Je häufiger "Schocks" auftreten, umso nutzloser erscheint es, über langfristige Entwicklungen nachzudenken. Dann kann man freilich ihre Ursachen - das "Verbindende" der "Schocks" - nicht begreifen, und damit auch nicht ihre Gestaltbarkeit.
Denken wir an Europa vor 50 Jahren: Es herrschte Vollbeschäftigung, die Staatsverschuldung war 20 Jahre lang gesunken, während der Sozialstaat ausgebaut wurde. Ein vereintes Europa war reale Utopie.
Heute sind 18 Millionen Menschen arbeitslos, 100 Millionen müssen sich mit "atypischen" Jobs zufrieden geben, die Staatsverschuldung ist hoch, "wir" können uns den Sozialstaat nicht mehr "leisten". Nationalismus beschleunigt die europäische Des-Integration.
Wie war das möglich? Noch dazu, wo gleichzeitig das BIP auf das 2,
eitig das BIP auf das 2,5-fache gestiegen ist! Ohne konkrete Antworten braucht man sich die Frage, wie es langfristig weitergeht in Europa, erst gar nicht zu stellen. Rekonstruieren wir also zunächst den langen Weg in die Krise.Unter dem wachsenden Einfluss neoliberaler Ökonomen wie Milton Friedman ließen die USA 1971 das System fester Wechselkurse kollabieren, der Dollar verlor in zwei Schüben jeweils 25% an Wert. Darauf reagierte die OPEC mit zwei "Ölpreisschocks" (1973 und 1979), welche zwei Rezessionen nach sich zogen.Den gleichzeitigen Anstieg von Arbeitslosigkeit und Inflation "verwerteten" die Neoliberalen als Widerlegung des Keynesianismus. Seine Vertreter (nicht hingegen Keynes selbst) hatten ja behauptet, man könne sich durch höhere Inflation einen Rückgang der Arbeitslosigkeit erkaufen. Allerdings galt diese These nur in einer geschlossenen Wirtschaft, der Inflationsanstieg war hingegen Folge des "Ölpreisschocks", den die Neoliberalen mit ihrer Forderung nach freien Devisenmärkten ja selbst mitverursacht hatten.Legitimation der LiberalisierungSeither dominiert wieder die alte Gleichgewichtstheorie. Sie nimmt an, dass Menschen nur individuelle, nur eigennützige, nur rationale und nur konkurrierende Wesen sind, deren Egoismen eine "unsichtbare Hand des Markts" in das Bestmögliche verwandelt. Diese Theorie legitimierte die Liberalisierung der Finanzmärkte, die Schwächung des Sozialstaats und damit des "gemeinsam Europäischen".Der durch Dollarabwertungen und Ölpreisschocks gestiegene Preisauftrieb wurde mit einer Hochzinspolitik bekämpft, ab 1980 lag der Zinssatz in Europa 35 Jahre lang über der Wachstumsrate. Gleichzeitig erleichterten die neu geschaffenen Finanzderivate das schnelle Spekulieren, die Schwankungen von Wechselkursen, Rohstoffpreisen, Zinssätzen und Aktienkursen nahmen zu.Unter diesen Bedingungen verlagerten die Unternehmen ihr Profitstreben von Real- zu Finanzinvestitionen, das Wirtschaftswachstum sank, Arbeitslosigkeit und Staatsverschuldung stiegen. Also wurden in den 1990er Jahren Symptomkuren verordnet: Sparpolitik sowie Senkung von Arbeitslosengeld und Reallöhnen dämpften Nachfrage und Produktion, gleichzeitig boomten die Finanzmärkte immer mehr.Nach dem "Vorbeben" des Aktiencrash 2000 bauten drei "Bullenmärkte" (Aktien, Immobilien, Rohstoffe) ein enormes Absturzpotenzial auf, das sich 2008 in drei "Bärenmärkten entlud. Die gleichzeitige Entwertung der drei wichtigsten Vermögensarten war die systemische Hauptursache der Finanzkrise 2008. Dies aber wurde nicht gesehen, weil in der Theorie nicht vor-gesehen.Placeholder image-1Das Verbindende der vielen Etappen auf den langen Weg in die Krise besteht in der Dominanz einer "finanzkapitalistischen Spielanordnung", wissenschaftlich legitimiert durch die neoklassisch-neoliberale Wirtschaftstheorie. Dies wird durch einen Vergleich mit der Prosperitätsphase der 1950er und 1960er Jahre deutlich.Damals folgte die Politik den Empfehlungen von Keynes, den Spielraum für Spekulation der "money makers" radikal zu beschränken ("Euthanasie der Rentiers"). Die Folgen entfesselter Finanzmärkte – vom Börsenkrach 1929 bis zu den Abwertungswettläufen der 1930er Jahre – waren noch lebhaft in Erinnerung. Bei festen Wechselkursen, stabilen Rohstoffpreisen, Zinssätzen unter der Wachstumsrate und "schlummernden" Aktienmärkten konnte sich das Profitstreben nur in der Realwirtschaft entfalten: Die Unternehmen konzentrierten sich auf die Bildung von Realkapital und damit auch von Arbeitsplätzen. Das "Wirtschaftswunder" war daher kein Wunder, sondern Folge der Anreizbedingungen.Eine solche "realkapitalistische Spielanordnung" wurde drei Jahrzehnte später – um 1980 – in China durch die Reformen von Deng etabliert, nach dem Motto "Kapitalisten aller Länder kommt zu uns – aber nur in der Realwirtschaft!".Unter diesen Bedingungen wurde schon um 1960 Vollbeschäftigung erreicht, die Wirtschaft wuchs so stabil, dass man gleichzeitig den Sozialstaat ausbauen und die Staatsschuldenquote senken konnte. Diese Erfolge stärkten ein emanzipatorische Haltung: Menschen müssen sich nicht den "anonymen Kräften des Markts unterwerfen" (Hayek), sondern können ökonomische Prozesse politisch (mit)gestalten.Aufstieg der SozialdemokratieWarum aber wurde dieses Erfolgsmodell aufgegeben? Um dies zu verstehen, müssen wir in die späten 1930er Jahre zurückblenden.Nach dem fulminanten Erfolg der "General Theory" (1936) von Keynes war es still geworden um seinen Gegenspieler Hayek. Doch dieser gab nicht auf. 1944 verfasste er mit seinem Buch "Der Weg zur Knechtschaft" den Katechismus der neoliberalen "Gegenreformation": Sozialstaatlichkeit und Vollbeschäftigungspolitik bedrohten die Freiheit. 1947 gründete er die Mont-Pelerin-Society (MPS), sie vernetzte die "original thinkers" (darunter acht spätere Nobelpreisträger) mit den Propagandisten in Think Tanks und Medien ("second-hand dealers in ideas" – O-Ton Hayek) und mit den Finanziers. Zwanzig Jahre lang bereitete die MPS durch Produktion und Verbreitung ihrer Theorien die "Gegenreformation" vor.Ende der 1960er Jahre war es so weit: Nach Erreichen der Vollbeschäftigung waren Gewerkschaften, Sozialdemokratie und Intellektuelle in die Offensive gegangen. Der linke Zeitgeist, Verteilungskämpfe, steigende Inflation und der Aufstieg der Sozialdemokratie erleichterten es den Neoliberalen, die Gleichgewichtstheorie wieder durchzusetzen. Sie legitimierte die Ent-Fesselung der Finanzmärkte.Während das "Prosperitätsmodell" an seinem Erfolg zugrunde ging, wird der Neoliberalismus an seinem Misserfolg scheitern. Denn die wichtigsten Krisenerscheinungen werden sich in einer neuerlichen Finanzkrise dramatisch verschärfen, wieder ausgelöst durch simultane Bärenmärkte, insbesondere von Aktien und Immobilien (Abbildung 1), sowie zusätzlich von (Staats)Anleihen – drei Bullenmärkten haben in den letzten Jahren wieder ein enormes "Entwertungspotential" aufgebaut. An Auslösern einer Finanzschmelze wird es nicht fehlen, von Handelskriegen bis zu einer Eskalation der Konflikte um den Brexit, die Türkei, Russland oder den Nahen Osten.Darauf kann die Politik auf zweierlei Weise reagieren: Entweder, sie hält weiterhin an der neoliberalen „Navigationskarte“ fest und verordnet – wie 2010 – „more of the same“, oder sie knüpft nach 50-jähriger Gegen-Aufklärung wieder an die Tradition von Emanzipation und (damit) von Selbst-Ermächtigung zur (Mit)Gestaltung der Gesellschaft an.Rechte Verführer versprechen „soziale Wärme“Im pessimistischen Szenario würden Arbeitslosigkeit, Armut und Ungleichheit sprunghaft steigen. Die Entwertung des Pensionskapitals wird durch Einsparungen im sozialstaatlichen Rentensystem verstärkt. Generell lässt die Demolierung des Europäischen Sozialmodells die Verbitterung über die „soziale Kälte“ der neoliberalen EU wachsen. Nationalismus und Populismus breiten sich (weiter) aus. Rechte Verführer versprechen „soziale Wärme“, diese könne es aber nur in der (jeweiligen) Volksgemeinschaft geben.Für sie ist der Euro das Instrument, mit dem die nationalen Systeme der sozialen Sicherheit geschwächt bis ruiniert wurden. Nur durch Rückkehr zu nationalen Währungen könne dieser Prozess gestoppt werden.Eine Auflösung der Währungsunion würde Europa in einen Wirtschaftskrieg führen: Nach fast vierzig Jahren „Finanzalchemie“ beträgt die Bilanzsumme der Banken das Drei- bis Fünffache des BIP. Dazu kommen Aktien und Anleihen, welche von Hedgefonds, Pensionsfonds, Unternehmen und Privaten direkt gehalten werden. Der größte Teil dieses „Kartenhauses“ notiert in Euro, überwiegend handelt es sich um Forderungen bzw. Verbindlichkeiten zwischen Euroländern.Würde die Währungsunion aufgelöst, müsste jede einzelne „Karte“ (Finanztitel) vom Euro auf eine der 19 neuen/alten nationalen Währungen „umgewertet“ werden. Dabei ergäben sich 342 bilaterale Gläubiger- und Schuldnerbeziehungen mit jeweils unterschiedlichen Typen von Finanztiteln (von Bankeinlagen bis zu Derivaten). Eine geordnete Abwicklung des Euro ist deshalb nicht möglich. Wie in der Natur so gibt es auch in der Gesellschaft irreversible Prozesse: Man kann 19 Flüssigkeiten in einen Krug gießen, trennen kann man sie nicht mehr.Enorme „Wutenergien“Zudem würde ein Scheitern des Euro enorme „Wutenergien“ freisetzen, die sich vor allem gegen Deutschland richten wird. Denn in den Krisenländern hat die von der „deutschen EU“ diktierte Sparpolitik ein Desaster angerichtet. Voll entladen kann sie sich die so angestaute Wut (noch) nicht, weil man in der Währungsunion verbleiben möchte und daher vom Wohlwollen Deutschlands abhängig ist.Das würde sich radikal ändern, wenn die Währungsunion aufgelöst würde und sich alle Sparanstrengungen als vergeblich erweisen. In ihrer Verbitterung würden die Krisenländer ein Moratorium ihrer Auslandsschulden gegenüber anderen Euroländern erklären und ihre Konkurrenzfähigkeit durch Abwertungen zu verbessern suchen. Finanzchaos und Wirtschaftskrieg würden den Nationalismus stärken – die Kettenreaktionen wären unkontrollierbar.Hauptverlierer eines Zusammenbruchs der Währungsunion wäre ihr (bisheriger) Profiteur, Deutschland: Ein großer Teil seiner Auslandsforderungen ginge verloren, ebenso die Konkurrenzfähigkeit seiner Exporte (anders als in den 1970ern würden Abwertungen der Währungen von Italien, Frankreich, Spanien, etc. die Inflation in diesen Ländern nicht nennenswert erhöhen). Die Bundesbank könnte diesen Effekt nur dadurch abmildern, dass sie massenweise Staatsanleihen der Abwertungsländer aufkauft.„Sanfter Faschismus“Mit Abwertungswettläufen und Wirtschaftskrieg innerhalb Europas würde sich der Prozess der Krisenvertiefung beschleunigen, qualitativ ähnlich wie in den 1930er Jahren, in Ausmaß und Tempo aber verschieden: Die Ähnlichkeiten bestehen im Auslöser (Finanzkrisen), in der nachfolgenden Sparpolitik, den Kürzungen von Arbeitslosengeld und Reallöhnen, im Sozialabbau, im Aufstieg rechter Verführer, in der Lenkung der Gefühle von Wut, Verbitterung und Zukunftsangst gegen „Sündenböcke“ und in der Zunahme des Nationalismus. Die Unterschiede bestehen darin, dass das Tempo der Krisenausbreitung und das Ausmaß der Krisenerscheinungen heute viel geringer sind als damals.Im optimistischen Szenario würden die (wirtschaftlichen) Eliten und ihre Unterstützer in Medien und Politik begreifen, dass der Neoliberalismus zwar lange Zeit Ihren Interessen nützte, allerdings dann nicht mehr, wenn er den Boden für einen immer radikaleren Nationalismus und Populismus bereitet, oder gar für einen „sanften Faschismus“. Ein solcher Anachronismus würde die globalisierte Geschäftstätigkeit erheblich stören.So besteht die Chance, dass der – wohl bedachte – Eigennutz der Eliten den Weg frei macht zu einer Abkehr von der "Finanzalchemie", und zu einer – maßvollen – Stärkung von Realwirtschaft und Sozialstaatlichkeit, nicht zuletzt auch als Basis für eine verstärkte Integration Europas. Denn die Gefahr eines "bedrohlichen" Machtzuwachses von Gewerkschaften oder linken Parteien – wie in den 1960er Jahren – besteht nicht.Egal ob das Szenario einer "rechtspopulistischen Re-Nationalisierung Europas" eintritt oder jenes einer Rückbesinnung auf die Stärken des Europäischen Sozialmodells: Der Neoliberalismus wäre in beiden Fällen am Ende – zumindest für ein paar Jahrzehnte.
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