Klassische Musik klingt durch die Lobby eines großen Hotels am Berliner Alexanderplatz. Rollkoffer surren über glatte Fliesen, Pagen huschen eilfertig hinter Gästen her. Inmitten des Trubels sitzt Theodor Michael auf einem Sofa und gräbt in den Tiefen seiner Erinnerung. Er will von seinem Leben erzählen – und damit von einem kaum bekannten Teil deutscher Geschichte.
Der Freitag: Herr Michael, wie oft werden Sie eigentlich gefragt, wo Sie herkommen?
Theodor Michael: Das kommt immer wieder vor. Das ist ja eine der typischen Fragen, wenn man fremd aussieht.
Hat sich die Art des Fragens im Laufe Ihres Lebens verändert?
Nein, in meinen ganzen neunzig Jahren nicht. In Deutschland nimmt man nach wie vor an: Wer nicht blond ist und keine blauen Augen hat, der muss einfach aus dem Ausland kommen.
Was antworten Sie dann?
Ich sage, ich komme aus Köln. Mehr gibt’s da auch nicht zu sagen.
Sie haben erst mit Ende achtzig Ihre Erinnerungen aufgeschrieben. Warum erst so spät?
Man braucht manchmal ein bisschen Abstand, um sich erinnern zu können. Außerdem hatte ich nie ernsthaft darüber nachgedacht, ein Buch zu schreiben. Es waren dann meine Kinder und vor allem meine Enkel, die gesagt haben: „Opa, du musst das alles aufschreiben. Wir wollen das wissen.“ Also fing ich vor zwölf Jahren an zu schreiben – und irgendwann ist ein Buch dabei herausgekommen.
Ihr Vater kam aus Kamerun, Ihre Mutter aus der deutschen Provinz. Wie haben Ihre Eltern sich kennengelernt?
Das weiß ich nicht. Mein Vater ist gestorben, als ich acht Jahre alt war, meine Mutter schon, als ich eins war. Als Kind hatte ich kein Interesse an ihrer Geschichte, und als ich meine Eltern später gern gefragt hätte, waren sie bereits tot.
Sie haben drei ältere Geschwister. Haben die Ihnen nie was erzählt?
Ich weiß heute, dass sich meine Eltern in Berlin kennengelernt und auch hier geheiratet haben.
Ein ungewöhnliches Paar für damalige Verhältnisse ...
Ohne Zweifel. Afrikaner waren ja eine Seltenheit in Deutschland. Vielleicht mit der Ausnahme Berlins, aber wo sonst konnte man damals Afrikaner sehen? Höchstens in den damaligen Afrika-Shows.
Ihr Vater verdiente sich seinen Lebensunterhalt als Darsteller in diesen Völkerschauen. Auch Sie und Ihre Geschwister mussten früh in solchen Inszenierungen mitwirken. Wie haben Sie diese Auftritte erlebt?
Da wurde Afrika so inszeniert, wie sich die Deutschen Afrika vorstellten: kulturlose Wilde im Baströckchen. Man bekam ein Kostüm an und musste zu Trommelmusik herumtanzen. Wo man ging und stand, wurde man begafft und angefasst. Die Leute sprachen mit mir in gebrochenem Deutsch, weil sie annahmen, ich würde sie nicht verstehen. Ich habe diese Auftritte verabscheut, weil ich etwas spielen musste, was ich nicht war.
Zwischen 1919 und 1930 besetzten französische Truppen große Teile des Rheinlands. Unter ihnen gab es viele Kolonialsoldaten aus Afrika. In der Weimarer Republik ging deshalb der Begriff „die Schwarze Schmach“ um. Welche Auswirkungen hatte diese Stimmungsmache auf Ihre Familie?
Ich wurde damals immer gefragt, ob ich aus dem Rheinland komme. Ich verstand das gar nicht. Irgendwann erklärte mir jemand, dass im Rheinland deutsche Frauen von schwarzen Soldaten vergewaltigt würden, und dass daher die schwarzen Kinder kämen. Ich fand das absurd, aber viele glaubten diese Geschichten. Diese Propaganda war für uns schlimm.
Auch weil sie den Nazis in die Hände spielte?
Ja, als die Nazis dann an die Macht kamen, griffen sie auf die bereits bestehenden Antipathien gegen schwarze Menschen zurück.
Bei der Machtübernahme 1933 waren Sie acht Jahre alt. Gab es einen Punkt, an dem Sie begriffen: Ich gehöre jetzt nicht mehr dazu?
