„Alles ist Skulptur.“

Ausstellung Die Begegnung mit dem Werk des Künstlers Wilhelm Lehmbruck, das im Kontext seiner Zeit als progressive künstlerische Positionen gelesen werden muss, bedeutete für Beuys eine Initialzündung. Zwei Ausstellungen führen die Werke beider Künstler zusammen
Ausstellungsansicht mit Werken von Joseph Beuys und Wilhelm Lehmbruck.
Ausstellungsansicht mit Werken von Joseph Beuys und Wilhelm Lehmbruck.

Foto: Bastian Geza Aschoff, 2021 © Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland GmbH

In der Ausstellung Beuys – Lehmbruck. Denken ist Plastik werden wichtige Werke beider Künstler präsentiert. Darunter von Joseph Beuys die Honigpumpe am Arbeitsplatz (documenta 6, 1977), die Straßenbahnhaltestelle (Venedig Biennale 1976) und der Raum Voglio vedere le mie montagne aus dem Van Abbemuseum. Die Auswahl an Skulpturen von Wilhelm Lehmbruck, die den zweiten Kern der Ausstellung ausmachen werden (u. a. Die Kniende, der Kopf eines Denkers, der Gestürzte und der Emporsteigende), stammt zu einem großen Teil aus dem Lehmbruck Museum in Duisburg. Zeitgleich wird dort die Ausstellung Lehmbruck – Beuys. Alles ist Skulptur vom 26. Juni 2021 bis 1. November 2021 gezeigt.

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Es gibt nicht viele Künstler, die in der Geschichte der Kunst einen so nachhaltigen Umbruch verursacht haben wie Joseph Beuys. 1986 erhält Beuys den Wilhelm-Lehmbruck-Preis. In seiner Rede zur Preisverleihung beschreibt er, wie er über das Werk Lehmbrucks zu seinem Konzept der Sozialen Plastik gefunden hat: „Alles ist Skulptur!“, habe ihm die Abbildung eines Werkes von Wilhelm Lehmbruck zugerufen, so Beuys ins seiner Dankesrede. In der Folge erweitert er mit seiner Idee der ‚Sozialen Plastik‛ die Grenzen der Kunst, um die so gewonnene Freiheit auf die Gesellschaft als Ganzes zu übertragen. Die Ausstellungen, die in der Bundeskunsthalle in Bonn und im Lehmbruck Museum Duisburg zeitgleich stattfinden, präsentieren das Werk beider deutscher Bildhauer erstmals umfassend und stellen es in Dialog miteinander.

Die Ausstellungen werfen ein neues Licht auf das Werk beider Künstler und zeigen die Zusammenhänge, die Beuys selbst herstellt, indem er den vierzig Jahre älteren Lehmbruck am Beginn seiner heute legendären Rede zur Überraschung vieler als „meinen Lehrer“ bezeichnete. Obwohl es bekanntlich nie ein akademisches Lehrer-Schüler-Verhältnis gegeben hat (Lehmbruck starb 1919), spricht Beuys von einer tiefen Beziehung, von einem „Grunderlebnis“ bei der Begegnung mit dem Werk Lehmbrucks. Die wichtigste Gemeinsamkeit zwischen beiden Künstlern liegt wohl in ihrer Überzeugung, dass Kunst die Kraft hat, die Welt nicht nur zu erklären, sondern unser soziales Gefüge zum Besseren zu verändern. War für Lehmbruck Skulptur „das Wesen der Dinge, das Wesen der Natur, das, was ewig menschlich ist“, so folgerte Beuys daraus den neuen skulpturalen Imperativ: „Alles ist Skulptur!“ Sie sei das Mittel der Transformation, des Übergangs von einem Zustand in den anderen.

Dem Werk beider Künstler, die am Niederrhein geboren wurden und an der Kunstakademie in Düsseldorf Bildhauerei studierten, ist zudem eine tragische Komponente eigen. Die Kriegserfahrung hat deutliche Spuren im Werk beider hinterlassen. Vielleicht sind es die Spuren dieser existenziellen Erfahrung, die Joseph Beuys spürte, als er zum ersten Mal die Abbildung einer Skulptur von Lehmbruck sah: „Das außergewöhnliche Werk Wilhelm Lehmbrucks rührt eine Schwellensituation des plastischen Begriffs an.“ Und exakt diese Schwellensituation, an der Beuys seinen „Lehrer“ verortet, macht die Ausstellung erlebbar. Gemeint ist die Phase am Ende der Klassischen Moderne, in der ein Bildhauer wie Lehmbruck den Skulpturbegriff aktualisierte. Lehmbrucks Werk habe, so Beuys, einen Höhepunkt erreicht. Es sei „etwas Innerliches“, nur intuitiv zu erfassen, mit anderen Sinnen als dem Sehsinn, nämlich durch das „Hörende, das Sinnende, das Wollende“. Beuys betont Charakteristika des Werkes Lehmbrucks, die wir in Schlüsselwerken wie der Knienden (1911), dem Gestürzten (1915/16) oder dem Sitzenden Jüngling (1916/17) finden.

In den Skulpturen Lehmbrucks, meint man eine Andacht, eine innere Versunkenheit zu spüren. Dies ist ein Impuls, den auch Beuys benennt. Er ist der festen Überzeugung, dass nicht nur die Aktiven, sondern ebenso die Leidenden die Welt bereichern, und sieht einen direkten Zusammenhang zwischen Leiden und Erschaffen. Tragik und Schmerz in Lehmbrucks Leben und dessen Einfluss auf seine Kunst inspirieren Beuys. „Zeige deine Wunde“ – denn nur eine Wunde, die sichtbar ist, kann auch geheilt werden. In Beuys‘ Augen schwingt in den Werken die heilende Botschaft mit, der Appell an die Menschlichkeit, den auch Beuys sich zu eigen macht und zum Hauptziel seiner ‚Sozialen Plastik‛ erklärt.

Zur Ausstellung Beuys – Lehmbruck. Denken ist Plastik in der Bundeskunsthalle in Bonn.

Zur Ausstellung Lehmbruck – Beuys. Alles ist Skulptur in Duisburg.

10.08.2021, 18:57

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Netzschau „Es gibt viele Berührungspunkte zwischen den beiden Künstlern. Beide wurden durch ihre Kriegserfahrung tief erschüttert. Beide provozierten heftige Reaktionen im Publikum. Beide brachen mit der Tradition, gaben der Kunst eine neue Richtung.“

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