Die Wirtschaftsstatistik der weißrussischen Republik widerspricht allen gängigen neoliberalen Theorien. Ein von Preiskontrollen und Staatsunternehmen dominiertes Land wird zum volkswirtschaftlichen Vorzeigebeispiel einer sozialen Marktwirtschaft. Im ersten Halbjahr 2004 wuchs das Bruttoinlandsprodukt um respektable 10,3 und die Binnennachfrage um 13 Prozent, wie auch die gar nicht Lukaschenko-freundliche Internetplattform www.belreview.cz zugeben muss.
Einzig die Ökonomin Elena Vasilewa, Vizedekanin der Staatlichen Universität Minsk, bezweifelt die Statistik: "In diesem Land wird nicht für die Konsumtion produziert, sondern für die Halde", erklärt sie den Boom und bedauert zudem, dass die Staatsmacht Geld für Sozialprogramme ausgibt: "Die Menschen kon
"Die Menschen konsumieren staatliche Zuschüsse, so funktioniert das hier."Die "Kommandowirtschaft", wie Vasilewa die seltsame weißrussische Melange aus Marktwirtschaft und Staatsaufsicht nennt, führe dazu, dass kaum jemand hart arbeite und die ganze Beschäftigungspolitik artifiziell sei "Unsere wirkliche Erwerbslosenzahl liegt nicht bei zwei Prozent, wie es offiziell heißt, sondern bei 20 bis 25." Der lokale Augenschein, aber auch ein Vergleich mit Ländern wie der Ukraine geben der Vizedekanin nicht Recht. Auch das Wiener Institut für Internationale Wirtschaftsvergleiche (WIIW) geht für Belarus von einer kaum signifikanten Arbeitslosigkeit und von einem hohen realen Wachstum aus.Die größte Tragödie für das LandIm Jahre 1991 stieß die Auflösung der UdSSR in der weißrussischen Sowjetrepublik wie nirgendwo sonst in der zerfallenden Union auf Unverständnis. Die Bevölkerung blieb gegenüber den überall sonst als modern gepriesenen nationalistischen Sezessionismen skeptisch, was dem Land in Anspielung auf seine konservative Grundstimmung den Beinamen "Vendée der Perestroika" eintrug. Noch 15 Jahre später spricht Vladimir Papkowski, das Oberhaupt des Minsker Stadtsowjets, vom Jahr 1991 als der "größten Tragödie für Belarus".Das Land wurde über Nacht zu der am stärksten außenhandelsabhängigen Ökonomie der Welt. Eben noch innersowjetischer Handel wurde in Export- und Importbilanzen gepresst. Weltbank und Internationaler Währungsfonds (IWF) zögerten nicht mit Empfehlungen für radikale Wirtschaftsreformen. Alexander Jaroschenko, Direktor im Wirtschaftsministerium, erinnert sich, dass in dieser Phase die Industrieproduktion um die Hälfte schrumpfte und eine Hyperinflation von über 2.000 Prozent das Land heimsuchte. Der Lebensstandard der Menschen verfiel entsprechend.Die Beziehungen zum IWF waren schon getrübt, als Präsident Alexander Lukaschenko 1994 unmittelbar nach seiner Amtsübernahme einer bereits an Russland erprobten ökonomischen Schocktherapie nichts abgewinnen konnte. Dass es anschließend wieder bergauf ging, hatte freilich nicht nur mit diesem kategorischen "Njet" zu tun, sondern auch mit der starken Bindung an den russischen Wirtschaftsraum und dessen Hauptschlagader - Sibiriens Energiereserven."Wir beeilen uns langsam", hieß es während der anschließenden Privatisierung, bei der die "Filetstücke" der nationalen Industrie, die seit jeher vorzugsweise für den russischen Markt produzierte, unter staatlicher Kontrolle blieben. Das hatte den heute in Belarus allseits geschätzten Effekt, dass anders als in Russland oder der Ukraine keine abgehobene Schicht der Oligarchen aufstieg. Auch der Minsker Journalist Nikolaj Tolstik kann dieser "staatlichen Lenkung" etwas abgewinnen, meint aber, dass nach Jahren der Obacht nun eine ökonomische Öffnung angesagt wäre. "Jetzt könnten wir - anders als zur Zeit des totalen Ausverkaufs in Osteuropa - faire Preise für unsere Firmen erzielen." Genau so lesen sich auch offizielle Ausschreibungen für ausländische Investoren, die von Regierungsseite inzwischen gesucht werden.Noch bis Ende der neunziger Jahre wurde das Russlandgeschäft - das galt besonders für die Einfuhr von Öl und Gas - auf Tauschbasis abgewickelt, seit 2004 jedoch ist dieser Barterhandel extrem rückläufig, seit Moskau für russische Energieträger Weltmarktpreise verlangt. Minsk sieht sich gezwungen, Importe durch eigene Produkte zu substituieren, nicht zuletzt bei Konsumgütern. "Ab Mitte der neunziger Jahre fanden unsere Konsumenten Gefallen daran, heimische Produkte abzulehnen, jetzt müssen wir sie wieder daran gewöhnen", meint der erwähnte Alexander Jaroschenko. "Aber wir wissen auch, eine forcierte Importsubstitution würde mittelfristig zu technologischem Rückstand führen."Fehlende Kontakte zum IWF, der Ende 2004 sein Büro in Minsk definitiv geschlossen hat, verhindern internationale Kreditaufnahmen, mit denen in anderen Ländern kurzfristig Handelsbilanzdefizite abgedeckt werden. Die Folge ist ein erzwungenes staatliches Investment, das der Volkswirtschaft mittelfristig nützlich sein könnte, brächte nicht die internationale Isolierung erhebliche technologische Nachteile.Als