Dieser Moment war bei mir 1934. Kurz zuvor war mein Vater gestorben. Meine Schwester und ich lebten damals bei Pflegeeltern, die eine Völkerschau betrieben. Wir waren kurz nach der Machtübernahme in die Schweiz aufgebrochen. Als wir zurück nach Deutschland kamen, wollten meine Schulkameraden mich zum Jungvolk der Hitlerjugend mitnehmen. Ich ging mit und wurde schmählich wieder nach Hause geschickt. Damals war ich neun und verstand nicht, warum man mich dort nicht haben wollte. Das war für mich damals eine üble Sache.
Was hatte sich da verändert?
Plötzlich schauten mich meine Klassenkameraden mit anderen Augen an. Meine Hautfarbe war auf einmal ein Thema. Ab diesem Zeitpunkt wurde ich ausgeschlossen und gehänselt. Eine Erfahrung, die ich vorher nie gemacht hatte und die mich komplett aus der Bahn warf.
Ein afrodeutsches Leben
Theodor Michael kommt 1925 in Berlin als viertes und jüngstes Kind des Kolonialmigranten Theophilius Wonja Michael aus Kamerun und seiner deutschen Frau Martha zur Welt. Ein Jahr nach seiner Geburt stirbt die Mutter. Die Halbwaisen wachsen, teils unter erbärmlichen Umständen, bei Pflegeeltern auf. Als 1934 auch der Vater stirbt, werden die Geschwister getrennt. Michael darf nach der Volksschule aufgrund seiner Hautfarbe keine weitere Ausbildung machen und schlägt sich als Page, Portier und Komparse in Kolonialfilmen der UFA durch. 1943 wird er in einem Arbeitslager interniert, wo er auch die Befreiung erlebt.
Nach dem Krieg gründet er eine Familie mit einer jungen Schlesierin und ist als Dolmetscher und Schauspieler tätig. Er holt das Abitur nach und studiert auf dem zweiten Bildungsweg Volkswirtschaft und Politikwissenschaft. Er wird Chefredakteur der Zeitschrift Afrika-Bulletin, Regierungsberater der SPD und Lehrbeauftragter für die Deutsche Stiftung für Internationale Zusammenarbeit. Er macht sich einen Namen als anerkannter Afrika-Spezialist, darum wird er schließlich vom Bundesnachrichtendienst angeworben.
Nach seiner Pensionierung tritt er wieder als Schauspieler auf und engagiert sich in der afrodeutschen Community, er ist Mitglied der „Initiative Schwarze Menschen in Deutschland“. Michael lebt heute mit seiner zweiten Frau in Köln, vergangenes Jahr veröffentlichte er seine Biografie Deutsch sein und schwarz dazu. Erinnerungen eines Afro-Deutschen (200 S., 14,90 €) im Deutschen Taschenbuch Verlag.
Als Jugendlicher wirkten Sie dann als Statist in Filmen mit, die die Nazis für Propagandazwecke nutzten. Wie kam es dazu?
Das lief über meinen Pflegevater. Da gab es hier in Berlin eine Kneipe, in der die Vermittlung ablief. Unter der Hand sozusagen. Denn schwarze Statisten und Kleindarsteller konnten zu dieser Zeit ja nicht mehr legal gebucht werden. Nach den Bestimmungen der Reichskulturkammer, deren Präsident Joseph Goebbels war, durften im Bereich Kultur nur Personen tätig sein, die Mitglied in einer der Reichskammern waren. Aufgrund unserer Hautfarbe wurden wir da aber nicht aufgenommen.
Wie lief so ein Dreh ab?
Wir – also die Exoten – dienten mehr oder weniger als Dekorationsobjekte. Man war nicht wirklich beteiligt und wurde hin und her dirigiert. Aufgrund unserer Hautfarbe durften wir auch keine größeren Rollen spielen und unter keinen Umständen an einer Liebesszene beteiligt sein.
Hatten Sie in dieser Zeit Kontakt zu anderen Schwarzen?
Es gab eine kleine Gruppe schwarzer Deutscher. Da wirkten dann ganze Familien in solchen Nazi-Inszenierungen mit.
Gab es auch eine Art Gemeinschaftsgefühl untereinander?
Selbstverständlich. Da gibt es immer eine Solidarität, die verbindet.
In den letzten Kriegsjahren mussten Sie im Arbeitslager Zwangsarbeit leisten. Sie wurden zu einem Gefangenen im eigenen Land.
Ich war damals schon lange kein Mitglied der Gesellschaft mehr. Spätestens mit meiner Ausbürgerung war klar, dass ich in Deutschland nur noch geduldet wurde.
Wie haben Sie darauf reagiert?
