Wie kommen wir verfassungsrechtlich auf die sichere Seite?" Leider war kein Jurist zugegen, der die Frage von Harald Friese (SPD) bei der Sachverständigenanhörung, die Ende Mai im Bundestag zum Thema "Anonyme Geburt" stattfand, hätte beantworten können. In mehreren Urteilen hat das Bundesverfassungsgericht dem Recht des Kindes, seine Abstammung zu kennen, Verfassungsrang eingeräumt. Auch in der UN-Kinderrechtskonvention ist dieses Grundrecht garantiert. Doch das Gesetz, das Frauen erlaubt, anonym zu gebären und das Kind zurückzulassen, soll noch in diesem Jahr beschlossen werden. Dabei wollen sich die Abgeordneten am französischen Modell orientieren, das Kindern zumindest eine Chance einräumt, etwas über ihre Herkunft zu erfahren.
Die Idee s
Die Idee stammt vom Sozialdienst Katholischer Frauen: "Frauen in Not sollen ihre Kinder nicht töten, sie sollen sie lieber bei uns abgeben", fasst Maria Geiss-Wittmann das Anliegen zusammen. Das sei doch, so die CSU-Frau, eine ganz einfache Botschaft. Bereits vor zwei Jahren startete Geiss-Wittmann in Bayern das "Projekt Moses". Nach dem Vorbild jener ägyptischen Prinzessin aus dem Alten Testament, die den auf dem Nil treibenden Moses rettete, will sie "bedrohtes Leben" schützen. Furore machte der Verein Sternipark in Hamburg, der im April vergangenen Jahres die erste "Babyklappe" in Deutschland einrichtete. Seitdem können Frauen ihr Baby in einem Wärmebett aussetzen. Gut zwei Dutzend dieser Einrichtungen gibt es mittlerweile bundesweit. Acht Babys sollen bereits in Hamburg anonym übergeben worden sein, im Mai wurde in Köln ein etwa zwei Tage altes Mädchen ins "Babyfenster" gelegt. Auch in anderen Städten fanden sich schon Säuglinge. Wie viele Kinder insgesamt in den Klappen landeten, ist derzeit nicht erfasst. Ähnlich sieht es bei den anonymen Geburten aus, die - obwohl noch nicht legal - in einigen deutschen Kliniken angeboten werden: Sieben anonyme Geburten haben seit Dezember in Flensburg stattgefunden. Vier dieser Kinder, so das Standesamt, seien noch immer namenlos, das älteste davon fünf Monate alt. In drei Fällen hätten sich die Frauen nach Bedenkzeit anders entschieden. Auch in anderen Städten soll schon anonym entbunden worden sein.Accouchement sous X - Die anonyme Geburt in Frankreich1941 führte das Vichy-Regime in Frankreich die anonyme Geburt ein. Sie sollte Frauen eine Alternative zur Abtreibung bieten, auf die die Todesstrafe stand. Diese Rechtslage hat dazu geführt, dass heute rund 400.000 Franzosen nichts über ihre Herkunft wissen. Im Jahr 1999 wurden noch 560 Kinder "sous X" geboren, rund zehntausend waren es in früheren Jahren. Nach Schätzungen der Organisation Cadco, die betroffene Adoptivkinder und Mütter vertritt, sind zehntausende von Menschen vergeblich auf der Suche nach ihrer Herkunft. Cadco setzt sich seit langem für die Abschaffung der anonymen Geburt ein.Ende Mai hat die französische Nationalversammlung einstimmig eine Reform beschlossen: Danach sollen Frauen aufgefordert werden, in einem verschlossenen Umschlag ihre Identität zu bekunden. Diese Daten sollen bei einem "Rat für den Zugang zur Herkunft" gesammelt werden. Das heranwachsende Kind kann, wenn die Mutter ihr Einverständnis gibt, über seine Herkunft aufgeklärt werden. Eine Pflicht, Daten zu hinterlassen, wird es nicht geben. Das Gesetz, das das Herkunftsrecht des Kindes stärken soll, soll noch vor der Sommerpause endgültig verabschiedet werden.Dass eine rechtliche Regelung dringend benötigt wird, darüber sind sich die Familien- und Sozialpolitiker der Fraktionen einig. Entsprechend war die Sachverständigenanhörung zusammengesetzt: Mehrheitlich waren Befürworter eingeladen, sogar der Flensburger Gynäkologe Ralf-Harald Ackermann, der den ersten anonymen Kaiserschnitt vor laufenden Kameras durchgeführt hatte, durfte etwas zur ärztlichen Betreuung bei Geburten sagen. Verfassungsrechtler allerdings waren nicht unter den Sachverständigen, ebenso wenig die Selbsthilfegruppen der erwachsenen Adoptierten, auch keine Vertreterin des Netzwerk Herkunftseltern. Es fehlte sowohl der Kinderschutzbund als auch Terre des Hommes, beides