Dies ist ein historischer und hoffnungsvoller Tag für Russland und die USA, aber auch für die ganze Welt", meinte Präsident George W. Bush, als er zusammen mit dem russischen Staatschef Wladimir Putin im Moskauer Kreml den Vertrag über die Verringerung des Angriffspotenzials unterzeichnete. "Die ehemaligen Erzfeinde USA und Russland haben" - so am Tag danach Die Welt im Konzert mit vielen anderen Medien - "ein historisches Abrüstungsbündnis geschlossen, das die Reduzierung ihrer atomaren Gefechtsköpfe auf strategischen Waffen um zwei Drittel vorsieht."
"Der erste bedeutende Abrüstungsvertrag seit 1993", assistierte der russische Außenminister Igor Iwanow. Ein "Schritt auf dem Weg zur endgültigen Beseitigung der nuklearen Arsenale" sekundier
en Arsenale" sekundierte sein deutscher Amtskollege in Berlin. Welch ein Irrtum! Welch eine Täuschung und/oder Selbsttäuschung! Abrüstung - so die allgemein anerkannte Definition - zielt auf die Minderung oder Abschaffung von Streitkräften und Waffen. Sie kann einseitig, bilateral oder multilateral sein. Sie kann sich als umfassende Abrüstung auf alle Kategorien von Waffen und Streitkräften beziehen oder als teilweise Abrüstung auf bestimmte Kategorien ausgerichtet sein. Sie kann allgemein, das heißt, alle Staaten umfassend sein oder sie kann sich örtlich beziehungsweise regional begrenzen. Sie kann schließlich die Reduzierung von Streitkräften und Rüstung auf ein bestimmtes Niveau anstreben oder auf deren vollständige Abschaffung abzielen. Nichts von alledem trifft auf den Moskauer Vertrag wirklich zu. Richtig ist zwar, dass dieses Abkommen die USA und Russland verpflichtet, ihre atomaren Gefechtsköpfe von jeweils 6.500 bis 7.000 auf 1.700 bis 2.200 zu verringern. Doch bedeutet Reduzierung nicht automatisch Vernichtung und Verschrottung - also wirkliche Abrüstung. Um den lediglich vier Seiten umfassenden Vertrag zu erfüllen, genügt die bloße Demontage, also das Trennen von Sprengkopf und Raketenkörper. Was demontiert und eingelagert wird, lässt sich aber schon morgen wieder montieren und Tod bringend einsetzen. Von dieser grotesken Augenwischerei einmal abgesehen, lohnt es sich, die Laufzeit des Vertrages bis zum 31. Dezember 2012 genauer zu analysieren. Erst wenn diese Frist vollständig verstrichen ist - das heißt in einem Jahrzehnt -, muss die Demontage nachprüfbar vollzogen sein, es sei denn, die Parteien steigen vorab aus dem Vertrag aus. Dies kann mit einer dreimonatigen Kündigungsfrist zu jedem Zeitpunkt vollzogen werden. Wie wahrscheinlich also ist es, dass Russland und erst recht die Vereinigten Staaten tatsächlich vor Ablauf der Dekade einschneidend demontieren oder gar im definitorischen Sinne des Wortes wirklich abrüsten? "Wer weiß schon, was in zehn Jahren sein wird", sagt der US-Präsident selbst. Unterstellen wir aber einmal den wohl unwahrscheinlichen Fall einer sofortigen und zügigen Demontage mit anschließender Vernichtung der entfernten Atomsprengköpfe. Was wäre damit "Historisches" gewonnen? Übrig bleiben würde selbst in zehn Jahren noch ein Nuklearpotenzial von jeweils etwa 2.000 Gefechtsköpfen - eine mehrfache Overkillkapazität also auf beiden Seiten. Und wie wird die Nuklearmacht China, die aufstrebende Supermacht, auf diese nukleare Zukunftsperspektive reagieren, nachdem das Land während des Kosovo-Krieges der westlichen Allianz schmerzhaft erfahren musste, dass nicht die "Stärke des Rechts", sondern das "Recht des Stärkeren" regiert? Und wie werden sich die inoffiziellen Kernwaffenstaaten Israel, Pakistan und vor allem Indien verhalten, die anders als die übrigen 187 Staaten den Vertrag über die Nichtweiterverbreitung von Kernwaffen erst gar nicht unterschrieben haben und das auch mit der mangelnden Abrüstungsbereitschaft der "Großen" rechtfertigen. Werden sie vor dem geschilderten Hintergrund in ihren atomaren Aufrüstungsbemühungen einhalten, vielleicht sogar nuklear abrüsten? Wohl kaum. Anfang Januar 2002 hat das amerikanische Verteidigungsministerium dem US-Kongress einen geheimen Bericht zur künftigen Nuklearplanung (Nuclear Posture Review) zugeleitet. Darin wird entgegen dem Eindruck, der mit dem Moskauer Vertrag öffentlich vermittelt wird, die Modernisierung und Entwicklung neuer Nuklearwaffen diskutiert und empfohlen. Daneben werden Länder genannt, die demnächst zu Zielstaaten eines US-Nukleareinsatzes werden könnten. Darunter sind sogar solche, die selbst keine eigenen Nuklearwaffen besitzen wie Nordkorea, Irak, Iran, Libyen und Syrien. Kann man ausschließen, dass die indizierten Länder - spätestens seit dem Bekanntwerden der Studie - nach Wegen suchen, sich der Drohung gerade auch mit nuklearen Rüstungsprogrammen zu erwehren? Und wie werden wiederum die USA reagieren, wenn sie bestätigt bekommen, was sie vermutet, aber eben auch mit provoziert haben? Nein! Von einem "historischen Tag" und einem "hoffnungsvollen Tag für die ganze Welt", wie es uns Politik und Medien glauben machen wollen, konnte keine Rede sein. Eher schon von einem Versagen derjenigen, die Verantwortung tragen für eben diese ganze Welt und ihre Menschen. Professor Dieter S. Lutz ist Direktor des Instituts für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg.