Befinden und Befunde Die Frauenbewegung hat schon vor langer Zeit ihre gemütliche Identität verloren. Ein Grund für den Verlust ist die historische Neuordnung des "wir"
Weit liegt sie zurück, die Gründung der lange schon untergegangenen Frauenzeitschrift Courage, an der ich mitgewirkt habe. Dass es nur ein Viertel Jahrhundert sein soll, überrascht mich fast. Das feministische "wir" damals hatte etwas Gemütliches an sich, eine unschuldige Sicherheit im Dazugehören, die heute romantisch klingt. "Wir" haben uns als Drohung verstanden - für den Kapitalismus, das Patriarchat, und als Akademikerinnen waren wir überlegen, weil wir uns nicht mit dem sex-based Werkzeugkasten der Soziologie oder Geschichte zufrieden geben wollten. Ich erinnere mich an so viele hoffnungsschwangere Momente.
Die Gemütlichkeit ist heute weitgehend feministisch zerredet, ja zum Schimpfwort geworden. Zugehörigkeit auf körperlicher Grundlag
erlicher Grundlage ist als etwas naturhaftes, unkritisches verpönt. Der Zusammenschluss von Frauen, die Gleichberechtigung fordern, war damals überraschend und bedrohlich für den Status quo, heute ist die Gleichstellungsbeauftragte ein integraler Faktor jeder Verwaltung und nur selten ein Störfaktor. Auch die Begrifflichkeit, mit der Gesellschaft verstanden wird, hat sich tief verändert. Es wird nur zu oft übersehen, dass das "wir" von damals sich mit dem "wir" von heute kaum mehr vergleichen lässt. Das "wir", das wir in "wir Frauen" unter die Lupe genommen haben, steht heute in der Gefahr, zum Resultat eines Berechnungsvorganges zu werden, womit - will man es bildlich ausdrücken - aus einem Hasenbraten ein falscher Hase, aus etwas Erlebbarem so etwas wie eine Kreditkarte würde.Wenn man heute von "damals" spricht, denken wenige Leute daran, dass das Wir-Sagen im Laufe dieser Jahre über eine Epochenschwelle gerutscht ist. Wenn man ans radikal Neue der Jetzt-Zeit denkt, kommen zuerst ganz andere Reizwörter ins Gedächtnis: Gen-Technik, weltweite Polarisierung zwischen Arm und Reich, die dräuende Klima-Katastrophe, informationstechnologisch geschaffene Arbeitslosigkeit, Vernetzung, RU-4 oder Viagra und anderes eher einfaches wie die Mikrowelle, die Fragwürdigkeit meiner Pensionsberechtigung als Professorin oder das Handy. Von A bis Z scheint mir diese Liste trivial im Vergleich mit der Veränderung, die ich untersuchen möchte, der Rekonstruktion, der Neuordnung im "wir". Was in Bezug auf das "wir" vor sich gegangen ist, ist nicht geschlechtsspezifisch und hat doch in einer einzigartigen Weise Frauen betroffen. Davon zu sprechen ist beinahe tabu. WIR, dieses persönliche Fürwort soll Geschichte haben? Die Behauptung scheint auf den ersten Anblick an den Haaren herbei gezogen, doch was ich hier in groben Umrissen aufzeigen möchte, ist der Unterschied zwischen dem "wir" damals und dem "wir" heute, dem damalig ideologischen "wir" - wir Bauern, wir Arbeiter, wir Hausfrauen, wir Unterentwickelten - und dem heutigen "wir", dem stochastischen, statistischen, berechneten "wir", mit dem ich die einzelnen als Fälle in einer kalkulierten Population meine. Zunächst aber ein kurzer Exkurs in die Linguistik und Semantik. Ein üblicher Teil linguistischer Studien besteht im Vergleich des Umfangs von Wortfeldern in verschiedenen Sprachen. Bekannt ist die Unübertragbarkeit solcher Worte wie des deutschen "gemütlich". Viel seltener aber ist der Sprachvergleich in Kleinigkeiten, wie zum Beispiel der hinzeigenden Fürwörter. Im Deutschen werde ich sofort verstanden, wenn ich sage: "hierher", "dorthin" und "dort drüben". Wer immer eine Fremdsprache ordentlich gelernt