Organisationen, die sich in den vergangenen Monaten kritisch zu den anonymen Hilfsangeboten geäußert hatten.Eine grundsätzliche Diskussion fand folglich kaum statt. Die Frage sei doch, so der Personenstandsrechtler Reinhard Hepting, ob Adoptierte unter ihrer Herkunftslosigkeit so sehr litten, dass es besser wäre, sie würden gar nicht leben. "Das Recht auf Leben ist höherrangig", meinten auch die übrigen Sachverständigen. Christine Swientek dagegen, Adoptionsforscherin aus Hannover und eine der schärfsten Kritikerinnen der Gesetzesänderung, stand auf verlorenem Posten. Über ihre Einwände und den wichtigsten Punkt, ob nämlich die "anonyme Geburt" Leben retten kann, wurde nicht debattiert.Bezweifelt wird das auch von der Deutschen Gesellschaft für Psychosomatische Frauenheilkunde und Geburtshilfe, die eine Stellungnahme zur Anhörung faxte: Das Problem der Kindestötung, so die Ärztinnen, käme am ehesten bei jungen, sehr unreifen Frauen vor, bei denen eine erhebliche Persönlichkeitsproblematik bestehe. Die Frauen merkten oft gar nicht, dass sie schwanger seien und würden von der Geburt überrascht. Töteten sie das Kind, geschehe das in einer Stress- und Panikreaktion unmittelbar nach der Geburt. "Dass die in einem Krankenhaus anonym zur Welt gekommenen Neugeborenen tatsächlich an Leib und Leben bedroht waren, ist mit Fug und Recht zu bezweifeln", meint auch Terre des Hommes. Frauen, die in Panik gerieten, so die Kinderrechtsorganisation, seien unfähig, bestehende Alternativen gleich welcher Art zu nutzen. Terre des Hommes fürchtet aber angesichts des Mangels an Adoptivkindern in Deutschland Missbrauch: Die rechtlich abgesicherte Namens- und Herkunftslosigkeit des Kindes, seine offizielle Nicht-Existenz, leiste dem Kinderhandel Vorschub. Auch lehre die Erfahrung, dass Frauen ihr Kind keineswegs immer freiwillig abgeben, sondern unter Druck gesetzt werden.Das sieht auch Maria B. (Name von der Redaktion geändert) von der Berliner Selbsthilfegruppe Mütter ohne Kinder so. Sie erlebt die ganze Diskussion als Missbrauch einer bereits jetzt ausgegrenzten Gruppe von Menschen: "Wie es den Frauen hinterher geht, interessiert niemanden." Zwei Jahre lang leitete sie eine Beratungsstelle für Herkunftseltern in Berlin, die einzige in Deutschland. Sie musste wegen Geldmangels geschlossen werden, doch bis heute erhält sie Anrufe von Frauen, die über Jahrzehnte mit niemandem über die Adoption gesprochen haben. "Die Trauer um das Kind macht diese Frauen krank." Sie entwickelten psychosomatische Störungen, litten unter Depressionen und würden unfruchtbar. "Wenn Mütter glauben, Schwangerschaft und Geburt verheimlichen zu müssen", ist Maria B. überzeugt, "dann würde auch eine Geburt in einem Krankenhaus und die Unterschrift unter einer normalen Adoption sie nicht entlarven." Die Frauen müssten sich vielleicht vor ihrer Umwelt verstecken, Anonymität gegenüber dem Kind aber brauchten sie gewiss nicht.Dagegen plädiert Maria B. dafür, Frauen in Notlagen zu helfen, anstatt ihre Abhängigkeit zu verlängern. Wichtig ist ihr auch, dass die Adoption enttabuisiert wird und der Druck der Gesellschaft auf die "Rabenmütter" nachlässt: "Die Entscheidung zur Adoption sollte offen und frei als eine Möglichkeit plakatiert werden, die Zugangswege sollten Menschen bewusster und leichter gemacht werden." Für viele ehemals tabuisierte Themen wie Aids oder Missbrauch gibt es zwischenzeitlich Broschüren, Plakate und Werbespots. Die Entscheidung, sich von einem Kind zu trennen und zur Adoption freizugeben, gilt dagegen noch immer als verdächtig .Mehr Offenheit im Umgang mit Adoption wünschen sich auch die Selbsthilfegruppen der erwachsenen Adoptierten. Auch sie warnen vor den Folgen der Anonymität. Denn unter der Wurzellosigkeit litten Kinder ein Leben lang. Das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit umfasse auch die Kenntnis der eigenen Abstammung, meinte das Bundesverfassungsgericht in einem Urteil. Ob das französische Vorbild also genügt, um "verfassungsrechtlich auf die sichere Seite zu kommen", wird sich erweisen.
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