Der Freitag: Herr Özdemir, was sind die Unterschiede zwischen der Einwanderungsdebatte in Deutschland und den USA?
Cem Özdemir: In New York, damals noch New Amsterdam, wurden bereits 1650 über 20 verschiedene Sprachen gesprochen, heute ist es wohl weltweit die Stadt mit der größten Vielfalt. Wo könnte man besser über Zuwanderung und Integration reden als in dieser Metropole? Deutschland kann Einiges von den USA lernen. Die Amerikanisierung von Zuwanderern aus unterschiedlichen Ländern, die Teil des American Dream werden: Das ist die Aufgabe, vor der wir jetzt in Deutschland stehen.
Was machen die USA richtig, was machen wir falsch?
Es gibt einen wirklich phänomenalen Unterschied: Die USA sind ein Land, wo Religiosität in vielen Gruppen stark ausgeprägt ist. Zugleich spielt die Religion im öffentlichen Diskurs praktisch keinerlei Rolle. Bei uns in Deutschland ist es umgekehrt: Wir haben ein deutlich geringeres Maß an Religiosität, aber die Religion spielt eine viel stärkere Rolle. Die Integrationsdebatte in Deutschland ist islamisiert, fast jeder Konflikt im Zusammenleben von Deutschen und Nicht-Deutschen wird über den Islam erklärt: Bei der deutschen Mutter, die beim Elternabend fehlt, liegt es an der sozialen Schicht. Die türkische Mutter kommt angeblich nicht, weil sie muslimisch ist. So kann man natürlich jedes Problem in Deutschland erklären. Es hilft nur nicht.
Wie haben Thilo Sarrazins Thesen die Einwanderungsdebatte in Deutschland gefärbt?
Ich habe schon über die Notwendigkeit, Deutsch zu sprechen, die Frage der Erziehungsstile und Macho-Kulturen gesprochen, als es viele andere noch nicht taten. Aber die Art, in der Thilo Sarrazin oder auch Necla Kelek die Debatte führen, wirft uns um Jahre zurück. Durch Pauschalisierungen setzt man weder einen Impuls für Veränderungen noch für selbstkritische Debatten. Es werden eher Gräben aufgerisssen als Gräben zugeschüttet. Verdächtigungen und Empfindlichkeiten dominieren dann, jeder zieht sich in seine Community zurück, anstatt dass wir gemeinsam den Weg in Richtung Republikanismus gehen. Mein Wunsch ist, dass wir Probleme und erfolgreiche Beispiele klar benennen, aber zugleich nach US-Vorbild unter dem Dach unseres Grundgesetzes an Bindestrich-Identitäten arbeiten. Dieses Konzept passt ganz gut zum Lebensgefühl der meisten Migranten.
Was bitte ist eine Bindestrich-Identität?
Es ist ein Setzkastenprinzip, das bei jedem individuell ein bisschen anders funktioniert. Das heißt idealerweise: Wir sind Deutsche und natürlich Europäer, haben aber eine unterschiedliche Herkunft – eine türkische etwa, eine polnische, italienische oder kurdische. Manche begreifen sich als kulturelle Muslime, andere sind gläubige Muslime und praktizieren ihre Religion. Und natürlich gibt es auch Menschen türkischer Herkunft, die sich selbst als Agnostiker oder Atheisten begreifen. Verbindende Elemente sind die gemeinsame deutsche Sprache und die gemeinsame Verfassung, die erst Einheit in Vielfalt ermöglicht. Natürlich gehört auch dazu, dass man aktiv versucht, seinen Lebensunterhalt selbst zu verdienen, aber auch, dass man seine Kinder bestmöglich unterstützt und in der Schule fördert. Klar ist: Wer das macht, der muss dann auch dazugehören können. Und da beginnt genau unser Problem in Deutschland.
Ist die Bindestrich-Identität der Gegenentwurf zur Assimilierung?
Ich habe gar nichts gegen Assimilation, solange sie individuell und freiwillig stattfindet. Ich habe aber ein Problem damit, wenn mir der türkische Ministerpräsident erklärt, dass ich mich nicht assimilieren darf, und wenn deutsche Politiker mir erklären, dass ich mich zu assimilieren habe. Es geht beide einfach gar nichts an, ob ich religiös bin oder nicht, ob ich meinen Kindern neben Deutsch noch Türkisch oder Spanisch oder Schwäbisch beibringe.
Deutsch aber muss sein?
