In einem sonderbar unterkühlten, geistreich verwitterten Parlandoton fabuliert Aris Fioretos, schwedischer Sohn eines griechisch-österreichischen Elternpaares, eine merkwürdige Zeitkapsel herbei, die er auf eine Reise ins Ungewisse schickt. Im Inneren der Kapsel hält sich das deutsche Fräulein Vera Grund, das zu verreisen sich anschickt. Also zieht sie die Tür ihrer Berliner Wohnung an einem Dezemberabend des Jahres 1925 hinter sich zu, um den Nachtschnellzug zu erreichen. Auf halber Treppe bezweifelt sie, tatsächlich abgeschlossen zu haben, stellt den rindsledernen Koffer ab und steigt zu Kontrollzwecken wieder hinauf. Die wenigen Schritte zurück zur Tür ihrer Wohnung geben dem Autor genügend Raum, die Zeitkapsel mit einem familiärem
em Hintergrund auszustatten. Er tut das, wie man einen Raum dekoriert für einen gegebenen Anlaß. In episodischen Wechsel schauen, großzügig attributiert, Großmutter, Großvater, Großtante und Mutter der Hauptfigur auf einer einzigen Textseite herein und verschwinden sofort wieder. Dennoch hat man schon nach dieser ersten Bekanntschaft das Gefühl einiger Vertrautheit mit der Familiensituation. (Mutter verstorben. Kind wuchs bei Großeltern auf. Großmutter Engländerin, die an einer Berliner Abendschule Wirtschaftsenglisch unterrichtete ...)Dem erneuten Hinabsteigen der Treppe schließen sich knappe sechs Seiten Stadtbahnfahrt an, hin zum Stettiner Bahnhof. Die Personen, die Vera Grund währenddessen trifft, mit ihnen kollidiert, sie nur peripher wahrnimmt oder erinnert, werden von Fioretos mit gleichmacherischer Bedeutsamkeit aufgeladen, ihnen werden Namen und biografische Skizzen angeheftet, Vor- und Rückblenden verwirren über ihr künftiges und früheres Auftreten. Lediglich Veras Vater hat noch keinen Namen bekommen, er ist ihr nahezu unbekannt geblieben, gab es doch lediglich einen einzigen erinnerbaren Besuch nahezu zwanzig Jahre zuvor, und dass der Anlass der Reise die Suche diesem unbekannten Mann ist, wird schnell klar. Das Stimmengewirr dehnt sich zum satten Polster, auf dem die Neugier des Lesers zu einer ersten irritierten Ruhe gezwungen wird. Auf Seite dreizehn nämlich scheint die Geschichte schon vorbei: Die Erzählstimme greift das Ende der Reise voraus: »Insgesamt war Vera fünf Nächte und vier Tage fort, stattete drei Besuche ab und lernte zwei Menschen kennen. Aber einen Vater sollte sie nie treffen.« Das ist die ganze Geschichte, so dass es möglich wäre, an diesem Punkt zu schließen, noch ehe Vera überhaupt dazu gekommen ist, aus der Straßenbahn zu steigen, die sie vom Lehrter Bahnhof bis zu jenem Bahnhof gebracht hat, aus der die meisten Fernzüge Richtung in Norden die deutsche Reichshauptstadt zu jener Zeit verließen - wenn es da nicht einen besonderen Umstand gäbe, will sagen: das, was Professor Schaumberg »das biologische Drama« nannte.« Aha?! Und die Stimme aus der Steuerzentrale? Der Erzähler? »Meine Rolle in diesem Drama ist unbedeutend ... Wer erkunden will, was den Menschen antreibt, tut gut daran, die Aufmerksamkeit nicht auf seine eigene Person zu lenken.