hat, weiß, wie anders, schwer erlernbar in anderen Sprachen das Gefühl für die Zonen im Raum verläuft. Im Englischen ist es entweder "here or there". In einigen slawischen Sprachen ist die Ferne fünffach gestaffelt, auch dazu gibt es Studien. Noch viel weniger wurde das persönliche Fürwort auf diese Weise verglichen. Und das ist es, was mich hier beschäftigt. Die Bedeutung des Fürwortes der ersten Person in der Einzahl "ich" und in der Mehrzahl "wir". Als Beispiel werde ich knapp und kursorisch das deutsche und das malayische "wir" vergleichen, um dann den Vergleich des deutschen "wir" in aufeinanderfolgenden Epochen anzustellen.Ausnahmslos in allen malayisch polinesischen und mikronesischen Sprachen hat die erste Person Plural wenigstens zwei kontrastierende Formen: "kita" und "kami", also zwei ganz verschiedene Mehrzahlen, in denen jeweils das "ich" mit einbegriffen ist. Die eine Form des "wir" sagt: "ich zusammen mit dir" oder "mit euch", die andere "ich zusammen mit dem, der oder denen dahinten, aber unter Ausschluss von dir, den ich anrede und euch anderen". Wie viel Missverständnis durch kita und kami vermieden werden kann, sei an einem Beispiel gezeigt: Ich treffe in Begleitung einer Freundin auf der Straße fünf andere Frauen, von denen zwei sich uns anschließen wollen. Und ich sage, "wir sind ja bei dir eingeladen heute Abend". Ich meine natürlich "ich und meine Freundin" und verwende "wir" für diese Zweiheit. Aber durch die Verwendung von "wir" beginnen andere zu zweifeln, ob sie nicht auch eingeladen sind. Das könnte im Malayischen nicht vorkommen. Zwei Drittel aller bekannten Sprachen verpflichten den Sprecher, diesen Unterschied zu machen. Am besten demonstriert das ein Beispiel aus dem "Pidgin-English": das ist ein sogenanntes Kreol, also eine Sprache, die ihre meisten Wörter verloren hat, nicht aber ihre Syntax. Die Wörter sind heute Englisch, die Syntax bleibt Polinesisch: "mi" das bin ich, und "yu" ist du, "mipella" (das meint my fellows) das bin ich und meinesgleichen im Gegensatz zu "yupella". "yumi" sind wir zwei unter Ausschluss aller anderen, "yumitripella" das sind wir zwei unter Einschluss der anderen, "yumipella" ist der oder die Angesprochenen unter Einschluss all meiner fellows. Das sieht auf den ersten Blick ein wenig kompliziert aus, doch eines wird deutlich: solche Sprachen zwingen in jedem Gespräch zu einer genauen Wahrnehmung verschiedener "wir". Ich habe von einer Sprache gehört, in der es ein besonderes "wir" für die Braut gibt, die einstweilen nur hoffnungsweise "unsereins" ist. Und in Kärnten gibt es auch heute noch den Ausspruch "empt ham a bier trunken" der an den uralten Dualis, "wir zwoa" erinnert. Vor zwanzig Jahren hatten sich sicherlich noch Reste des traditionsgebundenen "wir" erhalten", wir Kärntner, ein Wir, das "wir Arbeiter" meint oder gar "wir Kommilitonen". Aber überwiegend hatte sich schon ein neues Wir durchgesetzt, mangels eines besseren Ausdrucks nenne ich es das "ideologische wir". Der Sprecher, die Sprecherin meinen mit "wir" immer seltener die Anwesenden und auch nicht das verpönte "man", das so etwas aussagt, wie "jeder überhaupt". Sie meint "wir Mediziner" oder wir, die wir wissen, dass man der Wissenschaft vertrauen muss. Und die "Ver-Wirung" der Frauen zu den Hochzeiten des Feminismus hat im Schatten der Selbstverständlichkeit dieses ideologischen oder voluntaristischen "wir" stattgefunden. Mit einem Gefühl, das irgendwo zwischen Scham, Schmerz und Sehnsucht steht, denke ich an diese erlebte Identifikation, an mein Frauenselbst damals. Daran, wie mir meine Eigentlichkeit über dieses "wir" - wir Frauen - vermittelt werden konnte. Im Vergleich mit der Dumpfheit "mir Schlierseer Derndln" war die Helle dieses neuen Wirs eine Entdeckung, gab eine neue Würde. Das war schon im Jahrzehnt, in dem ich auch in einer gemischten Gesellschaft kaum mehr sagen musste "wir Frauen", sondern einfach "wir, wir sehen das eben anders". Und verstanden wurde. Warum ist das heute nicht mehr so?Wie schmerzlich dieser Verlust für eine aus meiner Generation sein kann, habe ich bei einer internationalen Konferenz über Frauen und Technologie in Graz verstanden. Eine etwas biedere Mutter von mehreren Kindern hielt ihren Vortrag im Schottenrock. Mit überzeugender Einfalt war es ihr möglich, die Welt in zwei Lager zu teilen: auf der einen Seite die Mutter, die Heim und Kinder schützt, der Frieden, die Blumen. Auf der anderen Seite die Männer mit Presslufthammer, Gewehr und Scheckkarte. Trotz dieser Schematik war es klar, dass sie "uns" gut gelesen hatte. Nach dem Vortrag, bei der Diskussion, stand Rosi Braidotti auf, und machte sich über die Existenz von "Frauen" lustig. Mit ihrem ironischen Zerriss der Englisch sprechenden Hausfrau traf sie genau den wunden Punkt der meisten Artikel, die ich früher als Mitverlegerin der Courage druckfertig gemacht hatte. "Frau" war für Braidotti ein romantisches, sentimentales, unwissenschaftliches, typisch rassistisches ideologisches Konglomerat. Ein Hochstilisieren von etwas angeblich Gemeinsamem an schottischen Hausfrauen, afrikanischen Sklavinnen, relativ unterbezahlten Leitungsbeamtinnen, arbeitslosen Habilitierten und Dienstmädchen. Braidotti sprach als Wissenschaftlerin. Sie ließ nur das als zuschreibbare Eigenschaft gelten, was gemessen werden kann und was gemessen worden ist. Ich fühlte mich mit der Schottin angegriffen, aber ich konnte nicht umhin, die Stringenz zu bewundern, mit der Braidotti alles, was als eine Substanz, eine Essenz, als Natur, ja als Körper der Frau überhaupt besprochen wurde, als ein unwissenschaftliches Emblem oder Ideologem abservierte. Damals schon im zwanzigsten Jahr meiner feministischen Erfahrung, konnte ich ebensowenig vermeiden, die politische Relevanz von Braidottis Argument zu fassen.Warum wohl? Nach zwanzigjähriger Bewegung war es mir klar, dass politische Erfolge im Dienst der Ver-wirung aller Frauen der Welt unvermeidlich und primär der Beförderung jener Menschen gedient hatte, mit deren Eigenschaftsprofilen ich mich vergleichen kann. Und dass dieses Modell als Vorbild dienen sollte für weitaus mehr Frauen, die immer ferner und immer schmerzlich bewusster entfernt von unseren Fortschritten waren. So unakzeptabel für mich die Dekonstruktion dessen auch sein mag, als was ich mich fühle, die Dekonstruktion der traditionellen Historizität des Frauseins, in dessen Schatten ich aufgewachsen bin, so ist Braidottis Beitrag doch eine wichtige Kritik an dem, was ich oben die "ideologischen Ver-wirung" der Fraueninitiativen genannt habe. Trotz aller karikaturalen Elemente des Aufeinanderprallens der Schottin und der Akademikerin blieb für mich dieses Erlebnis in Graz ein treffendes Bild für die doppelte Sackgasse, in der "wir" gelandet sind - ganz gleich ob im Windschatten der schottischen Hausfrau oder der niederländischen Akademikerin. Ich, wenn ich "ich" sage, so bin ich ebenso eine Fremde im gastlichen hoffnungsvollen naturhaften Frauen-Wir wie in jeder der synthetischen wissenschaftlich qualifizierten neo-feministischen Populationen. Ich davon überzeugt, dass viele Frauen - ich denke hier vor allem an meine Studentinnen - diese doppelte Verfremdung erleben, und ich sehe es als