„Zu dick, abgelehnt!“ Auf die Figur kommt es eben doch an. Zumindest wenn es nach amerikanischen Krankenversicherungen geht. Eine von ihnen, die Rocky Mountain Health Plans, weigerte sich Anfang Oktober Alex Lange zu versichern. Alex quittierte die Absage mit ein paar gurgelnden Geräuschen: Das vier Monate alte Baby nimmt nichts außer Muttermilch zu sich, aber für Argumente wie dieses war der Krankenversicherer taub. Zumindest im ersten Moment. Dann machte Alex’ Vater, der Fernsehmoderator Bernie Lange, die Absage der Versicherung publik. Nach wenigen Tagen kannte die ganze Nation den kleinen Wonneproppen aus Colorado und wetterte gegen Rocky Mountain Health Plans. Die Versicherungsanstalt widerrief daraufhin am 12. Oktober ihre Entscheidung und ging noch einen Schritt weiter: Von nun an will sie Babys ungeachtet ihres Gewichtes krankenversichern.
Die Reaktion von Rocky Mountain Health Plans wirft Fragen bezüglich der Willkür auf, mit der Übergewichtige täglich in den Vereinigten Staaten konfrontiert sind. Das Land scheint dabei drei Pseudo-Wahrheiten verfallen: Wer übergewichtig wird, lässt sich maßlos gehen. Wer übergewichtig ist, will unbedingt abnehmen. „Und Krankenkassen geben horrende Summen für die gesundheitlichen Folgen ihrer dicken Versicherten aus“, sagt Amy Farrell. Die Professorin an der Dickinson Universität in Carlisle hat zahlreiche medizinische Studien ausgewertet und resümiert: „Krankheit wird häufig durch ungesunde Ernährung und einen Mangel an Bewegung verursacht – beides muss jedoch nicht zwangsläufig mit Übergewicht einhergehen, sondern kann ebenso auf schlanke Personen zutreffen.“
Das Wort "Fett" als Stigma
Die Professorin für Amerikastudien widmet sich den so genannten „Fat Studies“, einem neuen Forschungszweig mit aktivistischen Bestrebungen. Farrell und ihre Kollegen haben bewusst die Formulierung „Fett-Studien“ gewählt: Sie wollen den Ausdruck „fett“ von seinem Stigma befreien. „Heute wird fett hinter vorgehaltener Hand geflüstert, wie es früher bei Begriffen wie homosexuell oder Aids der Fall war“, sagt die Wissenschaftlerin.
Unverständlich erscheint ihr die Stigmatisierung der runden Amerikaner, weil laut des Center for Disease Control and Prevention zwei Drittel der US-Bürger übergewichtig sind. Dennoch müssen sie Diskriminierungen im Alltag hinnehmen, sei es am Arbeitsplatz oder in der Freizeit. So diktiert beispielsweise die Fluglinie United Airlines bereits seit einem halben Jahr, dass übergewichtige Personen zwei Sitze auf einem Flug buchen müssen. Infolge dieser und ähnlicher Maßnahmen schwirren regelmäßig neue Modeworte für die geduldete Diffamierung von Übergewichtigen durch die Medien, „Weightism“ (weight – Gewicht) und „Fatism“ sind zwei von ihnen.
Gut für die Linie und die Staatsfinanzen?
Kelly Brownell, selbst nicht ganz schlank, versucht die Ausdrücke zu meiden. Der Professor an der Yale Universität ist ein renommierter Forscher des Übergewichts. Er ist Direktor des Rudd Center for Food Policy and Obesity und plädiert für die Besteuerung von zuckerhaltigen Getränken. „Für rund 30 Milligramm eines gesüßten Getränks sollte je ein Cent mehr verlangt werden“, argumentiert Brownell. Nach seiner Rechnung würde dies nicht nur der Linie der Amerikaner zugute kommen, weil es sie von den gesundheitlich fragwürdigen Getränken fernhielte. Es könnte auch der Regierung im ersten Jahr 14,9 Milliarden Dollar einbringen.