« Nun darf Vera doch noch (wirklich?) abfahren in Richtung Stockholm (»Bauarbeiten sind in vollem Gange«), und wir haben Kapitel zwei erreicht, dessen Beginn Fioretos erneut mit der Dehnung weniger Leserpulsschläge auf 24 Zugstunden der Vera Grund markiert. Der Kunstgriff des Konstrukts offenbart sich, in aller Gültigkeit für das Folgende, bereits auf den ersten Seiten: Die Verschiebung der Ebenen, das Ineinandergreifen von Zufall und Notwendigkeit, das Maskieren und Demaskieren von Zeit und Personen, Chaos und Ordnung, Struktur und Substanz, das Aufstellen und Verwerfen von Handlungsentwürfen, Thesen und Hypothesen, das Anfangen und Abbrechen von Wort und Satz machen den Roman zu einem ausgekochten Vexierspiel intelligentester Art.Das »biologische Drama« ist noch dazu ein Stoff, politisch korrekt, für Tragödien: Professor Schaumberg aus Stockholm wird in zeitlicher Parallelität zu Vera Grunds Reise durch einen zunächst mysteriösen Brief an einen Patienten erinnert, den er zu Beginn der Jahrhunderts zum Gegenstand seiner seelenbiologischen Forschung und, wie sich herausstellt, inhumaner, pseudowissenschaftlicher Experimente gemacht hatte. Leo Tager, der »Mann ohne Körper«, war nicht nur einer der neurologischen Ausfallpatienten, die Schaumberg von einem erpressbar gewordenen »Wissenschaftler«-Kollegen zum Zwecke der Untersuchung und späteren postmortalen Aufbereitung zugeschanzt wurden, er war - natürlich - auch der Vater der Berlinerin Vera Grund, was freilich Schaumberg nicht wusste. Im Zuge abstruser seelen- und rassenbiologischer Interpretationswut war er vielmehr zu der Überzeugung gelangt, das Fehlen jeglicher Körperwahrnehmung bei Leo Tager aus dessen »steckengebliebener Androgenese« zu erklären. Als Schaumberg die Kontraproduktivität seiner »Behandlung« des Patienten erkennt und sein wissenschaftliches Lebenswerk durch die Existenz der »wahrscheinlich kurzköpfigen Halbschwedin« Vera Grund ad absurdum geführt sieht, gibt er, »mit der Nase mitten auf der Teppichkante liegend, auf der vor langer Zeit Leo Tager gewandelt war, seinen Geist auf«.Vera, nachdem sie die Wahrheit über ihren Vater über von Fioretos nahezu wahnwitzig kombinierte Bekanntschaftsverwicklungen erfahren hat, begibt sich nach Berlin zurück, ohne ihn treffen zu wollen. Tager hatte sich den Untersuchuungen Schaumbergs mit stoischer Ergebenheit und auch dann noch anhaltender Loyalität unterzogen, als er die Sinnlosigkeit des Unterfangens längst geahnt und sich durch körperliche Ertüchtigung in einem Gymnastikinstitut beinahe selbst geheilt hatte. Immerhin reicht seine Kraft, sich Schaumberg dennoch zu entziehen, allerdings heimlich und ohne eine Art von Genugtuung zu fordern. Zu guter letzt offenbart sich die Tochter einer anderen, tragisch zu Tode gekommenen Ausfallpatientin Schaumbergs als Autorin des Buches ...Wie Aris Fioretos die Zeitreisekapsel mit Vera Grund an Bord auf sicherem Kurs hält, wie er dabei durch die Bordluken weit zurückgreift ins letzte Drittel des 19. Jahrhunderts, da deutsche und schwedische Biologen hinsichtlich der Klassifizierung von Rassetypen in engem Kontakt standen und so die »nordische Wiedergeburt« in der »völkischen Bewegung« ideologisch vorzubereiten gedachten, wie er die Banalität und das im geschlossenen System seines Konstrukts folgerichtig anmutende Wissenschaftsdenken jener Zeit in einen historischen Kontext zur politischen Landschaft Europa stellt, ist aller Achtung wert. Großartig, wie der Autor die zu Beginn gestellte Aufgabe bewältigt, jedes kleine Detail mit kunstvoller Selbstverständlichkeit einer späteren Verwendung zuzuführen. Fesselnd, kitschfrei, anspruchsvoll. Ein literarischer Glücksfall, hinter dem sich weder die intellektuelle Disziplin des Autors noch seine sinnliche Genauigkeit halbherzig verstecken. Einfach zum Lachen ernst.Aris Fioretos: Die Seelensucherin. Roman. Dumont-Verlag, Köln 2000, 357 S., 42,- DM
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