Ich versuchte, nicht aufzufallen. Das Wichtigste war, nicht in die Mühle des Systems zu geraten. Ich bin zum Beispiel nie bei Rot über die Straße gegangen. Ich habe mich von allem ferngehalten, was mich in Kontakt mit den Polizeibehörden hätte bringen können.
Haben Sie nie darüber nachgedacht, Deutschland den Rücken zu kehren?
Unmittelbar nach dem Krieg wollte ich einfach nur weg aus Deutschland. Weg aus diesem fürchterlichen Land. Es war ja auch alles kaputt. Ich hatte keine Perspektiven. Ich hatte nie etwas gelernt und keinen Abschluss gemacht. Aber wohin hätte ich gehen sollen? Wer nahm damals schon staatenlose Menschen auf? Dazu noch einen schwarzen Deutschen.
Auch nach dem Krieg hatten Sie immer wieder mit Alltagsrassismus zu kämpfen, schreiben Sie in Ihrem Buch. Sie bekamen keine Anstellung und mussten Ihre Familie mit Gelegenheitsjobs über Wasser halten.
Bei uns Schwarzen wird immer die Frage gestellt: Kann der oder die das überhaupt? Der oder die ist doch schwarz.
Sie sprechen jetzt gerade im Präsens. Kämpfen Schwarze nach wie vor mit diesen rassistischen Vorurteilen?
Ja, natürlich. Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Stellen Sie sich einen schwarzen Herrn im Anzug vor. Wenn der ein Baströckchen tragen würde, dann würden die Leute sagen: „Ah, der hat seine Heimattracht an.“ Auch mir wurde dieses Baströckchen immer nachgetragen. Wo ich ging und stand, musste ich mich immer beweisen.
Sie haben vier Kinder. Haben Sie die auf mögliche rassistische Anfeindungen vorbereitet?
Nein, vorbereitet nicht. Als dann ein Schulkamerad meine älteste Tochter einen „Neger“ schimpfte, habe ich gesagt: „Ihr müsst euch wehren!“ Also haben meine Kinder das gelernt. Aber auf alltäglichen Rassismus muss man als Schwarzer immer vorbereitet sein.
Sie sind Mitglied in verschiedenen Initiativen, die sich für die Stärkung schwarzer Deutscher einsetzen. Was muss geschehen, damit Schwarze sich als selbstverständlicher Teil der Gesellschaft fühlen können?
Die junge Generation Afrodeutscher setzt sich sehr aktiv mit dieser Frage auseinander. Auch politisch gibt es immer wieder Vorstöße. Es gibt ja seit ein paar Jahren das sogenannte Antidiskriminierungsgesetz. Aber washat das bisher gebracht? Nichts. Was wir wirklich brauchen, sind Änderungen in den Köpfen der Mehrheitsgesellschaft. Es muss endlich klar sein, dass Deutschsein nicht nur völkisch definiert wird.
Ab den 1970er Jahren arbeiteten Sie für den deutschen Bundesnachrichtendienst. Ausgerechnet für das Land, das Sie lange nicht haben wollte. Warum haben Sie das überhaupt gemacht?
Für den Bundesnachrichtendienst konnte man sich damals noch nicht bewerben. Als die Anfrage kam, fühlte ich mich geehrt. Bis dahin war ich ja aufgrund meiner Abstammung von meinem schwierigen Mutterland immer abgelehnt worden. Nun forderte man mich plötzlich auf, aktiv für Deutschland in den Dienst zu treten. Ich nahm also diese Herausforderung an. Auch um nachfolgenden Generationen Afrodeutscher ein Beispiel zu sein und um zu beweisen, dass wir in diesem Staat wichtige Aufgaben und Pflichten übernehmen können, die uns bisher weder zugetraut, geschweige denn angeboten wurden.
Welches Verhältnis haben Sie heute zu Deutschland?
Es kann passieren, dass der Passbeamte bei einer Wiedereinreise aus dem europäischen Ausland alle durchwinkt, nur mich aufhält. Wir beide wissen natürlich genau, dass er mich nur wegen meiner Hautfarbe kontrolliert. Doch deshalb ist die Bundesrepublik Deutschland an sich kein rassistischer Staat. Das Grundgesetz steht dagegen und die Rechtssicherheit, die es garantiert. Die heutige Staatsform ist die beste, die es in diesem Land je gab. Das heißt natürlich nicht, dass hier nichts mehr verbesserungswürdig wäre.
An was denken Sie da vor allem?
Es ist nicht alles gut. Nach wie vor ist Deutschland auch ein Land,in dem rassistisch denkende Menschen leben. Mit diesen Menschen und ihrem Gedankengut muss man sich auseinandersetzen, dem muss man entgegentreten – jeden Tag aufs Neue.
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