meine Aufgabe an, mit ihnen das intellektuelle Werkzeug zu erarbeiten, mit dessen Hilfe der Grund ihres Unbehagens verstanden werden kann.Vieles was heute selbstverständlich ist, gab es damals noch nicht oder, wenn überhaupt, nur in der Vorstellung einiger weniger begabter Autorinnen. Die Frauen, die vor 20, vor 25 Jahren die zahlreichen Frauenhäuser gründeten, mögen ihren Blutdruck gekannt haben, aber kaum mehr als zwei oder drei weitere der physiologischen Parameter, die heute auf ihrer Chipkarte erscheinen. Man wusste vor einem viertel Jahrhundert, dass Versicherungsprämien bei gewissen Diagnosen steigen, aber ich jedenfalls kenne keine, die damals sich mit ihrem Risiko-Profil bekannt gemacht hätte. Und wenn man mir sagt, dass unter uns Frühgeborenen der "Windschutzscheibenblick" noch selten ist, werde ich antworten: nicht so bei vielen der jungen Frauen. Sie pochen auf ihre Kompetenz in der Krebsvorsorge, haben Mütter, die, um pflegeleicht zu altern, die Hormonpille schlucken, und ihre Aufmerksamkeit, ihr Blick ist wie der des Autofahrers auf einen zukünftigen Punkt gerichtet, auf ausbuchstabierte Risiken. Auf ein immer "noch nicht". Frauen leiden heute unter dem diagnostizierten Risiko, das ihre Gesundheit, ihre Arbeitsstelle, ihr Altern betrifft.Wenn heute eine "ich" sagt, also mit zurück gebogenem Zeigefinger auf die, die spricht, verweist, so ist ihr Referent immer häufiger eine statistische Population. Und die damit betriebene Selbstentkörperung ist ungeheuerlich intensiver als die misplaced concreteness der typischen Selbstreferenz in den 1970er Jahren. Das postmoderne Selbstgefühl wird zunehmend durch Selbst-Zuschreibung von diagnostizierten Befunden gespeist, die nichts mit der eigenen Befindlichkeit zu tun haben. Mit jedem Zeugnis, jedem Rezept und mit jeder Diagnose vermisst sich heute die Frau im doppelten Sinn des Wortes: Sie versetzt sich jedes mal in eine statistische Population, wird zum Fall in einer Ansammlung von Fällen, denen nichts anderes als ein Syndrom gemeinsam ist, zum Beispiel eine Geschwulst im Alter von 30 bis 40 bei unverheirateten einzelstehenden Personen mit niedrigem Hämoglobin und begrenzter Schulbildung von denen - ich überzeichne - je x Prozent erfahrungsgemäß an Haarausfall, y Prozent an Erwerbslosigkeit und z Prozent an Gewalttaten leiden werden. Ob sie innerhalb dieser Population auch wirklich von Haarausfall betroffen werden wird, ist und bleibt fifty-fifty. Aber vom Augenblick der Diagnose an weiß sie, in welche Risiko-Gruppe sie gehört, und kann die Angst vor dem Haarausfall und besonderer Neigung zur Vergewaltigung nicht mehr los werden.Ein derartig vermessener Ersatz des eigenen Befindens durch selbst zugeschriebene Befunde war Mitte der 1970er Jahre ein Zeichen für Hypochondrie, wenn nicht Schizophrenie. Immer mehr wurde es in den 80er Jahren zum Lehrziel von Frauenbildungszentren. Wenn Frauen heute einen Zusammenschluss versuchen, so Ver-wiren sie Menschen mit einem derartig zersplitterten und aus Befunden zusammengeklebten Selbst. Vor 20 Jahren ließ sich noch von Gemeinschaft sprechen, vom Gefühl des Zusammenhanges, so ungenau und unbewiesen es auch gewesen sein mag. Heute beherrscht die Aufzählung von Charakteristika, die Statistik, die Herstellung der Populationen, denen vergleichbare Bedürfnisse zugeschrieben werden können. Was damals als Selbstfindung benannt werden konnte, ist jetzt zur Selbstzuschreibung der angewiesenen Eigenschaft geworden. Wenn diese Frauen dann "wir" sagen, muss ich unwillkürlich an einen falschen Hasen denken.
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