Seine Rechnung geht laut Kollegen Frank Sacks und dessen Forschungsergebnissen nicht ganz auf. Der Wissenschaftler an der Harvard School of Public Health zieht in seiner Untersuchung das Fazit: „Ein bestimmtes Lebensmittel oder Getränk führt weder zwangsläufig zu Übergewicht noch hilft der Verzicht darauf Gewicht zu reduzieren.“ Auf das gesamte Ehrnährungsverhalten käme es an, so Sacks.
"Giftiges Umfeld"
Worin er Brownell jedoch nicht widerspricht, ist dessen Theorie des "giftigen Umfelds". "Wir sind im Alltag ständig den Werbungen und Angeboten von Fast-Food-Ketten und Lebensmittelherstellern ausgesetzt", kritisiert Brownell. Von All-you-can-eat-Buffets bis zu Kiosken an jeder Ecke, in denen Donuts, Muffins und Cola die Regale sprengen – ein Zustand, der laut Brownell die Grundlage für die vielen dicken Bäuche ist.
„Die Regierung sollte Maßnahmen gegen das Übergewicht der Nation ergreifen“, fordert Brownell ebenfalls. Auch Amy Farrell attestiert Handlungsbedarf des Staates, jedoch vor allem in einer Hinsicht: Sie fordert ein gesetzliches Verbot der Benachteiligung von Übergewichtigen auf dem Arbeitsmarkt. „Diskriminierung aufgrund des Geschlechts, der Hautfarbe, Herkunft und der Religion sind allesamt juristisch untersagt – aber in einem Land wie den USA, wo Übergewicht in so hohem Masse verpönt ist, brauchen wir auch ein Gesetz gegen die Diskriminierung von dicken Personen“, sagt Farrell. Darin wäre vermutlich auch ein Paragraph für füllige Wonneproppen wie Baby Alex empfehlenswert.
Kommentare 7
Liebe Anna Gielas,
ich habe Ihren Artikel jetzt mehrmals gelesen. Ich weiß immer noch nicht, in welche Richtung er zielt. Geht es um ein letztendliches "Verbot der Diskriminierung von Übergewichtigen"?
LG
Lutz Henze
P.S. Besuchen Sie einmal die Seiten der Deutschen Gesellschaft für Ernährung (DGE) und versuchen Sie, entsprechend den Empfehlungen ein Tagesmenü zusammenzustellen, das vom Kaloriengehalt den Ratschlägen entspricht. Und unter Beachtung der Referenzrichtwerte für Nährstoffe......müssten Sie verhungern. Übrigens hat Jörn Kabisch ein Rezept für Quitten-Sorbet eingestellt, mit 200g Zucker, das ist ein Fünftel einer handelsüblichen Zuckertüte.
Lieber Lutz Henze,
mein Artikel "zielte in keine Richtung": Der Text war primär ein Infobeitrag - ein Überblick über den Status quo der Übergewichtsdebatte.
Persönlich unterschreib ich aber Brownells Theorie des "giftigen Umfelds": Ich sehe hier in den USA sehr viele Leute an einem Vormittag bereits eine Flasche "Hype" (264g Zucker/1 Liter) austrinken und den Tag mit Süßzeug beginnen, weil es an jeder Ecke einen "Drive thru" mit "super special offers" (4 Donuts zum Preis von zwei) gibt.
Verglichen damit können Jörn Kabisch, Sie und ich hin und wieder gelassen unser Quittensorbet mampfen - es ist nicht die Hauptmahlzeit unseres Tages...
Viele Grüße,
Anna Gielas
Danke für die Antwort,
hätte ich den Artikel dann doch nur einmal lesen müssen. Wenn Brownells Theorie die Lebensweise anprangert, dann unterschreibe ich mit. Die Ernährungsweise ist eingebettet in die Lebensweise. Bis auf wenige Ausnahmen kommen die Menschen von ihrem Übergewicht nicht los, wenn sie nicht ihre Lebensweise umstellen. Aber das scheint mir bei den Mrd. Werbe- und Forschungsausgaben der UNILEVER, Kraft, Coke, Pepsi, Fastfoodketten usw. ein Kampf gegen Windmühlenflügel zu sein. Es gibt eine Konditionierung der Übergewichtigen ähnlichen dem Pawlowschen Reflex. Aber das Thema ist zu vielschichtig.
Das Sorbet von Jörn Kabisch in kleinen Portionen lasse ich mir gefallen, es ist ja auch Fruchtfleisch drin.
Im Fall, dass Sie sich mit der Thematik befassen und Sie das Büchlein noch nicht besitzen, empfehle ich Galina Schatalowa, "Wir fressen uns zu Tode".
vhG
Lutz Henze
Ich habe gerade Ihren Buch-Tipp nachgeschlagen: Schatalowa plädiert für nicht mehr als 250 bis 400 Kalorien am Tag (aus rein pflanzlichen Nahrungsmitteln)! Das klingt nach einer spannenden Behauptung. Ich frag mich, wie sie sie wissenschaftlich untermauert... bleibt mir wohl nur eins zu tun - in ihr Buch schauen.
Lieben Dank für den ausgefallenen Tipp (, der mir nach schmerzlichem Hungern klingt!),
herzliche Grüße,
Anna Gielas
Nein, keine Sorge mit Hunger. Sie (Schatalowa) war beteiligt an der Entwicklung der Kosmonautennahrung, und da kommt es auf jedes Gramm an. Das Problem mit dem Hunger ist ein Umstellungsproblem; ähnlich der Entwöhnung von der Nikotinsucht. Es gibt 2 wesentliche Momente. Erstens ist es die falsche Kalorienbetrachtung. Zellulose (Bestandteil jeder pflanzlichen Nahrung ist hoch kalorienreich) kann von der Spezies Mensch nicht erschlossen werden, weil ihr die Enzyme fehlen. Geht aber ein in die Kalorienbewertung.
Zweitens betrifft es die sogenannte Schaukel zwischen Hyperglykämie und Hypoglykämie. Das heißt nichts anderes, dass ich für zuviel aufgenommene Kalorien neue zuführen muss, damit mein Blutzuckerwert in den Grenzen bleibt. Ein negativer Regelkreis.
Seit über 15 Jahren beschäftige ich mich mit dem Problemkreis Ernährung; aber ganz neu für mich bei G. Schatalowa war die Betrachtung der Atemtechnik. Soweit es geht versuche ich das umzusetzen.
Ich finde, Sacks und Brownell haben recht. Denn eines der großen Probleme ist, was man heute "Convenience Food" nennt - die Fertignahrung im Supermarkt, die sich schnell in die Mikrowelle stellen oder mit Wasser aufgießen lässt. Fast Food hat ein ähnliches Problem. So viel Zucker und Kohlehydrate, wie da drin sind, traut sich kein Mensch in der eigenen Küche ins Essen zu mischen. Ein Beispiel: Mein Quittensorbet kann man deswegen ausgesprochen gut genießen, weil diese Frucht selbst sehr kalorienarm ist. In Smoothies im Supermarkt dagegen steckt manchmal mehr Zucker als in einer Cola.
Grüße, JK
Lieber Jörn Kabisch,
ein köstlicher Apfel, eine wohlschmeckende Orange, eine naturgereifte Banane, Datteln, Feigen, Birnen, Himbeeren, Brombeeren, Pfirsiche, Aprikosen, Erdbeeren...reicht es?.....das ist komplette Fertignahrung. Und "Convenience Food" - abwaschen - fertig.
Wenn ich die kalorienarme Quitte aber als Quittengelee esse, tja, dann bin ich wieder beim Zucker. Sie haben insofern recht, dass vieles mit den Zutaten zusammen hängt. Es gibt z.B. eine sehr aufschlussreiche Untersuchung, dass die Zugabe von künstlichen Zuckerstoffen das Mastgewicht von Schweinen deutlich erhöhte. Wohl bekomms mit Saccharin und anderen E-Stoffen.
vhG
Lutz Henze