Einmal im Monat halte ich mir einen Samstagnachmittag frei, um mich mit Sophie zu treffen, und sie tut dasselbe. Wir verbringen dann wie ein zufriedenes Ehepaar unsere Zeit miteinander, mit dem Unterschied, dass wir morgens nicht zusammen aufwachen und abends nicht miteinander ins Bett gehen, sondern einfach nur einen Nachmittag lang gemeinsam Bus fahren.
Sophie ist Malerin, und ich kann mich noch gut daran erinnern, wie sie mich das erste Mal porträtierte. Wir saßen im Volkspark Friedrichshain hinter dem Freiluftkino. Es war ziemlich schönes Wetter, und während sie mich zeichnete, schaute ich die ganze Zeit in ihren Ausschnitt. Sie war so sehr mit mir beschäftigt, dass es sie überhaupt nicht störte, was ich da mit meinen Augen machte.
Aber ich möchte
ich möchte eigentlich etwas anderes erzählen: Zwölf Mal im Jahr, also immer dann, wenn wir uns gegenseitig einen Samstagnachmittag schenken, spielen wir das Linie-200-Spiel. Es ist für uns beide zu einem liebgewonnenen Ritual geworden, auf das wir nicht mehr verzichten wollen. Ich weiß nicht mehr, wer es sich ausgedacht hat und wann wir es das erste Mal gespielt haben, aber das ist auch egal. Die Regeln sind jedenfalls sehr einfach. Wir steigen an der Mollstraße/Ecke Otto-Braun-Straße in den Zweihunderter ein und setzen uns auf die Plätze direkt über dem Fahrer. Ich sitze meistens auf dem Platz am Gang, aber das hat keine tiefere Bedeutung und nur etwas damit zu tun, dass ich Sophie beim Einsteigen den Vortritt lasse. Der Platz am Gang ist nicht besser oder schlechter als der Platz am Seitenfenster, auf beiden Plätzen hat man eine hervorragende Sicht. Drei Haltestellen weiter, am Alexanderplatz, wird der Bus meist proppenvoll, und die Plätze hinter und unter uns werden von einem Haufen aufgeregter Passagiere und einem vieltönigen Sprachgemisch belegt, das von schwäbisch über spanisch bis japanisch reicht. Es dauert eine Weile, bis der Bus alle Fahrgäste aufgenommen hat und diese sich auf die Sitze verteilt haben. Der Bus ist dann meist das, was man in einem Stadion oder bei einem Konzert ausverkauft nennt, und der Busfahrer schließt die Türen. Sobald der Bus anfährt, beginnt unser Spiel. Es beginnt mit der ersten Sehenswürdigkeit, und das ist der Fernsehturm.Sophie hat ihren Skizzenblock und einen Kohlestift in der Hand und ich meinen Notizblock und einen gespitzten Bleistift. Jeder kämpft mit seinen Waffen, und ich bemühe mich jedes Mal, den Telespargel in Hochgeschwindigkeit mit meinen Worten einzukleiden, damit Sophie erst gar nicht die Chance hat, ihn zu erkennen. Trotzdem ziehe ich regelmäßig den Kürzeren, da sie mit wenigen Strichen und einem Kreis viel schneller fertig ist, als ich mit meinen vielen Buchstaben.Aber das ist ja nur der Anfang. Richtig aufregend wird es, wenn wir die Museumsinsel überqueren und Unter den Linden entlang fahren. Ein Glück, gibt es auf diesem Abschnitt eine Menge Haltestellen, an denen Fahrgäste ein- und aussteigen, sodass wir zwischendrin Zeit zum Luftholen haben. Auch wenn sie mir gelegentlich komplett wegbleibt: Ich werde nie die drei Sekunden vergessen, in denen Sophie das Brandenburger Tor aufs Papier brachte, ohne den Stift abzusetzen. Ich war so fasziniert, dass ich nur ihre Hand anstarrte, die den Stift bewegte. Und keine fünf Sekunden später waren auch der Pariser Platz und das Hotel Adlon zu sehen.Manchmal konzentrieren wir uns auch auf Nebenschauplätze. Ich habe zum Beispiel einmal ein wunderschönes Gedicht über das ungarische Kulturzentrum in der Karl-Liebknecht-Straße geschrieben, das nur aus einem einzigen langen Wort bestand. Sophie kam nicht über die Eingangstür hinaus, sodass ich am Bahnhof Zoo den Bus als Punktsieger verlassen konnte. Als Verliererin musste sie mir einen Hamburger mit Pommes und kleiner Cola bei Burger King ausgeben.Wir spielen immer so lange, bis uns das Papier ausgeht oder wir weder Hamburger mit Pommes noch kleine Colas mehr sehen können. Im Schnitt kommen wir so auf drei bis vier Rundfahrten. Unser Rekord liegt bei stolzen zehn Fahrten, da kam allerdings zum Nachmittag noch die komplette Nacht dazu, und unsere kleinen Colas haben wir bei dieser Bestleistung regelmäßig mit einem großzügigen Schluck Whisky verfeinert. Wir mussten dann, als wir zum letzten Mal aus dem Zweihunderter ausstiegen, zwei Taxen rufen, weil wir so oft im Kreis gefahren waren, dass wir alleine nicht mehr nach Hause gefunden hätten.Ohne Sophie neben mir wäre ein Zweihunderter einfach ein Bus mit viel zu vielen Touristen, die laut durcheinander plappern und selbst bei blauestem Himmel Regencapes mit sich herumtragen. Aber mit Sophie ist ein Zweihunderter ein magischer Ort, in dem wunderbare Dinge geschehen, und es gibt nichts Schöneres, als sich einmal im Monat mit ihr zusammen eine Überdosis an Sehenswürdigkeiten und Touristen zu verpassen.