Das ist für mich eine Selbstverständlichkeit. Wenn man die Amtssprache beherrscht, kann man sich gewerkschaftlich organisieren, kann man Verbraucherschutz in Anspruch nehmen und einen Bankvertrag verstehen, so dass man nicht über den Tisch gezogen wird. Man kann sich dann auch demokratisch streiten, das ist ja auch wichtig. Die erste Generation der Zuwanderer waren allerdings überwiegend Leute aus ländlichen Gebieten, die keine Chance hatten, dort einen Schulabschluss zu machen und die nicht mit der Absicht gekommen sind, auf Dauer zu bleiben. Wenn deren deutsche Sprachkenntnisse zu wünschen übrig lassen, dann bitte ich um ein gewisses Verständnis, diese Generation hat mit harter körperlicher Arbeit auch Einiges zum Wohlstand Deutschlands beigetragen. Etwas anderes gilt allerdings für alle, die jetzt nach Deutschland kommen, hier geboren wurden und aufwachsen. Die sollten nun wirklich Deutsch beherrschen, auch in ihrem eigenen Interesse.
Die Sprachkenntnisse scheinen in der US-Diskussion eine eher untergeordnete Rolle zu spielen.
Das ist sicherlich richtig. Es geht in den USA eher um die Frage, ob man dazu gehört. Wenn ich in Washington das Jefferson Memorial besuche und dort Leute sehe, die ihren Kindern in gebrochenem Englisch erklären, dass es sich bei der Schlacht um Gettysburg auch um ihre Geschichte handelt, dann finde ich das faszinierend.
Cem Özdemir (45) ist seit 2008 Parteichef der Grünen. Er war 1994 der erste Abgeordnete türkischer Herkunft im Deutschen Bundestag
Kommentare 11
1650 landeten religiöse Flüchtlinge, Verbannte, Verurteilte und Abenteurer an der amerikanischen Küste an und tauschten Glaskugeln gegen Land. Australien war z.B. auch bevorzugtes Rückzugsgebiet für die von der Herrschaftsschicht und Gerichtlichkeit Auserwählten.
Dass 20 verschiedene Sprachen gesprochen wurden, verweist eher auf das Elend der Menschen im genannten Zeitraum, weniger auf eine Vielfalt der Kultur. Dieses sollte nicht ungenannt bleiben, wenn wir schon einen Rückgriff in die Historie tun.
Da wird der politische Anspruch:
Ich habe schon über die Notwendigkeit, Deutsch zu sprechen, die Frage der Erziehungsstile und Macho-Kulturen gesprochen, als es viele andere noch nicht taten.
Zu dem uneingestandenen Bekenntnis des argumentativen Scheiterns. Als integrierter Mitbürger, als Bildungsbürger unserer Gesellschaft kann Herr Özdemir die Adressaten seiner Nachrichten nicht mehr erreichen und seine Absichten nicht mehr erklären. Die Vertiefung des Zerwürfnisses in diesem Kontext offenbart das wirkliche Dilemma:
Der Patriarch, gefesselt in einer sicheren Welt seiner Herkunft, weder der Sprache noch der Schrift kundig, ausgeliefert einer Kultur die ihn tagtäglich erschreckt, getrieben von dem Bestreben, seine Kinder vor dieser Verhöhnung seiner Grundanschauungen zu bewahren, wird Herrn Özdemir nicht verstehen und seine Kinder werden diesen als Verräter diffamieren, nicht als Hoffnung begreifen.
Das ist ganz gut was Herr Özdemir da so von sich gibt. Ich wundere mich eigentlich nur darüber das dieses Denken scheinbar nicht oder eher selten praktiziert wird? Und wenn es praktiziert wird, damit umgegangen wird, als sei das eine besondere Errungenschaft. Dabei ist doch das ganz natürlich so zu denken, in einer Postmodernen Welt? Alles Andere ist einfach nur zurückgeblieben.
Von mir aus sollen die Grünen Herrn Özdemir als ihren Kanzlerkandidaten aufstellen. Der wäre mir als Bundeskanzler lieber als Herr Gabriel von der SPD. Ich persönlich werde wieder für Schwarz-Gelb stimmen, glaube allerdings, dass es für eine Regierung Merkel-Rösler nicht mehr reichen wird.