Reform getarnte KapitalvernichtungBelarus - "die Werkhalle der Sowjetunion", das war bis 1991 eine beliebte Metapher, denn gigantische Industriekapazitäten lagen am westlichen Rand des großen Reiches, um Baumaschinen, Traktoren, Lastkraftwagen und Elektrogeräte für die Abnehmer zwischen Murmansk, Wladiwostok und Taschkent zu bauen. Schlüsselbetriebe wie das Minsker Traktorenwerk MTZ oder der TV-Hersteller Gorizont galten für Millionen Sowjetbürger als Inbegriff technischen Forschritts. In der Wendezeit gerieten diese Monsterkombinate von zwei Seiten unter Druck. Zum einen war da bei Konsumgütern die plötzlich auftauchende Konkurrenz aus Südostasien, die Elektrogeräte zu Schleuderpreisen auf den postsowjetischen Märkten anbot, zum anderen entfielen die traditionellen Abnehmer von Investitionsgütern, weil Kolchosen und Sowchosen zerfielen und Kombinate ihre Tore schlossen, um den Normen der Perestroika - einer als Reform getarnten Kapitalvernichtung - Genüge zu tun. Die weißrussische Industrie blieb auf ihren Kapazitäten sitzen: Der Heimelektronik-Hersteller Gorizont hatte noch 1990 eine Million TV-Geräte verkauft - fünf Jahre später konnte das Unternehmen noch ganze 60.000 Stück absetzen. In dieser Phase sprang bei Gorizont der weißrussische Staat helfend ein und verhinderte durch eine auf die Branche zugeschnittene Schutzzollpolitik den drohenden Kollaps.Doch die Folgen einer einst auf den Großraum Sowjetunion fixierten Industriestruktur bleiben allenthalben spürbar. "Nur in wenigen Industriezweigen lasten wir unserer Kapazitäten augenblicklich zu 100 Prozent aus", meint Alexander Jaroschenko. Darüber können auch geschönte Berichte über neue Märkte nicht hinwegtäuschen, wie sie das im Auftrag der Regierung herausgegebene East-West-Forum abdruckt. Der zweitgrößte Wirtschaftspartner nach Russland, mit dem fast zwei Drittel des gesamten Außenhandels abgewickelt werden, ist schon Deutschland mit einem Exportanteil von mageren 400 Millionen Dollar.Bis 1995 etwa blieben ausländische Direktinvestitionen in Belarus eine Quantité négligeable. Ende 1996 wurde dann von staatlicher Seite eine "Belorussische Agentur zur Förderung von ausländischen Investitionen" (BAFAI) gegründet, die bis heute mit infrastrukturellen Angeboten und finanziellen Vergünstigungen um Kapital aus Westeuropa wirbt oder die Vorzüge der Zollunion mit Russland ebenso preist wie die bestens ausgebaute Verkehrsachse Berlin-Minsk-Moskau. Auch gäbe es verglichen mit Russland kaum Kriminalität, so dass Schutzgeldzahlungen entfielen. Trotz dieser Vorzüge, trotz angebotener Steuerbefreiungen - der Anteil externer Kapitalanlagen an den Gesamtinvestitionen lag 2004 deutlich unter zehn Prozent.Sechs eigens für ausländische Interessenten errichtete "Freie Wirtschaftszonen" in Minsk, Vitebsk, Brest, Gomel-Raton, Mogilew und Grodno sollen es nun richten. Im Minsker Areal empfängt Presseagentin Raissa Khvedchuk mit einem Power-Point-Vortrag: Diese "Wirtschaftszone" umfasse 1.500 Hektar, sie habe "zwei kleinere Dependancen direkt an der Straße Moskau-Berlin und am Flughafen Minsk". Von den 84 Unternehmen, die hier für den Weltmarkt produzierten, kämen 17 aus England, 13 aus den USA, elf aus Russland und sechs aus Deutschland, zum Beispiel die Evro-Holz AG, ein deutsch-weißrussisches Joint Venture, das Möbel für den deutschen Markt herstelle. Ungefähr 5.000 Menschen fänden in dieser Sonderzone Arbeit bei Bezügen, die mit bis zu umgerechnet 300 Dollar im Monat klar über dem Landesdurchschnitt lägen.Warum die quasi als exterritorial firmierenden Zonen bislang keinen Boom erleben, dürfte unter anderem an der staatlichen Obhut und einer eher sprunghaften Steuergesetzgebung liegen. Der Erhalt von Arbeitsplätzen sowie ein gewisser volkswirtschaftlicher Nutzen gelten als Prioritäten von Lukaschenkos Investitionspolitik auch mit Blick auf fremdes Kapital. Pjotr Nikitenko von der Akademie der Wissenschaften meint dazu, man müsse bei allem Bemühen Prioritäten setzen. Investitionen in den Rohstoffsektor seien für Belarus uninteressant. "Auch der Aufkauf einheimischer Betriebe, der letzten Endes dazu dient, Konkurrenten vom Markt zu nehmen, wird von uns so weit wie möglich unterbunden. Dieses Buy-and-sell-out, wie wir es von Polen und anderen neuen EU-Staaten kennen, ist für eine Volkswirtschaft desaströs."Auch fünf Banken aus Lettland, Serbien und der Schweiz haben sich in der "Freien Wirtschaftszone Minsk" etabliert. Auf die Frage, inwieweit das Gerücht stimme, dass es sich um Institute zur Geldwäsche handele, antwortet die Presseagentin, jeder Investor in der Wirtschaftszone arbeite auf eigene Verantwortung - der weißrussische Staat sorge nur für die Infrastruktur.Wachstum des Bruttoinlandsprodukts im Vergleich zu Russland und der Ukraine (in Prozent)200220032004Weißrussland5,06,810,1Russland4,77,35,5Ukraine5,28,54,7
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