeehrte Kasimiersz Kord vermag es nach einer lebhaften Ouvertüre nicht, einen flüssigen Duktus beizubehalten. Die überwiegend jungen Stimmen müssen sich zudem in einem Raum behaupten, der wegen seiner Größe für Mozart-Aufführungen denkbar ungeeignet ist. Für den hervorragend einstudierten Chor ist das kein Problem; für Sänger so komplexer und komplizierter Rollen wie die Königin der Nacht und der drei Damen ist es das wohl.Der Abend stieß denn auch auf ein sehr geteiltes Publikumsecho: Viele Bravos, einige Buhs und viel Ratlosigkeit beherrschten den Schlussapplaus. Die Warschauer sind anderes gewöhnt. Hausherr des größten und bedeutendsten Opernhauses Polens mit seinen 1841 Plätzen ist seit dem vergangenen Jahr Mariusz Trelinski, in Deutschland durch seine Pique Dame-Inszenierung an der Berliner Staatsoper bekannt. Während diese in der deutschen Presse zwiespältig aufgenommen wurde, gilt er in Polen als Regiestar und macht sich als Opern-Entstauber einen Namen. Seine jüngste Inszenierung am Teatr Wielki, Puccinis La Bohème ist bezeichnend für seinen Stil. Er transformiert die Geschichte konsequent in die Gegenwart. Der von der Filmregie kommende Trelinski setzt dabei auf naturalistische Lösungen, lässt den ersten und letzten Akt in einem trendigen Loft spielen und macht aus den armen Studenten Vertreter einer dekadent-gedankenlosen Jugend. Dabei gelingt ihm manch intensiver Moment. Zu einer Parabel auf die Gesellschaft will sich der Abend aber nicht runden. Der Aktualisierungsversuch wirkt etwas belanglos und eindimensional. Vergleicht man seine Bohème aber mit anderen Werken auf dem Spielplan des Hauses, etwa den Opern Das Geisterschloss oder Halka des Nationalkomponisten Stanislaw Moniuszko, so wird seine Leistung deutlich: hier führen noch immer trachtengekleidete Choristen Volkstänze vor Bilderbuchkulissen auf.Vor diesem Hintergrund wirkt Achim Freyers gesellschaftskritische Studie über einen dogmatische Heilslehren verkündenden Halbgott und seine ebenso autoritäre Widersacherin fast wie ein tagespolitischer Kommentar. Bei der Option, zwischen zwei unmenschlichen Systemen entscheiden zu müssen, bleibt Tamino keine Wahl. Da er sich schließlich für eines der Systeme entscheidet, ist das Ende konsequent gedacht: Können Pamina und Tamino die Feuerprobe noch bestehen, indem sie die von den Geharnischten (im Kuklux-Clan-Look) initiierte Bücherverbrennung zu löschen vermögen, werden sie bei der Wasserprobe brutal ertränkt. Erst, nachdem sich Sarastro und seine Priester sowie die Königin nebst Gefolge gegenseitig umgebracht haben, können die beiden ohne Masken ins Publikum fliehen und sich dort in die Arme schließen, während der Chor sarkastisch verkündet: "Es siegte die Stärke, und krönet zum Lohn die Schönheit und Weisheit mit ewiger Kron´."