„Ich möchte meinem Lehrer Wilhelm Lehmbruck danken.“ So beginnt Joseph Beuys seine Rede, als er im Januar 1986 den Wilhelm-Lehmbruck-Preis erhält. Wenige Tage später, am 23. Januar 1986, stirbt Beuys. Er hinterlässt ein Werk, das die Kunst revolutioniert hat. Als grenzüberschreitender Denker, politischer Künstler und polarisierende Persönlichkeit hat er gleichermaßen Bewunderung wie Ablehnung heraufbeschworen.
Begegnet sind sich Wilhelm Lehmbruck (1881–1919) und Joseph Beuys (1921– 1986) nie. Allerdings hat Beuys in den Skulpturen Lehmbrucks etwas erkannt, das für ihn zum Leitmotiv seiner eigenen Kunst werden sollte: Von Kunst geht eine einzigartige Kraft aus. Eine Energie, die Beuys mittels seiner Skulpturen und Aktionen in die gesamte Gesellschaft übertragen wollte.
„Skulptur ist das Wesen der Dinge, das Wesen der Natur, das, was ewig menschlich ist.“
- Wilhelm Lehmbruck
Beuys treibt diesen Gedanken fragend weiter: Wie könnte eine wahrhaft menschliche Kunst aussehen? Der Kunstbegriff muss dafür aus seiner Sicht erweitert werden. Das freiheitliche Potenzial der Kunst soll auf alle Bereiche des Lebens wirken können. Beuys entwickelt einen neuen, den ‚Erweiterten Kunstbegriff‛, in dessen Zentrum die ‚Soziale Plastik‛ steht. Hier geht es um das kreative Potenzial, das jedem Menschen innewohnt. Jeder Mensch ist Beuys zufolge ein Künstler, der das Gesamtkunstwerk unserer Gesellschaft mit formt. Aus diesem Ansatz folgt, dass mit Kunst nicht mehr unbedingt Skulptur oder Malerei gemeint sind. Es geht stattdessen darum, sich seiner eigenen Kreativität bewusst zu werden und in Handeln umzusetzen. Da diesem Prozess das Denken vorangeht, wir unsere Gedanken also bewusst formen, gilt für Beuys: Schon Denken ist Plastik!
„Die Skulptur, wie jede Kunst, ist der höchste Ausdruck der Zeit.“
– Wilhelm Lehmbruck
Lehmbruck wie Beuys waren Künstler ihrer jeweiligen Zeit. Leben und Werk beider sind durch ihre jeweiligen zeitlichen Gegebenheiten geprägt. In Lehmbrucks wie auch in Beuys’ Lebenszeit überschnitten sich jeweils zwei Epochen. Lehmbruck erlebte den Ersten Weltkrieg, das Ende des wilhelminischen Kaiserreichs und den Beginn der Moderne in der Kunst, die er selbst mitprägte. Für Joseph Beuys wurde der Zweite Weltkrieg zu einer bestimmenden Erfahrung. Beide Künstler verarbeiten ihre Traumata auch in ihren Werken. Die Begegnung mit der Kunst Lehmbrucks bedeutete für Beuys eine Initialzündung: Mit Kunst, so spürte er, kann man etwas auslösen, etwas bewegen, Menschen berühren.
Die klassische Moderne, zu der das Werk Wilhelm Lehmbrucks zählt, war 1945 an ihr Ende gelangt. Für Beuys und viele andere Künstler*innen war klar, dass es nach der Katastrophe des Zweiten Weltkriegs und des Holocaust nicht nur anderer Kunststile bedurfte. Ein neues gesellschaftliches und politisches Bewusstsein suchte auch in der Kunst seine Entsprechung. „Die Zukunft, die wir wollen, muss erfunden werden. Sonst bekommen wir eine, die wir nicht wollen“, sagte Beuys. Für ihn bedeutete eine zeitgemäße Kunst weit mehr als das, was in Museen zu sehen war. Kunst sollte die Verwirklichung von Freiheit und Kreativität in jedem Lebensbereich ermöglichen. Eine wahrhaftige Kunst müsse jedem Menschen ermöglichen, sich zu frei und schöpferisch zu betätigen.
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Die documenta ist eine der wichtigsten internationalen Kunstausstellungen. 1955 fand sie zum ersten Mal statt – mit Lehmbrucks Kniender als einem der zentralen Werke. Platziert war die Skulptur in der Rotunde am Treppenaufgang. Genau dort installierte Joseph Beuys 22 Jahre später, 1977, seine Honigpumpe am Arbeitsplatz. 1964 begegneten sich die Werke beider Künstler auf der documenta III. Von Joseph Beuys sollten ursprünglich lediglich Handzeichnungen gezeigt werden. Eduard Trier – Mitglied im documenta-Ausschuss und Beuys’ Kollege an der Düsseldorfer Kunstakademie – setzte sich jedoch dafür ein, dass auch plastische Arbeiten von ihm ausgestellt wurden.
Für Beuys wurde die documenta zu einem Dreh- und Angelpunkt seiner Laufbahn: Zu Lebzeiten war er fünfmal – von der documenta III (1964) bis zur documenta 7 (1982) zur Teilnahme eingeladen. Er nutzte die Weltausstellung wie eine Bühne, um seinen Kunstbegriff in die Öffentlichkeit zu tragen. Eine Rückschau auf seine documenta-Beiträge erscheint heute wie die Dokumentation seiner künstlerischen Entwicklung schlechthin: Vom Bildhauer und Zeichner zum Revolutionär der Kunst.
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Der Mensch in seiner Existenz, in seiner Verwundbarkeit und Stärke steht bei Lehmbruck wie bei Beuys im Zentrum des künstlerischen Werkes. Der Kreislauf des Lebens von der Geburt bis zum Tode ist für sie ein grundlegendes Thema. Zwischenmenschliche Liebe, aber auch Leid und Schmerz als existenzielle Erfahrungen werden von beiden Künstlern immer wieder aufgegriffen und künstlerisch verarbeitet. Aus eigenen traumatischen Erlebnissen, aus persönlichem Schicksal, aber auch aus heilsamen und trostspendenden Erfahrungen speisen sich viele ihrer plastischen und zeichnerischen Werke Die Auseinandersetzung mit Leiden und Tod hat in den Werken von Wilhelm Lehmbruck und Joseph Beuys einen großen Stellenwert. Beide Künstler vereint die Kriegserfahrung, wenn auch auf unterschiedliche Weise. Lehmbruck wurde im Ersten Weltkrieg wegen seiner Schwerhörigkeit vom aktiven Dienst befreit. Dennoch litt er sehr unter der Allgegenwärtigkeit des Krieges. 1915 arbeitete er kurzzeitig als Sanitäter in einem Lazarett. Seine beiden Hauptwerke der Kriegsjahre, der Gestürzte und der Sitzende Jüngling, sind Zeichen der künstlerischen Verarbeitung des Geschehens und der persönlichen Erfahrungen. Die Skulpturen zeigen keine Helden, stattdessen finden Verzweiflung und Erschütterung ihren Ausdruck.