Einen wichtigen Unterschied zwischen den Vereinigten Staaten von Amerika und Deutschland hat Herr Özdemir nicht genannt. Die Ureinwohner der USA leben inzwischen in Reservaten und sind zu einer winzigen Minderheit geworden. In Deutschland leben immer noch mehrheitlich Deutsche mit deutschen Vorfahren. In der Türkei herrschen seit einigen Jahrhunderten die Türken. Die Griechen, Armenier und Kurden wurden vertrieben, teilweise ausgerottet oder unterdrückt.
Ich kann mir nicht vorstellen, dass in der Türkei jemals jemand Ministerpräsident, Staatspräsident, Armeechef oder hoher Richter wird, der kein Türke mit Türken-Nachweis und Muslim ist.
@ R Stilzchen schrieb am 18.05.2011 um 21:24
Ich kann mir nicht vorstellen, dass in der Türkei jemals jemand Ministerpräsident, Staatspräsident, Armeechef oder hoher Richter wird, der kein Türke mit Türken-Nachweis und Muslim ist.
Das kann ja nun wohl kein Grund sein "Schwarz-Gelb" zu wählen, es sei denn man ist mit Erdogan einverstanden.
Die Türkei hat beachtliche Demokratie Defizite ( sehr Diplomatisch gesagt ) - und sollte eindeutig zum Völkermord an den Armeniern Stellung beziehen!
... tatsächlich sind die von ihnen genannten gruppen so sehr in der türkischen gesellschaft aufgegangen, dass ihr vorhandensein in top-positionen nicht auffällt, da diese nicht hinterfragt werden, wie dies der autor hier offensichtlich tut ... tatsache ist aber auch, dass immer mehr hobby-geschichts-juroren versuchen, ohne ein buch gelesen zu haben oder gar ein land zu kennen, ihre unwissenheit zu verbreiten, welches mittlerweile ja durchaus salonfähig zu sein scheint.
Die genannten Gruppen haben sich also assimiliert oder wurden assimiliert, was laut Erdoğan ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit wäre.
Assimilation durch Mord? Eine nette Variante
Herr Özdemir vergisst den meiner Meinung nach zentralen Unterschied zwischen der amerikanischen Einwanderungspolitik- und Einwnderungspraxis und der deutschen Zuwanderungs- bzw. Migrantenpolitik zu erwähnen:
Wer in die USA einwandert, will und wird amerikanischer Staatsbürger werden. Er/Sie wechselt die Nationalität ganz bewusst.
Cem Özedemir diskutiert hier die soziale und sprachliche Integration von Migranten. Mit seinem beharren auf einer deutschen Amtssprache, lässt er aber eine Integrationschance ungenutzt. Bevor Neumigranten den langwierigen Weg des Spracherwerbs gegangen sind, sind sie vielfach schon an den deutschsprachigen Behörden gescheitert. Zentrale Anlaufstellen sollten auf der personal Ebene so gestaltet sein, dass es Migranten aus den verbreitetsten Herkunftsländern möglich ist ihre Amtsgeschäfte in ihrer Muttersprache ohne die Hilfe eines Übersetzer abzuwickeln. Für Migranten aus den weniger verbreitetsten Länder sollte auf die bereits bestehende Möglichkeit eines Übersetzers zurückgegriffen werden. Neben dieser passiven Seite hätte diese Art der Personalpolitik auch noch den Vorteil, dass sie Migranten Arbeitsplätze in der bürgerlichen Mitte und damit eine reale Aufstiegschance bieten.
Das beherrschen der Sprache des Landes, in dem ich leben möchte, ist glaube ich eine nützliche Sache.
Mag es in New York auch noch italienische Viertel geben, in einem ist man sich einig, ohne die englische Sprache geht es nicht.
Kein Mensch käme auf die Idee, zu sagen, englisch brauch ich nicht.
Sprache ist wichtig. Nur über sie findet der Austausch statt, wenn man sich noch nicht gut kennt. Wer sich liebt, braucht deutlich weniger Worte.
Ich arbeite mit sehr vielen türkischen Kollegen zusammen. Je besser die Sprachkenntnisse, desdo besser die Stellung.
Zweifel an der Lauterkeit des Anderen werden am besten durch die gleiche Sprache ausgeräumt.
Kulturelle Unterschiede wird es lange geben, siehe Amerika.
Sie sind nur dann ein Problem, wenn es Menschen gibt, die daraus einen Vorteil ziehen wollen. Z.B. bei Wahlen, oder wenn sie ein Buch verkaufen wollen.
Es gibt keine Rassen mit unterschiedlicher Prägung bei den Menschen. Es gibt nur Menschen.